Lange habe ich mich etwas zickig dagegen gesperrt, dandelion eine Schublade für Persönliches zu spendieren. Doch dank gutem Zureden einer sehr geschätzten Blog-Kollegin habe ich mich nun doch zu diesem Schritt entschlossen. Es wird also, sofern irgendwelches leere Geschwätz meine Finger zur Tastatur lenkt, nun auch in dandelion allgemeine Gedanken zur Literatur geben.
Geplant habe ich weiterhin eine Schublade für Interviews. Hier plane ich per E-Mail geführte begleitende Hintergrund-Interviews zu Büchern, die ich hier bespreche – mit Übersetzern, Verlegern, Lektoren etc. Das erste Interview ist in Arbeit und wird zusammen mit meiner nächsten Buchbesprechung erscheinen.
Das heißt also, wir sehen uns in Zukunft öfter.
Archiv des Autors: Frank Duwald
Nathaniel Hawthorne | Das Haus mit den sieben Giebeln
Originalveröffentlichung:
The House of the Seven Gables (1851)

Im Gewand einer stimmungsvollen, sehr leisen Schauergeschichte umarmt Nathaniel Hawthorne voller Wärme die Ehrbaren, feiert die Liebe und verdammt mit abgründigem Abscheu die eigennützigen Blender.
Warum neigen wir eigentlich so oft dazu, das lange Vergangene als überholt und das Aktuelle als das Definitive anzusehen? Ist es die Überheblichkeit der Moderne oder schlicht eine Art multiples Vergessen?
Nathaniel Hawthornes dritten Roman The House of the Seven Gables [Das Haus mit den sieben Giebeln] aus dem Jahre 1851 zu lesen, ist ein wenig so, wie sich an etwas lange Vergessenes wieder zu erinnern. The House of the Seven Gables ist ein verblüffendes Beispiel dafür, wie ein alter Meister uns die beinahe ausgestorbene Kunst des stimmungskeimenden Erzählens vorführt. Er ist dabei aber nicht etwa einer, der ein großes Feuerwerk abbrennt, sondern eher ein empfindsamer Magier, der nahezu unsichtbar seine Zauberfunken ins Publikum versprüht.
Das Fundament, auf dem The House of the Seven Gables errichtet wurde, ist denkbar schwergewichtig, denn Hawthorne leuchtet kein geringeres Thema als die Erbsünde aus. Diese findet im historischen ersten Kapitel statt, dass uns nach Hawthornes Vorgängerroman The Scarlett Letter [Der scharlachrote Buchstabe] erneut ins 17. Jahrhundert, dem puritanischen Zeitalter der amerikanischen Hexenprozesse führt. Der angesehene Oberst Pyncheon bringt den unbedeutenden Matthew Maule wegen Hexerei an den Galgen, weil er scharf auf Maules Land ist. Mit seinem letzten Atemzug sagt Maule über Pyncheon: “Gott wird ihm Blut zu trinken geben!“ Oberst Pyncheon lässt auf dem neugewonnenen Stück Erde das Haus des Titels erbauen. Er und seine Nachkommen sollen nicht viel Freude daran haben.
Nachdem Hawthorne also sein Buch mit Hilfe dieser Legende mit Pauken und Trompeten eingeläutet hat, lässt er sich in einer Zeit nieder, die in etwa seiner eigenen Gegenwart entspricht und schrumpft den Rahmen auf ein Minimum zusammen, um mit der eigentlichen Geschichte zu beginnen, die denkbar leise daherkommt.
Zum Entstehungszeitpunkt von The House of the Seven Gables war der klassische Schauerroman schon seit Dekaden totgeritten. Trotzdem grast Hawthorne den Kramladen der gothic novel ab und nimmt alles an Topoi mit, was er gebrauchen kann: ein von Verfall gezeichnetes gotisches Haus, das von einer großen Ulme verfinstert wird; einen Familienfluch; einen geheimen Raum; ein düsteres Gemälde; die Machtausübung des Mannes über die Frau. Das kennen wir alles. Aber nicht, was Hawthorne daraus macht.
Viel von dem Glanz des einstigen Hauses mit den sieben Giebeln ist nicht mehr übrig geblieben. Im Haus ist alles von Verfall und Moder gekennzeichnet, und nur noch die alte Jungfer Hebzibah Pyncheon lebt hier, sofern man ihr Dahinvegetieren Leben nennen kann. Als Lady erzogen, kann sie längst nicht mehr aus ihrer steifen Rolle heraus. Obwohl sie nicht mehr tiefer sinken kann, hält sie sich mit imaginären Adelsparolen aufrecht. Von dem immer noch an der Wand hängenden unangenehmen Gemälde des Obersten Pnycheon lässt sie sich Tag für Tag an ihre wohlhabende Herkunft erinnern. Ihr äußeres Erscheinen wird als heruntergekommen und verbiestert beschrieben. Kontakt zur Außenwelt hat sie nur noch zu dem ihr wohlgesonnenen “Lumpenphilosophen“ Onkel Venner, der die Häuser der Stadt nach Essensresten für sein Schwein abgrast und von einem Lebensabend ohne Arbeiten träumt.
Dass Hepzibah aber noch tiefer sinken kann, stellt sie fest, als sie, um sich ernähren zu können, einen Tante-Emma-Laden eröffnet. Der Kontakt zu den wenigen Kunden ist ein Gräuel für sie, und dementsprechend schlecht läuft der Laden dann auch. Trostloser kann man ein Leben wohl nicht fristen.
Das ändert sich aber schlagartig, als eines Tages Hepzibahs junge Cousine Phoebe auftaucht und einen Schwall Sonne mit ins Haus bringt. Hawthorne liebt es, mit den Gegensätzen Licht und Dunkelheit zu spielen und setzt hier sehr bewusst auf kraftvolle Metaphern. Phoebe ist die unverdorbene Eva, die offensichtlich nicht ohne Grund in diesem heruntergekommenen Eden wie aus dem Nichts auftaucht. Ihr Erscheinen bewirkt eine erste Wende im Haus mit den sieben Giebeln. Die Misanthropin Hepzibah muss sich eingestehen, dass ihr das lebensfrohe Wesen Phoebes guttut, und das nicht nur, weil Phoebe Hepzibahs Hausladen zum Erfolg führt.
Neue Dunkelheit kehrt jedoch mit dem Erscheinen von Hepzibahs Bruder Clifford ein, den ein jahrzehntelanges Trauma heimsucht, das ihn zu einem gebrochenen alten Mann mit dem zeitweiligen Verstand eines Kindes gemacht hat. Auch ihn verzaubert Phoebe mit ihrer lebensbejahenden Art. Zusammen mit einem Untermieter, dem Protestkünstler Holgrave, bildet der bunte Haufen eine Kommune der Verlierer, dessen zaghaftes Zusammenwachsen in der Not Hawthorne mit unglaublicher Intensität zeichnet. Obwohl diese Menschen, mit Ausnahme Phoebes, derart tiefe Wunden davongetragen haben, dass sie eigentlich nie mehr menschlicher Nähe trauen dürften, führt Phoebe unbewusst alles zusammen. So sagt Onkel Venner nicht grundlos: “Es ist unbegreiflich, wie manche Leute einem so selbstverständlich werden können wie der eigene Atem […]“.
In einer Schlüsselszene zwischen Phoebe und Holgrave wirft Hawthorne alles in die allegorische Waagschale und lässt stark romantisierende Bilder deutlicher sprechen als es die beiden tun. Die Zeit scheint angehalten, und in einem stillen Mikroversum treffen Adam und Eva aufeinander. In diesem spirituellen Szenario gewinnt Holgrave die absolute Kontrolle über die Frau, die er liebt – und widersteht im zerbrechlichsten Augenblick des Buches zugunsten dieser Liebe der Verführung, Phoebe für immer zu unterjochen.
Diese Momente voller Harmonie gehören in all dem Odem der sündenverseuchten Vergangenheit zu den bewegendsten Szenen des Buches, die zudem sehr deutlich zeigen, dass Hawthornes Herz für die Gestrauchelten schlägt. Hawthorne hält zu den kleinen Leuten und hat nur Abscheu übrig für eine “erbärmliche Seele“ wie dem Richter Pyncheon.
