[Archiv-Rezension] Haruki Murakami – Wilde Schafsjagd

Wildeschafsjagd
Wiederveröffentlichung einer Rezension von mir aus den guten alten Zeiten des auf Papier gedruckten Wortes. Damals entdeckte ich das Buch durch einen Zufall und erzählte jedem, der es nicht hören wollte, wie gut es sei. Zu dieser Zeit wurde Murakamis Name noch in der umgedrehten japanischen Schreibweise genannt.
Die Rezension erschien ursprünglich 1991 in dem von Thomas Tilsner herausgegebenen und von Gerd Rotttenegger redaktionell betreuten professionellen Magazin science fiction media. Großen Dank an Arthur Gordon Wolf, der mir diese in meinem Archiv verschollene Rezension aus seinem Bestand zur Verfügung stellte.

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John Crowley und das Geheimnis der Frauen

05 Crowley Aegypten

Diese Studie über den berühmtesten unbekannten Autor schrieb ich 1997. Da Crowleys Werk in deutschen Übersetzungen nur etwa bis zur Mitte seines Schaffens vorliegen, ließ ich den Artikel all die Jahre unveröffentlicht, in der vergeblichen Hoffnung, dass ein deutscher Verlag irgendwann Crowleys Größe erkennen würde. Ich denke, es fehlt nur ein zündender Funke und Crowley würde sofort einen ähnlichen Status wie beispielsweise Haruki Murakami oder Paul Auster (bei denen die Leserschaft ja auch ihre Zeit brauchte, um zu ihnen zu finden) erlangen. Auch, wenn diese Betrachtung nicht einmal die Hälfte von Crowleys Schaffen repräsentiert, glaube ich, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, sie vom Staub des Archivs zu befreien.

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[Archiv-Rezension] George R. R. Martin – Armageddon Rock

armageddon-rock

Eine meiner ältesten Rezensionen überhaupt. Sie erschien ursprünglich 1987 in dem von Kai Meyer und mir herausgegebenen Fanzine Cryptolog.

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[Rezension] Peggy Wolf – Acker auf den Schuhen