Denn dieser Verwandte Hepzibahs, Cliffords und Phoebes, dieses Prachtexemplar von einem Manipulator, stolziert jetzt ins Haus der sieben Giebel, um den dunklen Schlund der Vergangenheit erneut aufzureißen und Clifford und Hepzibah endgültig zu vernichten.
Nathaniel Hawthorne prangt wie ein Steinriese über seinem schwierigen Stoff, den er jedoch zu jeder Zeit fest im Griff hat. Virtuos lenkt er seine in einer wunderschönen Sprache erzählte Geschichte sowohl durch die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele als auch die paradiesischen Momente, die Menschen durchaus zu erschaffen in der Lage sind. Man kann die subtile, eher angedeutete Art und Weise, wie er die Geheimnisse des Romans lüftet, nur vorbildlich und The House of the Seven Gables ohne Zweifel ein Meisterwerk nennen.
Und hoch darüber breitet Hawthorne seine tröstenden Arme aus und outet sich als großer Humanist, der den Ehrlichen ihre Menschenwürde zurück gibt.
Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Das Haus mit den sieben Giebeln, übersetzt von Irma Wehrli (Zürich: Manesse, 2014)
Bram Stoker | Dracula
Originalveröffentlichung:
Dracula (1897)

Dieser berühmteste aller Horror-Romane ist ein Dokument der sexuellen Verklemmtheit der Menschen des viktorianischen Zeitalters. Das übernatürliche Grauen, obgleich zuweilen ausgesprochen überzeugend dargestellt, ist nichts weiter als eine Schutzschicht, die den Blick auf die wahren sexuellen Gelüste und Traumata der gehemmten Viktorianer verschleiert.
Ich behaupte einmal, dass es für den modernen Leser unmöglich ist, Dracula von Bram Stoker zu begegnen, ohne ein Grundwissen dessen mitzubringen, worum es in dem Roman geht. Die Figur des Grafen Dracula gehört zur Weltkultur, und sie ist nicht nur ein literarischer Charakter, sondern ein Archetyp. Man beginnt hier also ein Buch zu lesen, über das man wohl oder übel mehr weiß, als einem lieb sein kann.
Doch dafür kann das Buch nichts!
Als es 1897 erstmals erschien, war es etwas Neues. Ein gewaltiges Update von J. Sheridan Le Fanus großartiger Vampir-Novelle „Carmilla“ [“Carmilla“] zwar, aber nichtsdestotrotz für den Großteil der damaligen Leserschaft etwas, das bis dahin in dieser Form niemand zuvor gelesen hatte.
Pirscht man sich als moderner Leser aus dieser Warte an das Buch heran, zieht man den größten Gewinn daraus – und erkennt, dass das verstreute Wissen über Dracula, dass man leider unweigerlich mit sich herum schleppt, einschließlich des Aussehens von Christopher Lee, lediglich Second-Hand-Wissen ist. Daher empfiehlt es sich, sich vor Lektüre des gedruckten originalen Dracula erst einmal dahingehend einzutackten. Dann ist man bereit für Dracula.
Als erzählerisches Mittel von Dracula wählte Bram Stoker eine bunte Ansammlung von Tagebucheinträgen, Briefen, Zeitungsartikeln und Dokumenten. Den Anfang macht das Reisetagebuch des Engländers Jonathan Harker, der als frisch gebackener Rechtsanwalt von seiner Kanzlei nach Transsilvanien geschickt wird, um für den Grafen Dracula den Kauf eines Hauses in London abzuwickeln.
Dieser Auftakt ist spektakulär. Die Reise Harkers, die ihn über Wien und Budapest bis tief in die Karpaten führt, ist grandios beschrieben. Der Wandel der Landschaften und der Menschen, die mit zunehmend östlicher Richtung fremdartiger und unheimlicher werden, setzt einen virtuosen Stimmungsrahmen für das, was folgen wird. In bester Schauergeschichten-Manier erreicht Harker – natürlich nachts und unter Wolfsgeheul – die düstere Burg des Grafen. Der stellt sich von Anfang an als geistreich, gebildet und zuvorkommend dar, kann aber auch etwas Zwielichtiges nicht verbergen. Die Merkwürdigkeiten mehren sich. Dracula ist nur nachts anzutreffen, isst niemals etwas und hat kein Spiegelbild. Schon bald wird Harker klar: er ist Gefangener in der Burg des Grafen.
Als Harker eines Nachts Draculas Warnung missachtet und sein Zimmer verlässt, wird er von drei jungen Damen überrascht, die nicht lange fackeln und mit “unverhohlener Wollust“ über ihn herfallen.
Die Szene öffnet eine Tür in die tieferen Gewölbe des Romans. Beschreitet man als Leser den Weg durch diese Tür, verlässt man den handlungsreichen Unterhaltungsroman, den Dracula zu sein vorgibt und gelangt in die Untiefen sexueller Phantasien, die im viktorianischen England freilich moralisches Sperrgebiet waren, denn eine autarke weibliche Sexualität war unerwünscht, und Frauen hatten bis zur Hochzeit Jungfrau und danach möglichst asexuell zu sein. Das Gebären von Kindern galt als einziger sinnvoller Zweck des Geschlechtsverkehrs.
Ausgerechnet der Roman, der ein ganzes Unterhaltungsgenre begründete, reißt die viktorianischen Wunden an jeder nur möglichen Stelle auf. Von männlichen und weiblichen Sexphantasien über sexuelle Dominanz, Homosexualität und Sex mit mehreren Partnern, bis hin zu Vergewaltigung ist alles da, über das Viktorianer beileibe nicht reden wollte.
Die Lust der drei Damen nach Blut ist der Lust nach Sex gleichzusetzen. Harker, den zu Hause die liebliche Vorzeigefrau Mina erwartet, setzt der aggressiven Sexualität der drei Schwestern nicht das Geringste entgegen. Wenn er in sein Tagebuch schreibt: “Irgendetwas an ihnen erregte mein Unbehagen, es war einerseits Verlangen, andererseits Todesangst“, dann scheint er in dem Moment lieber mit dem Tod für den orgiastischen Sex, der ihm bevorsteht, bezahlen zu wollen, als zurück in sein unaufgeregtes viktorianisches Leben zurückzukehren. Dass er später, jetzt wieder bei klarem Verstand, immer noch so zu denken scheint, belegt die Tatsache, dass er den Vorfall in sein Tagebuch niederschreibt, wohl wissend, dass Mina es irgendwann lesen könnte (was auch tatsächlich geschieht). Es ist ihm bewusst, dass dies Mina “Schmerz bereiten“ wird, aber das ist ihm in dem Moment völlig egal, denn “es ist die Wahrheit“. Harkers sexuelle Erregung wischt jegliche Vernunft derart heftig beiseite, dass er den Moment unbedingt für immer in seinem Tagebuch festhalten möchte. Das zeigt, wie sehr Harker die anerzogene viktorianische Steifheit abwerfen und die Verklemmtheit seiner Verlobten gegen die nymphomanische Aggression der drei Damen austauschen würde. Wie weit die viktorianische Unterdrückung sexueller Lust geht, wird deutlich, wenn man als Leserin und Leser in dieser Schlüsselszene gedanklich die Lust nach Blut gegen die Lust nach Sex austauscht.
Die Handlung verlagert sich anschließend nach England und führt uns direkt zu Minas Freundin Lucy Westenra, dem für mich interessantesten Charakter in Dracula. Die Briefe, die sie sich mit Mina schreibt, wirken wie ein geschwätziger mädchenhafter Gedankenaustausch, aber bei näherem Hinsehen sind sie alles andere als unschuldig. Lucy, die sehnsüchtig auf einen Heiratsantrag wartet, erhält plötzlich gleich drei Anträge an einem Tag. Da sie offenbar in keinen der drei Männer wirklich verliebt ist, kann sie sich nicht sofort entscheiden. An Mina schreibt sie: “Warum darf ein Mädchen nicht drei Männer heiraten […?]“, was dem Wunsch entspricht, mit drei verschiedenen Männern Sex zu haben. Ironischerweise wird ihr der Wunsch im übertragenen Sinne erfüllt, als sie ein Opfer des Grafen Dracula wird. Nachdem er ihr Nacht für Nacht das Blut aussaugt, bleibt sie nur durch die Bluttransfusionen eben der drei Männer (plus Van Helsing) am Leben, die um ihre Hand angehalten haben. Obwohl das Übertragen von Blut ein rein medizinischer Vorgang sein sollte, ist er in Dracula ein Akt der Intimität, der den Spendenden eine Nähe zu Lucy gibt, die exakt der des Geschlechtsakts entspricht. Über Arthur, dem Mann, den Lucy inzwischen geheiratet hat, wird später zum Besten gegeben, dass er seit der Bluttransfusion das Gefühl habe, “Lucy und er seien wirklich verheiratet und damit vor Gott Mann und Frau.“ Aus Angst vor der Eifersucht Arthurs beschließen die drei anderen Männer, ihre Blutspenden geheim zu halten, was ebenfalls auf eine starke sexuelle Kodierung hindeutet, denn warum sonst würde bei einer lebensrettenden Bluttransfusion eine Veranlassung zur Geheimhaltung bestehen?
Dies sind aber alles Dinge, die sich unter der trügerischen Oberfläche des Buches ereignen. Die eigentliche Handlung geht unterdessen zielstrebig weiter, denn Dracula nutzt die Vorbereitungen, die Harker für ihn getroffen hat, dazu, in England eine neue Basis zu errichten, die einer möglichen Invasion dienen könnte.
Wirklich furchteinflößend ist das Logbuch des Schiffes, das Dracula unerkannt nach England transportiert. Das Einlaufen des Schiffes in den britischen Hafen ringt Bram Stoker die stimmungsvollsten und düstersten Momente ab, die das Buch zu bieten hat. Die spürbare Beunruhigung der Menschen und die einhergehende atmosphärische Verfinsterung, die die Landung dieses Totenschiffes begleiten, erschaffen eine Vision der Apokalypse. Großes Unbehagen macht sich breit.
Um die Heimsuchung Lucys herum baut sich die Opposition zu Dracula auf, eine tapfere Männergruppe unter der fachlichen Leitung des holländischen Professors Van Helsing. Neben ihm besteht die Gruppe noch aus Lucys frischem Ehemann Arthur und den beiden anderen Verehrern Lucys sowie Jonathan Harker. Die Charakterisierungen der Männer sind dabei so oberflächlich und klischeehaft, dass man sie teilweise ohne Namensnennung nicht auseinanderhalten könnte. Alles Weitere an der Oberfläche ist lediglich purer Plot über den Kampf zwischen Mensch und Vampir.
Aber darunter …
Dracula kann in viele Richtungen interpretiert werden: Fremdenhass, Angst vor einer ausländischen Invasion, technischer Fortschritt gegen das Archaische etc. Aber mehr noch als all diese Deutungsvariationen scheint mir allein der Blick auf die Sexualität zum Fundament des Romans zu führen.
Etwas, worüber man in der Entstehungszeit von Dracula besser nicht redete, war Homosexualität. Dracula bietet viele Hinweise auf eine vorherrschende männliche Homosexualität. Beispiele dafür sind die Rasierszene zwischen dem Grafen und Harker sowie auch der Überfall der drei Vampirdamen auf Harker, den Dracula mit den Worten beendet: “Dieser Mann gehört mir!“ Aber nicht nur Dracula, auch die anderen männlichen Charaktere wirken eher schwul als heterosexuell. Je näher sie sich im Laufe der Handlung zu einer Art schwuler Bruderschaft zusammenschließen, umso salbungsvoller und leidenschaftlicher werden die gegenseitigen Bewunderungen geäußert. Die Biographen sind sich darüber hinaus ziemlich einig, dass Bram Stoker wahrscheinlich selbst schwul war.
Stoker gibt sich aber nicht nur mit einem Tabubruch zufrieden, der offen geschildert bereits bei Erscheinen für einen Skandal gesorgt hätte. Er lotet daneben sehr deutlich auch die Macht des Mannes über die weibliche Sexualität aus und zeigt die Hysterie der Männer, sobald sie feststellen, dass sie nicht mehr im Besitz dieser Macht sind. Die sexuelle Machtausübung gegenüber Frauen ist in Dracula sehr ausgeprägt. Wirklich abscheulich wird diese zentriert in Draculas Erniedrigung Minas, indem er sie zwingt, sein Blut zu trinken. In Wirklichkeit ist das eine Vergewaltigung, in der Dracula Mina zum Oralverkehr zwingt. In ihrer Qual sagt sie: “[Dracula] presste meinen Mund auf die Wunde, sodass ich entweder ersticken oder etwas davon schlucken musste […].“
Eine ebenso denkwürdige Szene ist die Pfählung Lucys durch ihren Ehemann Arthur. Dieser ist von Lucys plötzlichem aggressiven Sextrieb völlig eingeschüchtert und verängstigt: “Ihr Blick funkelte ruchlos, und über ihre Gesichtszüge glitt ein wollüstiges Lächeln.“ Angst jagt ihm insbesondere die drastische Veränderung von Lucys Libido ein, denn “[…] die ganze fleischeslüsterne und seelenlose Erscheinung wirkte wie eine teuflische Verhöhnung von Lucys lieblicher Reinheit.“ Wieder die Kontrolle über Lucy gewinnt Arthur, als er ihr den Holzpflock, das Phallussymbol schlechthin, “immer tiefer“ ins Herz rammt: “Der Körper zitterte und schüttelte und wand sich in wilden Verrenkungen.“ Als er sein Werk vollendet hat, kommt Arthurs Atem “in keuchenden Stößen“.
Mina ist letztlich der stille Kristallisationspunkt für jegliche Diskussionen über die Rolle der Frau im viktorianischen England. Sie wirkt asexuell, ganz so wie die Männer die Frauen gern haben wollten. Mina ist auch diejenige, an der sich die zu dieser Zeit alltäglichen patriarchalischen Repressalien am deutlichsten messen lassen, denn sie selbst erkennt schon früh im Buch ihre Rolle in der männlich dominierten Gesellschaft: “[…] und wenn mir nach Weinen zumute ist, so soll er es nicht sehen. Das ist wohl eine der Lektionen, die wir armen Frauen lernen müssen…“
Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Dracula, übersetzt von Andreas Nohl (Göttingen: Steidl, 2012)
Anmerkung: Es existieren alte Übersetzungen von Dracula, die man lieber meiden sollte, will man nicht auf all die zum Teil subtil verborgenen sexuellen Anspielungen verzichten. Die hier gewählte moderne Neuübersetzung von Andreas Nohl ist nicht unproblematisch, da Nohl (und dafür ist er inzwischen in der Branche bekannt) dazu neigt, den Originaltext zu glätten, sperrige Sätze zu begradigen und damit die Leseerfahrung zu vereinfachen.
Beinahe zeitgleich mit der Nohl-Übersetzung erschien die Neuübersetzung von Ulrich Bossier (Stuttgart: Reclam, 2012), von der ich dringend abraten möchte. Bossier erlaubt sich darin schlichtweg inakzeptable, das Original völlig verfälschende Freiheiten. So ist beispielsweise das letzte – sehr wichtige – Zitat meiner Besprechung in der Bossier-Übersetzung deratig schlampig und falsch übersetzt, dass es in dieser Version restlos unbrauchbar ist und von mir überhaupt nicht als bedeutsam erkannt worden wäre.
So hat man als Leser leider lediglich die Wahl, aus zwei Übeln das Geringere zu wählen.