Originalveröffentlichung, 2014

Acker auf den Schuhen

Irgendwann steht wahrscheinlich jede Schriftstellerin, jeder Schriftsteller vor der Frage: Lehne ich mich eher den Publikumsvorlieben entgegen oder versuche ich etwas annähernd Wahrhaftiges zu erschaffen? Mit Wahrhaftigkeit im literarischen Sinne meine ich, der Innenwelt des realen Lebens fiktiv so nahe wie möglich zu kommen, ohne all die möglichen Emotions- und Handlungsspitzen so weit auszureizen, dass sie zwar den Verlag zufrieden machen, letztlich aber die Ambitionen des Schriftstellers aufweichen.
Ich bin mir sicher, Peggy Wolf wusste von Anfang an, welchen Weg sie mit ihrem Erstlingsroman Acker auf den Schuhen gehen würde. Und zwar definitiv nicht den leichten, publikumswirksamen.
Schon der erste Satz legt uns nahe, bloß nicht zu glauben, dass der Anlass des nachfolgenden Familientreffens mit Freude verbunden sei: “Als der Sarg kam, fuhr Waltraud zum Bestatter.“
Waltrauds Haus füllt sich nach und nach mit den Gästen: ihrer jüngsten Tochter Anne, der mittleren Tochter Betty, deren Angehörigen. Der Grund des Familientreffens ist die Beerdigung von Waltrauds ältester Tochter Susann. Von Anfang bis Ende des Buches vergeht nicht viel Zeit. Klammert man das Abschlusskapitel aus, sind es nicht einmal zwei volle Tage, die in Echtzeit vergehen. In dieser Zeit geschieht nichts weiter als die Beerdigungsvorbereitungen und das eigentliche Begräbnis.
Das, was Peggy Wolf uns aber wirklich zu sagen hat, geschieht auf gedanklicher Ebene. Ähnlich wie in Mrs Dalloway von Virginia Woolf wechseln die Gedanken- beziehungsweise Erzählebenen fließend. Diese Perspektivwechsel sind nicht etwa an starre Konzeptgrenzen wie Kapitel etc. gebunden. Das bewirkt, dass die Gedankenströme uns Leserinnen und Leser erreichen als seien wir zu Gast in den Köpfen der Protagonistinnen.
Acker auf den Schuhen ist das, was man zu Recht ein feminines Buch nennen kann. Nicht aber im Sinne von Feminismus sondern in dem Sinne, dass die Frauen das Geschehen steuern. So sind es auch ausschließlich die Frauen, die uns ihre Gedanken schenken. Allen voran die bigotte Mutter Waltraud, die gefangen ist in ihrer Welt aus Pflichterfüllung und äußerer Sauberkeit. Daneben hauptsächlich zu (denkendem) Wort kommt Anne, die Tochter, die am meisten unter dem Tod ihrer großen Schwester zu leiden hat, da sie es als einzige neben ihrer nun toten Schwester Susann geschafft hat, frei zu denken und zu handeln, wenn auch zum Preis lebenslanger Gewissensbisse.
Das traurige Schicksal Susanns öffnet sich nur zögerlich. Lesbisch in einem homophoben Dorfmikrokosmos, trägt sie schon als Jugendliche das Stigma der Verdammten. Sie hat keine Chance, und dieses Wissen bricht nicht nur ihrer kleinen Schwester Anne sondern auch uns Lesenden das Herz.
Wie schon gesagt, ist Acker auf den Schuhen ein Buch der weiblichen Stimmen. Anne, die Susann geliebt hat, die nie Anstoß daran genommen hat, dass Susann lesbisch ist, ist letztendlich die einzige weibliche Sympathieträgerin. Waltraud ist nicht mehr zu helfen. Sie wird niemals realisieren, dass sie ihr Leben (und das ihrer ältesten Tochter) verschwendet hat. Verschwendet an eine Religion und an eine gnadenlos gelebte Erziehung, die ihr nicht annähernd das geben konnten, was freie Gedanken ihr hätten geben können. Auch ihre Tochter Betty ist vom Wege abgekommen. Ihre Welt aus finanzieller Freiheit und selbst gesetzter emotionaler Limitierung gibt ihr zwar die Sicherheit unbeschadet durchs Leben zu kommen, aber wirkliche Qualität hat ihr Leben nicht.
Peggy Wolfs lobenswert differenzierte Darstellung des Gesamtthemas zeigt sich aber besonders deutlich im männlichen Personal. Während Waltrauds ehemals despotischer, nun durch einen Schlaganfall außer Gefecht gesetzter Ehemann und Bettys Gatte in ihrer geistigen Beschränktheit indiskutabel sind, zeigt insbesondere Annes Freund Robert, dass es für Peggy Wolf nicht in Frage kommt, Geschlechter gegeneinander auszuspielen. Robert ist der wohl einfühlsamste Charakter im Roman. Nicht nur, dass er seine eigenen Gespenster zu bewältigen hat – offensichtlich hat er die lesbische Susann geliebt -, er navigiert auch permanent emphatisch zwischen Anne und ihren beiden gemeinsamen Kindern und füllt klaffende Traurigkeitslücken mit Trost und Halt.
Peggy Wolf hat mit Acker auf den Schuhen einen hochrangigen, deutlich aus der Masse herausstechenden Roman geschrieben, der besondere Beachtung durch eine kraftvolle Stilistik verdient, jenem geheimnisvollen Wie, ohne das dieses Werk nicht annähernd so spektakulär wäre, wie es tatsächlich ist. Womit es nämlich wahrhaft herausragt, ist die sprachliche Ruhe und ein gleichbleibend gedrosseltes Erzähltempo. Die Autorin hat die magische Fähigkeit, die Zeit zu verlangsamen.
Peggy Wolf ist eine bemerkenswerte Stilistin, deren Prosa schon in diesem ersten Roman von enormer Reife zeugt und jederzeit das Signal aussendet, die völlige Kontrolle über den selbstgewählten Stoff zu haben. Neigt man bei schwächerer Lektüre schon mal dazu, interne Fehler und Ungereimtheiten aufspüren zu wollen, genießt man in Acker auf den Schuhen einfach nur die sprachliche Virtuosität, die aber nie so wirkt als wolle sie virtuos sein. Mit Bravour umschifft Peggy Wolf alle nur denkbaren Klischees, die man in einem Roman dieser Thematik eigentlich erwarten würde. Sie liefert nur die Geschichte. Für Betroffenheitsgestik, Sozialkritik und Anklageverlesung gibt sie sich nicht her. Sie liefert das düstere, durch einen warmen Humor gemilderte Material. Was jeder für sich sich daraus mitnimmt, ist nicht mehr ihre Baustelle.
Acker auf den Schuhen ist ein großer Roman über die Schuld. Ein Menschenleben wurde ausgelöscht. Die einzige, die keinerlei Schuld trifft, zerbricht daran, dass sie sich schuldig fühlt. Alle anderen, die über Susanns Untergang entschieden haben, verstecken sich hinter der Sicherheit ihrer fortwährend heruntergebeteten Psalmen der Intoleranz.
Acker auf den Schuhen ist ein meisterhafter Roman.