[Rezension] Peter S. Beagle – Komm, Lady Tod (1963)
Originalveröffentlichung:
Come Lady Death (1963)
Irgendwann im London des Georgianischen Zeitalters vertreibt sich das weibliche Pendant zum Großen Gatsby, die alte Witwe Lady Neville, ihre Zeit damit, Ballnächte von solchem Prunk zu veranstalten, dass sie schon zu Lebzeiten Legende ist. Zu ihrem Bekanntenkreis gehören die Prominentesten Englands, darunter sogar der englische König. Doch dann kommt der unweigerliche Zeitpunkt, da Lady Neville dem Ganzen nichts mehr abgewinnen kann und von ihren eigenen Bällen gelangweilt ist. Im Kreise ihrer engsten Vertrauten entwickelt sie die ultimative Ballnacht, deren Ehrengast der Tod selbst sein soll.
Und so findet der wohl denkwürdigste Ball statt, den Lady Neville je ausgerichtet hat. Mit wohligen Gänsehautgefühlen will ihre prominente Gemeinde den schaurigen Gast begrüßen, ganz in Erwartung seiner äußeren Erscheinung. Standesgemäß hat es Mitternacht geschlagen, als der Tod den Ballsaal betritt – in Gestalt eines wunderschönen Mädchens, das alle Gäste mit ihrer Schönheit verzaubert, aber auch zutiefst ängstigt.
Gedanken über den Tod, wie Peter S. Beagle sie hier in persona materialisieren lässt, können in einer Kurzgeschichte wie „Come Lady Death“ natürlich das Thema nur ankratzen. Nichtsdestotrotz gelingt es Beagle, auch dank seiner wunderschönen Sprache, die in wenigen Sätzen die lange vergangene Dekadenz solcher Ballnächte in unserer Phantasie auferstehen lässt, viel mehr zu erschaffen als nur einen rhetorischen Gedankenaustausch über das Thema Tod. Beagle schafft es, auf engstem Raum eine Atmosphäre entstehen zu lassen, die ambivalent sowohl zwischen Pracht und Schönheit als auch eisigster Urangst pendelt. Wenn Rittmeister Compson, der auf den Schlachtfeldern dem Tod mehr als einmal begegnet ist, als Erster den Mut findet, Lady Tod zum Tanz aufzufordern, und Lady Neville beobachtet, mit welcher abgrundtiefen Furcht der vom Leben abgeklärte Compson dem wunderschönen Mädchen seine Hand anbietet, dann gibt uns Peter S. Beagle subtile Schauermomente höchster Güte.
Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: „Komm, Lady Tod“, übersetzt von Hans J. Schütz, in: Peter S. Beagle, Das Indische Nashorn (Stuttgart: Klett-Cotta, 1997)
Lektorat: Uwe Voehl
J. Sheridan Le Fanu | Carmilla
Originalveröffentlichung:
Carmilla (1872)

In einem alten Schloss in der Steiermark freundet sich die einsame Ich-Erzählerin mit einer lesbischen, sexuell ausgesprochen aggressiven Besucherin voller Geheimnisse an. Eine der einfluss- und interpretationsreichsten Vampir-Geschichten, die – obwohl von einem Mann verfasst – dem viktorianischen Patriarchat feministische Leitgedanken vor die Füße wirft.
Eine der ältesten, einflussreichsten, aber auch heute noch bewegendsten Vampir-Geschichten und gleichzeitig eine frühe Bestandsaufnahme der viktorianischen gesellschaftlichen Geschlechterrollen ist die Novelle “Carmilla“ von J. Sheridan Le Fanu.
Zunächst 1871/72 in vier Teilen als eigenständige Geschichte in einem Magazin erschienen, bettete Le Fanu “Carmilla“ 1872 in seinen Geschichtenband In a Glass Darkly ein. Dabei werden die fünf Einzelgeschichten, einschließlich “Carmilla“, in eine Rahmenhandlung um den okkulten Detektiv Dr. Martin Hesselius eingefasst. Ich bevorzuge aber ohne Zögern den privateren und intimeren Ausschnitt der eigenständigen Veröffentlichung, da sich der nachträglich aufgesetzte pseudowissenschaftliche Rahmen aus In a Glass Darkly auf die Novelle eher schädigend auswirkt.
“Carmilla“ schildert die schaurigen Erlebnisse der neunzehnjährigen Laura, die nach einem Abstand von acht bis zehn Jahren (die Angaben im Text sind widersprüchlich; möglicherweise hat Laura mehrmals angesetzt, die Geschichte zu erzählen) darüber schreibt. Angesiedelt ist die Geschichte nach den groben Angaben im Text etwa Mitte des 19. Jahrhunderts.
Laura lebt mit ihrem Vater, einem Engländer, und ihrer warmherzigen Gouvernante und Ersatzmutter in einem Schloss (Le Fanu verwendet im Original das deutsche Wort) in der Steiermark. Ihre Mutter, “eine Dame aus der Steiermark“ starb so früh, dass Laura sie nicht mehr kennengelernt hat. Die Kulisse ist herrlich stimmungsvoll. Das Schloss ist weiträumig umgeben von nahezu unberührtem Wald, und das nächste Dorf ist relativ weit entfernt. Das Schloss hat alles, was eine derartig romantische Behausung braucht: einen Burggraben samt Zugbrücke, zahlreiche unbewohnte Räume und einen schmalen Weg, der in den Wald hinausführt.
Obwohl Laura sehr behütet aufwächst und ihr Vater außerordentlich gutmütig und liebevoll charakterisiert wird, ist ihr durchaus bewusst, dass sie ein ziemlich einsames Leben führt.
Eines Abends verunglückt eine mit überhöhter Geschwindigkeit fahrende Kutsche vor ihrem Schloss. Eine adelig scheinende Dame gibt vor, unbedingt in geheimer und lebenswichtiger Mission sofort weiterfahren zu müssen. Nur deswegen nimmt sie das Angebot an, ihre gesundheitlich angeschlagene und unter Schock stehende Tochter Carmilla spontan für mindestens drei Monate bis zu ihrer Rückkehr der Obhut des Schlossherrn zu überlassen.
Lauras Freude ist außerordentlich, endlich etwa gleichaltrige Gesellschaft zu haben. Die beiden verstehen sich auf Anhieb. Voller Zuneigung bewundert Laura die Schönheit Carmillas: “Sie war größer als die meisten Frauen“ und “[…] schlank und von wundervoller Anmut.“ Carmilla hingegen sieht Laura als “eine schöne junge Dame mit goldenem Haar und großen blauen Augen und vollen Lippen […].“ Das Paar strahlt eine für alle Leute verführerische Anmut und Unschuld aus, was später im Text gewissenhaft vom männlichen Handlungspersonal demontiert werden wird.
Schon bald geht Carmilla Laura sexuell sehr offensiv an, nutzt jede Gelegenheit zu Berührungen und Küssen. Zwischen den Zeilen ist Carmillas sexuelle Erregung praktisch greifbar: “Bisweilen fasste meine seltsame schöne Gefährtin […] meine Hand und drückte sie liebevoll, wieder und wieder; dabei schaute sie mich sanft errötend mit gesenkten Lidern glühend an und atmete so heftig, dass ihr Kleid sich im gleichen Rhythmus hob und senkte.“
Laura hingegen entwickelt zunehmend ambivalente Gefühle für Carmilla, die zwischen Anbetung und Abscheu pendeln. Laura, die den Beginn ihrer sexuellen Initiation aufgrund ihrer Abgeschiedenheit erst durch Carmilla erfährt, kann offensichtlich das, was sie denkt und das, was sie empfindet, noch nicht miteinander verknüpfen, was angesichts dessen, dass sie als Neunzehnjährige dank der Behütung ihres Vaters niemals auch nur annähernd mit Liebe und Sexualität konfrontiert worden ist, nicht verwunderlich ist.
J. Sheridan Le Fanu verbirgt das Erwachen von Lauras Sexualität hinter der Vampir-Thematik. Er gibt der Leserschaft schon recht früh genügend Hinweise an die Hand, dass es in diese Richtung geht, was für heutige Leser natürlich leichter zu durchschauen ist als für Leser des 19. Jahrhunderts, für die die künstlerische Darstellung des Vampirismus noch kein Allgemeingut war.