T. E. D. Klein – Botschafter des Grauens und der Romantik

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Endlich hat meine umfangreiche Studie über den großartigen Schriftsteller T. E. D. Klein eine dauerhafte Heimat gefunden – nach 15 Jahren.

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Vernon Lee | Die Puppe

Originalveröffentlichung:
The Image (1896)
[späterer Titel: The Doll]

Vernon Lee - Die Puppe

Das Puppenabbild einer bereits lange verstorbenen unglücklichen aristokratischen Frau löst das feministische und sexuelle Erwachen einer desillusionierten Antiquitätensammlerin und Ehefrau aus.

Vernon Lees Kurzgeschichte “The Image“ [“Die Puppe“] ist ein früher, bei genauem Hinschauen recht deutlicher Beitrag zum Feminismus und lesbischen Begehren. In einer Zeit entstanden, die derartige Gedanken einer Frau nur verschlüsselt auf Papier zuließ, hatte die renommierte Kunstkoryphäe Vernon Lee, die im wirklichen Leben Violet Paget hieß, eigene Wege gefunden, ihre Dämonen in die literarische Öffentlichkeit zu tragen. Sie schrieb eine Reihe von sogenannten “übernatürlichen“ Erzählungen, deren Genre-Rahmen ihr die Freiheit gab, ihre dringlichsten persönlichen Präferenzen einem öffentlichen Publikum als Beigabe zu ihren auch so schon ausgesprochen faszinierenden Texten zu überlassen. Ihre Geschichten zeichnen sich aus durch einen eleganten, feinsinnigen Schreibstil, dessen erstaunliches Nebenergebnis es ist, dass sie sich auch heute noch wie moderne Prosa lesen lassen. Bestes Beispiel dafür ist auch ihre meisterhafte Novelle “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“].
“The Image“ erschien zuerst 1896 in der Zeitschrift The Cornhill Magazine und blieb unbeachtet (und wahrscheinlich unverstanden). Erst drei Jahrzehnte später erfuhr die Geschichte ihre erste Buchveröffentlichung in einem Erzählungsband der Autorin.
Die namenlose Ich-Erzählerin berichtet uns von ihrem Abstecher in ein kleines Städtchen in Umbrien, wo sie ihrer Leidenschaft, dem Sammeln von Antiquitäten, frönen will. Das Angebot eines verschuldeten Adligen führt sie in einen leicht heruntergewirtschafteten Palast, wo sie antikes Tafelgeschirr erwirbt.
Alles ändert sich aber urplötzlich für sie, als sie durch Zufall der lebensgroßen Puppe einer Frau begegnet. Es handelt sich dabei um die Nachbildung einer schon seit vielen Jahren toten Ahnin des jetzigen Palastbesitzers, einer Gräfin, von der bekannt ist, dass sie noch sehr jung im Kindbett starb, nachdem sie jahrelang im Schatten ihres sie vergötternden aber sie nicht als Frau mit eigenen Wünschen und Begierden wahrnehmenden Ehemannes verkümmerte.
Vom ersten Moment an solidarisiert sich die Erzählerin mit der Puppe, die für sie in ihrer Wirkung identisch mit der einstigen lebenden Gräfin ist. Die Beziehung zu dem Abbild, das für sie keinen Unterschied zu der “Frau, der sie nachgebildet war“ macht, wird ihr kleines Geheimnis. Welchen Stellenwert die Puppe für sie einnimmt, zeigt sich schon damit: “Glauben Sie etwa, ich hätte meinem Mann jemals von der Puppe erzählen können? Dabei erzähle ich ihm sonst alles von mir […].“
Warum das so ist, erklärt sich aus der begründeten Vermutung, dass sie vermutlich lesbisch ist. Ihr Mann, der lieber durch Abwesenheit glänzt und “Besseres zu tun“ hat als sie auf ihren “Nippes-Exkursionen“ zu begleiten, ist sicherlich nicht der richtige Gesprächspartner für ein derartiges Thema.
Von Beginn an besteht eine spürbare Intimität zwischen der Erzählerin und der Gräfin. Zum einen sorgt bereits die Erkenntnis dafür, dass die Kleidung der Puppe die originale Kleidung der Gräfin ist. Es gibt weiterhin versteckte Symbole wie etwa die Perücke mit dem echten Haar der Gräfin. Trug eine Dame im frühen 19. Jahrhundert in der Öffentlichkeit ihr Haar stets hoch gesteckt, wirkt das offene Haar der Perücke wie eine Einladung in einen privaten Bereich, zu dem gewöhnlich nur Dienstmädchen und Ehemann Zutritt hatten.
Diese Symbolik weitet sich zunehmend aus in eine sehnsuchtsvolle, erotisierte Sprache. So löst die Puppe zutiefst etwas in ihr aus, so “dass ich den ganzen Tag an sie dachte.“ Weiter schreibt sie: “Es war, als wüsste ich bereits alles über sie“ und “Immer wieder sah ich sie vor mir […].“
Das alles sind Formulierungen, die von Leidenschaft zeugen, ja, die einer romantisch verehrten Person vorbehalten sind und gewöhnlich in keinem anderen Kontext gebraucht werden als dem Verliebtsein.
Am Ende steht die Erzählerin allein mit dem Ehering der Puppe da, dem Symbol ihrer erweckten Leidenschaft und ihrer neu erlangten geistigen Freiheit. Die kraftvolle Metaphorik dieser Schlussszene symbolisiert die tiefe feminine Verbundenheit der beiden Frauen. Über ein Jahrhundert hinweg.

Deutsche Übersetzung: “Die Puppe“, übersetzt von Oliver Plaschka, in: Frank R. Scheck & Erik Hauser (Hrsg.), Als ich tot war – Dunkle Phantastik der britischen Dekadenz, Band 2 (Windeck: Blitz, 2008)

Mehr zu Vernon Lee auf dandelion | abseitige Literatur:
Vernon Lee | Winthrops Abenteuer
Vernon Lee | Oke von Okehurst
Vernon Lee | Amour dure

Vernon Lee | Oke von Okehurst

Originalveröffentlichung:
A Phantom Lover (1886)
[späterer Titel: Oke of Okehurst]

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Auf einem alten englischen Landsitz stellt sich für einen Auftragsportätmaler sein Modell als eine außergewöhnlich faszinierende aber auch abgründig gespenstische Frau heraus.

Nicht oft hat mich ein literarisches Werk gleichzeitig so fasziniert und so ratlos zurückgelassen wie dieses. Es provoziert Fragen über Fragen, die sich nicht zufriedenstellend beantworten lassen; mögliche Lösungsansätze, die nur noch mehr Fragen aufwerfen, anstatt Antworten zu geben. Und immer dieses schreckliche Gefühl, der Lösung so nah zu sein.
Vernon Lee, die renommierte Kunstkennerin, die eigentlich Violet Paget hieß, ist in ihren phantastischen Erzählungen stets ein Garant für exquisite Prosa, stilistisch immer elegant und geschliffen. Die Novelle “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“] – zuerst als eigenes Buch erschienen, später in Sammelbänden und Anthologien nachgedruckt – gehört zum Beeindruckendsten, was sie geschrieben hat. Mit der Sicherheit eines Messerwerfers wirft sie die Elemente des klassischen Schauerromans ins Ziel und dehnt das Genre dank Psychologie erstaunlich weit auf.
Liebhaber der gothic novel werden auf ihre Kosten kommen, denn alles ist da: ein alter englischer Landsitz, ein finsteres Schlüsselereignis in der Vergangenheit, das unheimliche Gemälde einer doppelgängerischen Ahnin, Andeutungen eines Geistes und eines Familienfluchs. Und doch ist es bei Vernon Lee viel, viel mehr oder viel, viel weniger als das.
“A Phantom Lover“ lässt sich auf sehr verschiedene Arten lesen, denn Lee bietet gleich mehrere Interpretationsansätze an. Mir jedoch scheint die Nabe, um die die Geschichte kreist, in erster Linie die seltsame Beziehung des männlichen namenlosen Ich-Erzählers zu seinem Modell zu sein.
Unzuverlässige Erzähler gibt es zuhauf in der Literatur, aber unser Erzähler ist so geschickt, dass man ihm kaum etwas bezüglich seiner Unseriosität anlasten kann. Ich habe nur zwei Stellen gefunden, in denen er nicht ganz sauber berichtet. So wird Oke von Okehurst bei seinem Besuch beim Erzähler von “seinem Freund“ (Italics, auch in den nächsten beiden Zitaten, von mir) begleitet. Im gesamten späteren Text hat er aber keinen solchen Freund. Wenige Sätze später spricht der Erzähler bezüglich des Begleiters von “meinem Freund“. Dies und die vage Beschreibung lassen vermuten, dass Mr. Oke bei diesem ersten Zusammentreffen von seiner Frau in Männerkleidung begleitet wird. Auch in der zweiten etwas zweifelhaften Szene verschweigt uns der Erzähler etwas bezüglich seines Verhältnisses zu Mr. Oke: “[…] er stellte mir keine Fragen mehr bis auf eine.“ Dann lenkt er ab. Wie die Frage lautete, sagt er uns nicht. Lautete sie vielleicht: “Kann es sein, dass Sie meine Frau lieben?“ Spekulation, ich weiß.
Der schüchterne Mr. Oke erteilt dem Erzähler den Auftrag, den Sommer 1880 über, ihn und seine Frau zu porträtieren. Da sich der Erzähler gerade in einer Phase des Misserfolgs befindet (er hatte eine einflussreiche korpulente Dame “alt und vulgär“ gemalt, “was sie ja auch war.“), sagt er sofort zu.