Unterdessen mehren sich die Zweifel an Carmilla. Sie bewegt sich auffallend träge, schläft bis mittags und besteht darauf, sich nachts in ihrem Zimmer einzuschließen. Auch erkennt Laura in Carmilla genau die Frau wieder, die sie als Sechsjährige im Traum aufgesucht und verängstigt hat. Daran, dass Carmilla Laura bereits zwölf Jahre vor ihrem Zusammentreffen real heimgesucht hat, besteht kein Zweifel.
In der Zwischenzeit häufen sich in der Umgebung die Fälle, in denen junge Mädchen plötzlich einer seltsamen Krankheit anheimfallen und nach kurzer Zeit sterben. Und dann wird auch Laura krank.
Am Ende stellt sich natürlich die Frage, ob eine Lebensform wie Carmilla wirklich etwas für Laura empfinden kann oder ob es nur ihre Gier nach Blut ist, die sie lenkt. Fest steht, etwas an Laura ist für Carmilla anders als an den anderen Mädchen, die ihre Opfer wurden. Einmal sagt Carmilla zu Laura: “Ich bin nicht verliebt und werde auch niemals lieben, […] es sei denn, dich.“ Obwohl Carmilla, Millarca, Mircalla, oder wie auch immer sie sich gerade nennt, die Jahrhunderte nach ihren Opfern durchstreift, verschont sie Laura bereits als kleines Kind. Und auch, wenn Laura feststellt, dass sie schon drei Wochen die Krankheit überlebt hat, während die anderen Mädchen schon nach drei Tagen sterben mussten, setzt sie das von den anderen Opfern auffallend ab.
Wie schon angesprochen, spielt sich hinter der Metapher des Vampirismus in “Carmilla“ einiges ab. So ist die Novelle im Subtext auch ein deutliches Statement zu den repressiven Lebensumständen der Frauen in einer von Männern dominierten Epoche. Die erotische Anziehung zwischen Carmilla und Laura reflektiert die Furcht der Männer vor den weitgehend im Geheimen liegenden Untiefen der weiblichen Sexualität. So sind es am Ende auch ausschließlich die männlichen Protagonisten, die wieder für ein überschaubares Terrain sorgen und Laura von ihrer irregeleiteten Sexualität “befreien“. Dass die Erlösung insbesondere für Laura möglicherweise unwillkommen ist, zeigt ihre anschließende Verlorenheit. Sie ist traumatisiert, verwindet den Verlust von Carmilla offenbar nie und empfindet das anschließende Alleinsein als unerträglich.
Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Carmilla“, übersetzt von Bettina Thienhaus, in: Pam Keesey (Hrsg.), Draculas Töchter (Frankfurt am Main: Fischer, 1997)
Anmerkung: Mir sind vier deutsche Übersetzungen von “Carmilla“ bekannt. Die älteste davon, von Helmut Degner, in: Vampire (München: Heyne, 1967 plus zahlreicher Nachdrucke bei Diogenes), ist sprachlich sehr schön, hat gleichzeitig aber leider einen Hang zur Ungenauigkeit, Verallgemeinerung und Verkürzung. Die neueste Übersetzung von Katja Langmaier (Wien: Zaglossus, 2011) legt zwar Wert auf Werktreue, ist aber dem Original nicht gewachsen und stilistisch teilweise von geradezu ärgerlicher Qualität. Ein guter Kompromiss aus Werktreue und stilistischer Qualität findet sich in der Übersetzung von Anne Gebhardt, in: Martin Greenberg & Charles G. Waugh (Hrsg.), Vampire (Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1987), obwohl auch sie nicht fehlerfrei ist. Den Hinweis zur o.g. empfehlenswerten Übersetzung von Bettina Thienhaus verdanke ich Malte S. Sembten (†), der mich auch noch auf folgende (mir nicht bekannte) Übersetzungen hingewiesen hat:
— “Carmilla“, übersetzt von Gertrud Baruch, in: Dieter Sturm & Klaus Völker (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern (München: Hanser, 1968 plus zahlreiche Nachdrucke).
— “Carmilla”, übersetzt von K. Bruno Leder & G. Leetz, in: Karl Bruno Leder (Hrsg.): Vampire und Untote Genf und Hamburg: Kossodo, 1968). Vielen Dank an Malte S. Sembten für die wertvollen Informationen.
[Rezension] Fritz Leiber – Das Schiff startet um Mitternacht
Originalveröffentlichung:
The Ship Sails at Midnight (1950)
Fritz Leibers beste Werke zeichnen sich durch eine tiefe Menschlichkeit aus. Auch die Kurzgeschichte „The Ship Sails at Midnight“ folgt dieser Einstellung, kehrt aber die Bedeutung des Wortes auf verblüffende Weise um und stellt letztendlich die Frage: Sind es immer die Menschen, die sich durch Menschlichkeit auszeichnen?
Die Gewichtigkeit der Frage mildert Fritz Leiber glücklicherweise ab, indem er seine Geschichte im Mikrokosmos des Privaten ansiedelt.
„Das ist die Geschichte von einer schönen Frau.“ So beginnt „The Ship Sails at Midnight“. Larry, der Ich-Erzähler berichtet uns von „vier dummen, egoistischen, kulturbeflissenenen Erdenbewohnern“. Dabei handelt es sich um eine Clique aus vier „lokale[n] Bohemiens“: Gene, dem Atomwissenschaftsstudenten; Es, der Bildhauerin; Louis, dem Philosophen und Fritz Leibers Alter ego Larry, dem Schriftsteller.
In einer Kleinstadt im amerikanischen Mittelwesten treffen sich die vier, um mit ihren intellektuellen Höhenflügen die Welt zu erobern. Dabei wissen sie selbst, dass ihr eitles und anmaßendes Getue nur ein Deckmantel für ihre eigentliche Schüchternheit und Kontaktscheu ist. So wohnen die vier Möchtegern-Größen in ihrer Heimatstadt noch bei ihren Eltern.
Alles ändert sich, als von einem Tag auf den anderen plötzlich in ihrem Stammlokal die neue Kellnerin Helen bedient. Alle vier sind verzaubert von der schönen Frau. Larry feiert ihre Schönheit; sie hat „goldene Ringellocken“, „aristokratische Gesichtszüge“ und „sanfte, verträumte Augen“.
Rasch freunden sich die vier mit Helen an und spüren zunehmend ihren positiven Einfluss. Waren sie bis dahin auf ihrem jeweiligen Fachgebiet nur Durchschnitt, weckt Helen, die „intellektuelle Hebamme“, nur durch ihre neutrale Anwesenheit das Allerbeste in ihnen und stachelt sie zu persönlichen Höchstleistungen an. Noch mehr als die drei Männer scheint Es in Helen zu erkennen. Larry schildert ihr erstes Treffen mit Helen so: „[…] ich entnahm Es‘ gierigen Blicken, dass sie das Mädchen am liebsten auf der Stelle modelliert hätte.“
Helen bleibt der Clique über Monate verbunden, währenddessen Larry Helens Geliebter wird. Die Liebesbeziehung ist aber befüllt mit unbeantworteten Fragen (z.B.: Woher kommt Helen, die Frau ohne Vergangenheit?) und Heimlichtuerei den anderen der Clique gegenüber. Trotzdem wird es Larrys schönste Zeit werden: „Ich könnte ertrinken im Meer bittersüßer Gefühle“, reflektiert Larry in Rückschau.
Irgendwann häufen sich die Signale, dass es nicht für immer so weitergehen wird. In einem bestürzenden Finale stellt sich heraus, dass Helen nicht nur mit Larry ein Verhältnis hatte, sondern mit allen der Clique, auch mit Es.
Aber ist so etwas amoralisch, wenn man ehrhaft den Glauben hat, dass man damit alle Menschen, die man liebt, glücklich macht?
Fritz Leiber, lässt aber auch keinen Zweifel daran offen, dass Helen kein Mensch ist, was die Frage nach der Wahrheit über die Menschlichkeit in ungewohnte Bahnen lenkt. Leiber hat mit „The Ship Sails at Midnight“ das Genre der Erstkontakt-Geschichten mit seinem Humanismus galvanisiert und damit ein kleines Meisterwerk geschaffen. Seine Leser lässt er in einem Meer aus Trauer zurück.
Deutsche Übersetzung: „Das Schiff startet um Mitternacht“, übersetzt von Eva Malsch, in: Fritz Leiber, Die besten Stories von Fritz Leiber (München: Moewig, 1980)
Lektorat: Uwe Voehl
[Rezension] Elizabeth A. Lynn – Die Frau, die den Mond liebte
Originalveröffentlichung:
The Woman Who Loved the Moon (1979)
Das Größte, was Literatur meiner Meinung nach erreichen kann, ist die Transformation des Alltäglichen in etwas Besonderes. Wenn man durch die Lektüre einer fiktiven Geschichte etwas Gewöhnliches plötzlich durch die Augen des Staunens sieht, scheint mir die Königsklasse der Literatur erreicht zu sein.
Die Erzählung „The Woman Who Loved the Moon“ von Elizabeth A. Lynn beschwört genau solch einen kostbaren Moment herauf. Hat man sie gelesen, scheint es unmöglich, den Vollmond noch wahrzunehmen, ohne in Gedanken seine Verwandlung in die Personifizierung der schönen Sedi vor Augen zu haben.
Die Idee, dass sich das fahle Licht des Mondes in dem menschlich scheinenden Antlitz einer launischen Mondgöttin wiederfindet, benötigt einen eigenen Rahmen, um als Literatur zu funktionieren. Der Rahmen, den Elizabeth A. Lynn gewählt hat, ist der des allegorischen Märchens, aufgesetzt auf einem Fundament aus zunächst klassisch anmutender Helden-Fantasy.
Die drei schönen, rabenschwarzhaarigen Talvela-Schwestern sind auf Grund ihrer Unbesiegbarkeit bekannt als die „drei kriegerischen Jungfrauen.“ Sie stehen sich sehr nahe, und während ihr Vater sich bemüht, in diversen Scharmützeln die Grenzen seiner Grafschaft auszudehnen, reiten sie jeden Tag ihren Grundbesitz ab, um nach dem Rechten zu sehen. So auch an dem schicksalhaften Vollmondabend, als ihnen die geheimnisvolle Kriegerin Sedi begegnet: „Ihr Haar war weiß wie der Schnee und ihre Augen grau wie Asche.“ In dieser und der folgenden Begegnung fordern die hitzigen jüngeren Schwestern nacheinander Sedi zum Kampf heraus; beide Male mit verheerenden Folgen.
Die älteste Schwester Kai, nun allein und einsam, zieht aus, um Sedi zu suchen und im Kampf mit ihr zu sterben.
Es dauert lang, bis sie Sedi erreicht, und der anschließende Kampf endet nicht so wie erwartet, denn Kai und Sedi haben sich längst ineinander verliebt. Sedi, die Personifizierung des Mondes, nimmt Kai mit auf eine magische Reise unter den Hügel, wo die Zeit wesentlich langsamer vergeht als in der Außenwelt. Das Zusammensein der beiden Frauen ist eine Phase der Glückseligkeit. Aber Sedi ist kein Mensch. Ihre Vorstellungen von Liebe, Konsequenz und Standhaftigkeit sind andere als wir sie kennen.
In einem Ende, geschrieben in einer Prosa voller Schönheit und Melancholie, das kein wirkliches Ende ist, trennen sich zwar die Wege von Kai und Sedi, aber verbunden bleiben sie für immer, wenn auch nicht in dem Sinne, wie zwei Menschen verbunden bleiben würden.
Auch wenn die literarische Form eine völlig andere ist, ist das Kernthema von „The Woman Who Loved the Moon“ das gleiche wie das in J. Sheridan Le Fanus Novelle „Carmilla“, nämlich die nach unseren Maßstäben letztlich unerfüllbare lesbische Liebe einer menschlichen Frau zu einer nichthumanen, aus konzentriert weiblichen Attributen materialisierten Lebensform, wobei letztere die Unerreichbarkeit symbolisieren mag. Die Besonderheit an „The Woman Who Loved the Moon“ ist das konsequente Ausklammern lesbischer Liebe als etwas irgendwie besonders Geartetes. Dass Kai und Sedi sich lieben, wird als genauso selbstverständlich dargestellt, wie der Mond rund ist.
Auch wenn „The Woman Who Loved the Moon“ nach der letzten Seite ihre Leser traurig wieder loslässt, spendet uns ab jetzt jeder Vollmond Trost, denn irgendwo hinter seinem silbernen, kalten Licht verbirgt sich Kai, die immerhin zeitweise ihr höchstes Glück gefunden hat.
Deutsche Übersetzung: „Die Frau, die den Mond liebte“, übersetzt von Roland Fleissner, in: Elizabeth A. Lynn, Die Frau, die den Mond liebte (München: Heyne, 1984)
Lektorat: Uwe Voehl
[Rezension] Dorothy Strachey – Olivia
Originalveröffentlichung:
Olivia (1949, geschrieben 1933)
Wie erschreckend dünn manchmal der Grat zwischen einem Klassiker und einem vergessenen unveröffentlichten Manuskript sein kann, lässt sich anhand von Olivia nachvollziehen, dem einzigen Roman von Dorothy Strachey. Als Dorothy Strachey das Buch 1933 im Alter von achtundsechzig auf Französisch schrieb, war ihr wohl schon klar, dass ihr Name zu Lebzeiten niemals Literaturgeschichte schreiben würde, verbot sie doch später selbst ihrem guten Freund, dem Dichter André Gide, der das Buch als Erster las, jemals jemandem zu erzählen, dass sie die Autorin sei. So waren die Zeiten.
Dabei war Gidé 1933 gar nicht erbaut von dem Roman und hätte ihn mit seinen negativen Bemerkungen fast vernichtet. Es dauerte daraufhin fünfzehn Jahre, bis Strachey das Manuskript erneut in die Hände nahm und Gefallen daran fand. Mit Unterstützung von Roger Martin du Gard übersetzte sie Olivia ins Englische. 1949, Strachey war jetzt dreiundachtzig, wurde die Version anonym als „Olivia von Olivia“ von der Hogarth Press veröffentlicht. Dorothy Strachey hatte offensichtlich jegliche Eitelkeit, als Autorin eines brillanten Buches gefeiert zu werden, abgelegt. Wie schön wäre es gewesen, zu Lebzeiten die Anerkennung zu erhalten, die sie verdient gehabt hätte. Ihr einziger Fehler war, sich nicht an die Spielregeln gehalten zu haben, nach denen Sexualität in Literatur abzuarbeiten war.
Für uns soll das keine Rolle mehr spielen, denn mit der Rettung von Olivia dürfen wir dem Schatz der großen Literatur eine der melancholisch-schönsten Liebesgeschichten hinzufügen. Erstaunlich ist die Dimensionstiefe, die man dem schmalen Roman zunächst nicht zutraut. Olivia ist in erster Instanz ein Buch, das gnadenlos die emotionale Struktur des Lesers angreift und sich erst bei wiederholtem Lesen als architektonisch ausgeklügeltes Kunstwerk entpuppt. Beginnt der Roman wie eine pubertäre Mädchengeschichte, so schleichen sich nach und nach die ersten Anzeichen von Missgunst ein, die zielstrebig in einen Kriminalplot münden, um schließlich die Ausmaße einer klassischen Tragödie anzunehmen. Dabei schreibt Strachey immer mit leichter Hand, in einer wunderschönen Sprache. Und das Ergebnis ist eine todtraurige Ballade, die aber für den Leser niemals niederschmetternd oder gar deprimierend ist.
Die Engländerin Olivia erzählt in Rückschau als erwachsene Frau über sich als junges Mädchen, „einem romantischen, sentimentalen Kind.“ Mit sechzehn wird sie von ihren Eltern an das französische Mädchenpensionat Les Avons geschickt, das von der charismatischen Mlle Julie und ihrer Partnerin Mlle Cara geführt wird. Wie Literaturwissenschaftler lokalisiert haben, ist der Handlungszeitpunkt irgendwo in den 1880er-Jahren anzusetzen.