Er reist nach Kent zu den Landedelleuten und ist vom ersten Moment an gebannt von Mr. Okes Frau Alice. Den gesamten folgenden Text reichert er mit Beschreibungen Alices an, die von einer grundsätzlichen, leidenschaftlichen Huldigungen der weiblichen Schönheit zeugen. Die Addition dieser Beschreibungen macht Alice zu einem Idealbild, ähnlich Edgar Allan Poes “Ligeia“ [“Ligeia“]. So feiert der Erzähler Alice etwa als “die anmutigste und vollkommenste Frau“, die er je gesehen habe. “Sie war sehr groß“ und “gertenschlank“ und “[w]ahrscheinlich das wunderbarste Wesen, das ich je getroffen habe“. Immer wieder hebt er “ihr schönes, blasses, durchscheinendes Gesicht“ und “die erlesene Geschmeidigkeit ihrer großgewachsenen Gestalt“ hervor.
Als der Erzähler darangeht, Mr. und Mrs. Oke zu malen, wird schnell deutlich, wem von beiden seine Prioritäten gelten. Während er Mr. Oke ohne vorherige Skizzen malt, fertigt er von Mrs. Oke wochenlang Entwurf um Entwurf an und rechtfertigt das damit, dass er noch nicht die richtige Position seiner Muse gefunden habe: “Sie hob ihre wunderschön großen, blassen Augen, wobei sie die erlesene Neigung von Schultern und Nacken und ihres delikaten bleichen Kopfes zeigte, die ich vergeblich einzufangen suchte.“ Auch eine Methode, möglichst viel Zeit mit Mrs. Oke zu verbringen.
Da er wohl selbst merkt, dass sein Verhalten ihn irgendwann verdächtig machen könnte, setzt er auf die Devise “Angriff ist die beste Verteidigung“: “Ich interessierte mich für Mrs. Oke, als wäre ich in sie verliebt, und doch war ich nicht im Geringsten in sie verliebt.“
Bedenkt man, dass er eigentlich nur ein neutraler Erzähler ist, der offiziell an den Ereignissen auf Okehurst selbst nicht aktiv Anteil hat, findet hier doch erstaunlich viel persönliche Interaktion mit den Personen statt, über die er eigentlich nur wertfrei erzählen soll.
Nach und nach ist es jedoch nicht nur die Schönheit Mrs. Okes, die den Erzähler so anzieht: “Diese Frau versetzte mich entschieden in Schrecken.“ Er findet etwas “beinahe Abstoßendes an dieser wunderschönen Frau. Plötzlich wirkte sie pervers und gefährlich auf mich.“
Was an Mrs. Oke ist pervers? In der Novelle kann ich nach heutiger Sicht nichts finden, was diese Wortwahl rechtfertigen würde. Gewinnbringend könnte es daher an dieser Stelle sein, das private Leben der Autorin heranzuzuziehen. Ja, ein literarisches Werk sollte für sich selbst stehen, auch ohne nähere Informationen zur Autorin oder zum Autor zur Verfügung zu haben. Im Fall von Vernon Lee ist es aber nicht unvorteilhaft zu wissen, dass sie ziemlich sicher lesbisch war. In vielen ihrer Erzählungen wählt sie einen männlichen Erzähler als Medium, um eine abgründige, meist unheilbringende Frau darzustellen. Natürlich kann man auch hier nur spekulieren, aber diese Erzählperspektive bot Vernon Lee grundsätzlich die Möglichkeit, leidenschaftlich über andere Frauen zu schreiben, ohne im prüden neunzehnten Jahrhundert von ihrer Leserschaft als frauenliebende Frau wahrgenommen und geächtet zu werden. Die Beschreibungen Mrs. Okes sind, wie wir gesehen haben, geprägt von der erregenden Faszination, die diese außergewöhnliche Frau auf den Erzähler ausübt. Im viktorianischen England galten lesbische Frauen als pervers. Es mag ja irregeleitet sein, hier die Erklärung zu suchen, aber Vernon Lee bietet uns zusätzlich mit dem Cross-Dressing der beiden Alice Okes einen weiteren Wink für einen solcherart möglichen Hintergrund.
Aber wie auch immer: In der vorliegenden Novelle ist alles möglich, bei weitem nicht nur meine Lesart. Vielleicht dreht sich ja wirklich alles nur um den vergeblichen Eifersuchtskampf gegen einen Phantomliebhaber. Oder, vielleicht hat die Lesart für alle die, die es sich einfach machen wollen, Vorrang: Die Okes sind schlicht und einfach wahnsinnig.