Olivia weiß, was es heißt, in dem Korsett einer wohlhabenden viktorianischen Familie aufgewachsen und erzogen worden zu sein. Trotzdem hat sie sich eine Freundlichkeit und Natürlichkeit bewahrt, die ihr sofort die Sympathien der anderen Schülerinnen sichert. Mlle Julie bevorzugt Olivia deutlich, doch das scheint keines der anderen Mädchen zu stören. Les Avons scheint bis dahin eine Idylle aus Gelehrsamkeit und Kultur zu sein, doch schon bald schleichen sich erste falsche Töne ein. Die Mlles Julie und Cara scheinen zerstritten zu sein und die Schülerinnen in zwei Lager gespalten zu haben, die Julisten und die Caristen.
Olivia hat sich schnell entschieden, denn sie verliebt sich in die viel ältere Mlle Julie. Diese hält ihre Rolle als Olivias Schulleiterin zwar weitgehend aufrecht, aber es entsteht trotzdem eine spürbar sexuelle Anziehung zwischen den beiden. Für Olivia bedeutet es das sexuelle Erwachen, und auch Mlle Julie scheint nicht frei von Gelüsten sein, wenn sie Olivia ins Ohr flüstert, dass sie sie nachts besuchen werde, um ihr „etwas Gutes“ zu bringen. Offenbar in letzter Sekunde ändert sie ihren Plan. Um Olivia vor sich zu schützen? Ein mögliches Bekenntnis Mlle Julies ist auch, wenn sie auf Französisch (im Text nicht übersetzt) etwa sagt: „Ich mag dich, mein Kind.“ Und noch anschließt: „Mehr als du denkst.“ (Übersetzung von mir)
Es verbietet sich, mehr über die Handlung zu erzählen, aber es passiert noch einiges. Und ein Rätsel muss gelöst werden. Die Erzählerin Olivia teilt uns mit, dass sie die Lösung irgendwo im Geschilderten spürt, sie sie aber letztlich nicht findet. Eine Herausforderung für den Leser.
Und das ist das Besondere an Olivia: Alles Bedeutungsvolle liegt unter der Oberfläche, im Nichtgesagten.
Aus den weisen Gedanken der Erzählerin geht hervor, dass sie sich nach Les Avons, „fürs Leben verletzt“, nie mehr der Liebe zu einer Frau stellen konnte. Wenngleich ihre „‘Schwärmerei‘ kein Spaß war“, erahnt sie „etwas irgendwie Beschämendes, zutiefst zu Verbergendes“, was ihr Zeit ihres Lebens „jede literarische Betätigung untersagt hat“, da man nicht schreiben könne, „ohne die Seele zu entblößen.“
Dorothy Strachey hat, wenn auch spät, definitiv ihre Seele entblößt.
Deutsche Übersetzung: Olivia, übersetzt von Stefanie Neumann (Wien: Zsolnay, 1950)
Lektorat: Uwe Voehl
Edgar Allan Poe | Ligeia
Originalveröffentlichung:
Ligeia (1838)

Eine Frau von der man nicht weiß, ob man sie fürchten oder anbeten muss. Mensch oder Göttin? Ein Mann, obsessiv und im Opium-Delirium. Und dann der Horror, in Wellen, wie eine Flut des Grauens. Was für eine Geschichte!
Wie nah man mit einer Geschichte des Grauens der Formvollendung kommen kann, zeigt sehr schön Edgar Allan Poes Erzählung “Ligeia“, die 1838 zunächst in Magazinform erschien und nach einigen nicht unerheblichen Überarbeitungen schließlich 1845 in ihrer endgültigen Fassung glänzen durfte.
“Ligeia“ zeigt überwältigend, wie nah Schönheit und Horror nebeneinander stehen, wenn ein wahrer Meister diesen Gegensatz bis zum überhaupt Möglichen ausreizt.
Erzählt wird “Ligeia“ in erster Person in Rückschau. Für den namenlosen Erzähler bietet das Gelegenheit, uns an seiner großen Liebe zu der geheimnisvollen Ligeia teilhaben zu lassen. Wie viel wir diesem opiumisierten Erzähler überhaupt glauben dürfen, bleibt uns überlassen, aber Hinweise wie der fünfeckige Turm, in den später Lady Rowena einquartiert wird, fachen den Glauben an etwas Übernatürlichem durchaus an.
Obwohl er Jahre mit ihr zusammengelebt hat, nennt der Erzähler sie “Geliebte“. Er hat sie “in einer großen, alten, heruntergekommenen Stadt am Rhein getroffen“ und ihren Familiennamen “niemals erfahren“. Das Einzige, was er über sie weiß, ist, dass sie einer “sehr alte[n] Familie“ entstammt, “mit einer in fernste Jahrhunderte zurückgehenden Ahnenreihe“. Geheimnisvolle Stimmung im Konzentrat durch Auslassungen an den richtigen Stellen.
Mit aller Inbrunst zelebriert er Ligeias Schönheit, ihre mamorweiße Haut, ihre schimmernden rabenschwarzen Haare. “Hochgewachsen, sehr schlank“ und mit einer tiefen, melodiösen Stimme sprechend. Alle Gedanken des Erzählers kleben an der Erinnerung an sie, und die Beschreibung ihrer Erscheinung ist eine große literarische Hymne auf die Schönheit einer Frau, einer Göttin. Dabei ist ihre Schönheit nicht auf die reine Anmut reduzierbar, sondern gebunden an Mysterien und etwas undeutlich Furchteinflößendem. Sie strömt vage spürbar eine unterschwellig aggressive Sexualität aus, und wenn der Erzähler ihre Augen als “um vieles größer […] als die […] unserer eigenen Rasse“ beschreibt, verstärkt er den Eindruck, dass Ligeia nicht ganz menschlich sein könnte. Vielleicht ist sie wirklich eine Göttin.
Sie ist aber auch intellektuell deutlich mehr als nur die schöne Geliebte. Der Erzähler nennt sie seine Gelehrte, der er alles wichtige Wissen verdankt. Die wohl zentrale Erkenntnis, die er so gewinnt, ist ihre Aussage, dass Menschen nur sterben, weil sie nicht die Kraft haben, sich gegen den Tod aufzulehnen.
Trotzdem stirbt sie – einfach so –, und man denkt unwillkürlich, dass eine solche Frau nicht derart grundlos dahinsterben kann. Man ist fassungslos über die Gewöhnlichkeit ihres Todes, den man in der konsequenten Schlichtheit so nicht von ihr erwartet hätte.
Durch die Hinterlassenschaft Ligeias vermögend geworden, zieht der Erzähler von Deutschland aus nach England in eine alte Abtei. Jetzt völlig allein und permanent unter Opiumeinfluss, richtet er sich, um sich abzulenken, in ägyptisch-königlichem Stil ein, und plötzlich ist er verheiratet mit der blonden, blauäugigen Lady Rowena.
Aber die neue, aus finanziellen Gründen eingegangene Ehe steht unter dem Gestirn der Verdammnis. Rowena hat Angst vor der düsteren Aura des Erzählers und ist weit davon entfernt, ihn zu lieben. Im Gegenzug beginnt er sie abgrundtief zu hassen. Gegen das übermächtige Andenken der Ligeia kann Rowena nur verlieren.
Dann setzt das Grauen ein. Aber ist es für den Erzähler überhaupt schrecklich, was da passiert oder ist es die Erfüllung seines einzigen Herzenswunsches?
Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Ligeia“, übersetzt von Michael Görden, in: Michael Görden (Hrsg.), Das große Buch der erotischen Phantastik (Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)
Arthur Machen | Der Berg der Träume
Originalveröffentlichung:
The Hill of Dreams (1904, geschrieben 1897)
[früherer Titel: The Garden of Avallaunius]

In diesem Triumph der Imagination, einem majestätischen Meisterwerk von betörender Schönheit, hält sich ein introvertierter Träumer lieber in den prachtvollen Provinzen seiner Phantasiewelt auf als in der grauen Realität. Eine innere Pilgerreise, wie man sie noch nie gelesen hat, beginnt.
Von Anfang an stand Arthur Machens Roman The Hill of Dreams [Der Berg der Träume] unter keinem guten Stern. Bereits 1897 verfasst, lehnte Machens Verlag das Manuskript strikt ab, obwohl der Autor nach seiner furchterregenden Horror-Novelle “The Great God Pan“ [“Der Große Pan“] wahrlich kein Unbekannter mehr war. Es dauerte bis 1904, dass das Manuskript als Fortsetzungsroman in einem Magazin gedruckt wurde. Erst 1907 erfolgte dann die Buchveröffentlichung.
In seinen bis dahin erschienen unheimlichen Geschichten (insbesondere dem Episodenroman The Three Impostors [Botschafter des Bösen]) erkundete Machen die hauchdünne Grenzlinie zwischen der Realität und einer okkulten, aus der fernen heidnischen Vergangenheit überdauerten Wirklichkeit. In The Hill of Dreams gelingt ihm der Transfer zwischen einer uralten, aus den walisischen Wäldern und Hügeln geborenen Privatmythologie und der reizlosen, jegliche magischen Elemente unterschlagenden Gegenwart. Und gerade das macht den Roman so groß. Obwohl der Protagonist Lucian Taylor geographisch lediglich die Distanz zwischen seiner walisischen Heimat und London zurücklegt, beginnt er als 12-jähriger eine monumentale Odyssee des Geistes.
Lucian lebt mit seinen Eltern in einem Pfarrhaus im walisischen Umland der Stadt Caermaen. Sein Vater ist Pastor, seine Mutter stirbt schon bald. Lucian ist schon als Kind anders als die Gleichaltrigen. Er geht nicht gern in die Schule, durchstreift stattdessen lieber die umliegende, von gewaltigen Wetterumschwüngen begleitete unberührte Natur mit all ihren Wäldern, Quellen und Hügeln und bewundert die Artefakte der alten Römerlager, die noch aus der römischen Besatzung Britanniens stammen.
Die Schulzeit passiert Lucian als wunderlicher Einzelgänger, der sich lieber in das alte Britannien und den keltischen Zauber der noch “wilden Hügel“ und “schwarzen Tiefen des Waldes“ verliert. Der einzige Mensch, dem Lucian offenbar kein Misstrauen entgegenbringt, ist das drei Jahre ältere Landmädchen Annie Morgan. Ihm fällt auf, dass Annie “erschreckend groß geworden“ ist, ein Ausspruch, der erstmalig sein späteres angstbegleitetes sexuelle Erwachen andeutet.
Drei Jahre danach, als etwa 15-jähriger, kommt Lucian in den Schulferien nach Hause und ist sofort wieder gefangen von seiner geliebten Heimat. In einer Schlüsselszene erklettert Lucian den Berg der Träume, bei dem es sich um eine römische Festung handelt; ein wild bewachsener Wall rund um den Berggipfel, hinter dem sich, einer riesigen Schale gleich, eine unberührte grüne Grasfläche befindet. Hier, absolut abgeschottet von der Welt, schläft er ein und erwacht nach einiger Zeit nackt und ist wie paralysiert zwischen Irritation und Angst. Er hat geträumt, dass ihn im Schlaf eine Frau geküsst hat. Man kann hier nur spekulieren, ob er es wirklich nur geträumt hat. Machen lässt auch die Deutung zu, dass der Kuss real gewesen sein könnte, und es Annie war, die Lucian geküsst hat, denn Annies Lippen und Augen werden später exakt so beschrieben wie die der Frau im Traum.
Als 17-jähriger muss Lucian die verhasste Schule verlassen. Seine Mutter ist in der Zwischenzeit gestorben, und sein Vater kann sich die Zusatzkosten nicht mehr leisten. Die kirchlich geprägte Gesellschaft schneidet Lucian und seinen Vater immer häufiger aufgrund ihres Freidenkertums und ihrer Armut und drängt Lucian tiefer in die Isolation, in der er sich sowieso am glücklichsten fühlt. Hier führt er seine Studien längst vergessenen Wissens durch: “Bücher, die Gedanken an Bücher, die ersten Regungen der Einbildungskraft, sie alle verschmolzen durch den Zauber der entlegenen Landschaft zu einer einzigen Phantasmagorie.“ Wie ein biblischer Gläubiger wird Lucian zum Asketen, magert zusehends ab und geißelt sich auf seinem Zimmer heimlich mit Dornenbüschen.
Nachdem er, inzwischen 23-jährig, seinen ersten Roman bei einem Londoner Verlag abgeliefert hat, erhält er die nächste Bestätigung, dass es besser ist, die Gesellschaft der “Barbaren“ zu meiden, denn das Manuskript wird abgelehnt, und Lucian muss feststellen, dass Teile daraus von einem Bestsellerautor aus eben jenem Verlag geklaut wurden.
Einen weiteren Wendepunkt bringt eine Begegnung mit Annie. Weinend bricht er an ihrer Brust zusammen und lässt sich von ihr – Mutterersatz und sexuelle Erweckerin in einem – trösten. Dieser eine Moment scheint Lucian zu genügen, um ihn für immer in Bernstein einzuschließen und bei sich zu tragen. Lucian, der notorische Eskapist, käme niemals auf die Idee, die Mühen einer Beziehung auf sich zu nehmen.
Er widmet Annie sein folgendes literarisches Werk und geht den nächsten endgültigen Schritt. Er entflieht der verhassten Realität so nachhaltig, dass es ihm schließlich gelingt, sich mental vollends in die “herrliche, goldene Stadt Siluriens“ zu versetzen, die einst an dieser Stelle gewesen sein mag. Er träumt sich in die prachtvolle römische Welt der Antike hinein, die er derart detailliert wahrnimmt, dass er jede freie Minute nutzt, um in den Garten des Avallaunius zurückzukehren, einer vollständig imaginierten Welt, in der er Gespräche mit lateinisch sprechenden Frauen der Antike führt und fasziniert der heidnischen Sagenwelt aus Nymphen, Faunen und Satyrn lauscht. Diese Welt der Mamorvillen, Tavernen, Tempel und Weinberge ist eine Welt von unermesslicher Pracht, aber auch maßloser Dekadenz.
Arthur Machen spielt hier mit allen Konsequenzen mit der Faszination, die die unerreichbar ferne Vergangenheit und die Landschaften unserer Imagination auf uns ausüben. Die Beschreibungen der altrömischen Phantasiewelt, aber auch der walisischen Landschaft gehören sicherlich zum Glanzvollsten, was bis heute zu Papier gebracht worden ist. Arthur Machen beschwört mit seiner Sprache eine Schönheit, die ihresgleichen im Literaturkanon sucht. Einen vergleichbaren Roman von solcher Pracht noch einmal zu finden, dürfte schwer sein, denn Machen hat in The Hill of Dreams seine Fähigkeit, eine bizarre Traumlandschaft zu erschaffen, bis an die Grenzen des Machbaren getrieben.
Inzwischen ist Lucian als angehender Schriftsteller in London gelandet. Als er erfährt, dass Annie inzwischen einen anderen geheiratet hat, ist er der Realität bereits zu sehr entrückt, um davon noch gekränkt zu sein. Er richtet seine ganze Existenz auf das Leben als freier Schriftsteller aus – und ist zum Scheitern verurteilt. The Hill of Dreams ist auch das Statement des von Selbstzweifeln zerrissenen Schriftstellers.
Erstmals empfindet Lucian Einsamkeit und wird depressiv. Auch in London verliert er sich in imaginären Landschaften, jedoch vermischen sich diese jetzt mit der schmutzigen Gegenwart der verruchten Großstadt. Den Garten des Avallaunius hat er längst hinter sich gelassen. Im dunstigen, nebligen Gewirr der regennassen Straßen Londons verliert sich Lucians Lebensfaden.
Und genauso klanglos, wie Lucian vom Antlitz der Welt verschwindet, so vergessen ist heute der Roman The Hill of Dreams.
Deutsche Übersetzung: Der Berg der Träume, übersetzt von Joachim Kalka (München: Piper 1994)
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