Deutsche Übersetzung: “Oke von Okehurst“, übersetzt von Josef Ehold, in: Franz Rottensteiner (Hrsg.), Viktorianische Gespenstergeschichten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987)

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Oliver Onions | Der Unfall

Originalveröffentlichung:
The Accident (1911)

Mit großer Subtilität lenkt Oliver Onions diese Geschichte einer gescheiterten Männerfreundschaft in eine unwirkliche Richtung.

Die Besonderheit an Oliver Onions‘ Schauergeschichten ist das Vorhandensein eines menschlichen Grundkonflikts, der das existenzielle Fundament der Realität abbildet, die beinahe folgerichtig unmerklich mit unheimlichen Abweichungen in Frage gestellt wird.
So auch in seiner Kurzgeschichte „The Accident“ [„Der Unfall“], die mit großem sprachlichen Geschick eine zerbrochene Männerfreundschaft rekonstruiert. Der 64-jährige Romarin macht sich auf den Weg in das Restaurant, wo er vierzig Jahre zuvor wegen irgendeines Mädchens eine Schlägerei mit seinem Freund Marsden hatte. Eine Schlägerei, die die Freundschaft der beiden Studenten abrupt beendete. Jetzt will er an diesen Ort zurückkehren, um zum ersten Mal seit damals Marsden zu treffen, der Romarins Einladung zu einem Wiedersehen zugestimmt hat.
Romarin, dessen Ziel es ist, dieses Lebenskapitel doch noch zum Guten hin zu wenden, merkt jedoch schnell, dass durch Marsdens Adern immer noch Feindseligkeit gegen ihn strömt. Als eine Art Bestandsaufnahme beschreiben sie jeweils ihre Lebensläufe. Romarin ist ein berühmter Maler, „[…] ausgezeichnet, preisgekrönt, von Monarchen beim Arm genommen […]“, während Marsden seit all den Jahren von der Hand im Mund lebt und als versoffener Straßenauswurf im Zwielicht der Gesellschaft auch mit kriminellen Mitteln um sein Auskommen kämpft. Wie Marsden plötzlich mit hämischer Freude aufdeckt, muss das Mädchen, um das die beiden sich so viele Jahre zuvor geschlagen haben, Romarin sehr viel mehr bedeutet haben, als er uns anfangs glauben gemacht hat. Die Schlägerei von damals droht vierzig Jahre später ihr wahres blutiges Finale zu finden, doch Onions hat noch ein As im Ärmel, das „The Accident“ eine überraschende phantastische Doppelbödigkeit verleiht.
„The Accident“ mag aufgrund der textlichen Knappheit zunächst etwas enttäuschen, aber wie so oft bei Oliver Onions, offenbart sich die Tiefe erst, wenn die Lektüre längst beendet ist und die Gedanken ihre Arbeit aufnehmen.

Deutsche Übersetzung: „Der Unfall“, übersetzt von Richard Bellinghausen, in: Michael Görden (Hrsg.), Totentanz – Gespensterbuch 3 (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

Interview mit Richard Lorenz – Teil 2

Im ersten Teil des Interviews ging es in erster Linie um Amerika-Plakate. Jetzt gilt es zu ergründen, was danach kommt.

RLCopyright © 2014 by Deliah Lorenz

FRAGE

Es ist jetzt gut ein halbes Jahr seit dem ersten Teil unseres Interviews und meiner Lektüre von Amerika-Plakate vergangen, und ich bin erstaunt, wie präsent einige der Charaktere in meinem Kopf immer noch sind. Für mich ist es insbesondere Suzanne, der ich nachtrauere. Wie ergeht es denn dir mit deinen Schöpfungen? Wendest du dich nach Beendigung eines Werkes wie Amerika-Plakate sofort neuen Charakteren zu oder begleiten dich die „alten“ auch noch länger?

RICHARD LORENZ

Die Figuren, über die ich schreibe, existieren weiter. In Traumgeästen, im Zwielicht. Amerika-Plakate verfügt über zahlreiche Menschen, die mich stets begleiten. Die mir stets neue Begebenheiten erzählen. Leibrand zum Beispiel hat ja nicht nur das erlebt, was in dem Roman beschrieben wurde – würde ich das alles schreiben, wäre es vermutlich ein Lebenswerk. Vor allem in neuen Projekten treffe ich Leute, die immer wieder Schnittstellen zu Leibrand, Brenner oder auch Suzanne aufweisen. Die sich kennen.
Vor allem geht ja das Leben für zum Beispiel Suzanne weiter. Was macht sie gerade? Das sind tatsächlich Fragen, die mich beschäftigen. So entstehen Erzählungen für mich alleine. Skizzen, aus denen ganz andere Dinge entstehen können.
Ich mag den Gedanken des Einflusses von Geschehnissen auf Menschen. Dass jeder Schritt, jedes Wort, etwas bewirkt, verändert. Vielleicht schreibe ich eines Tages Amerika-Plakate neu, aus der Sicht von Suzanne. Wer weiß, alles ist möglich.
Da ich mir bei Amerika-Plakate aus Naivität den Luxus geleistet habe, die Figuren nicht glattgestrichen oder das Setting nach möglichen Verkaufschancen ausgesucht zu haben, sind mir Ort und Personen der Erzählung sehr nahe, sehr sympathisch. So kann ich von ihnen weiter träumen. Und ob du es glaubst oder nicht, manchmal bekomme ich eine Postkarte von ihnen. Aus Amerika, Brooklyn. Letztes Haus links.

FRAGE

Heißt das konkret, dass die realistische Chance besteht, dass wir Leibrand oder Suzanne in näherer Zukunft wieder begegnen werden?

RICHARD LORENZ

Ich denke das könnte passieren. Aktuell taucht Leibrand am Rande ja auch in der Kurzgeschichte „Das Treffen der traurigen Menschen in Franks Tabakladen während eines Schneesturms“ auf. Wie eben auch jener Frank, der in dem Roman eine kleine Nebenrolle als Tabakladen-Besitzer erfüllt.
Im Grunde gibt es zahlreiche Schrankgeschichten, die als Skizzen existieren. Die ideale Vorstellung wäre eine erweiterte Ausgabe von Amerika-Plakate mit einem Extra-Band jener Nebengeschichten, sozusagen eine beiliegende Kurzgeschichten-Sammlung. Ja, das würde mir gefallen.

FRAGE

Seit unserem letzten Gespräch ist, so empfinde ich es zumindest, die allgemeine Aufmerksamkeit in der Facebook- und Literaturblogger-Szene dir gegenüber sehr stark gestiegen. Wie hast du die letzten Monate publicitymäßig empfunden?

RICHARD LORENZ

Natürlich empfinde ich es als sehr angenehm, dass der Roman Aufmerksamkeit bekommt. Es gab einige sehr nette Menschen, die das Wagnis dieses Romanes auf sich nahmen. Dafür, und das kann ich ehrlich sagen, bin ich ihnen unendlich dankbar. Solche mutigen Leser holen sich ein schwieriges Werk, und ich denke bei Amerika-Plakate kann man davon sprechen, aus dem Schatten der Merkwürdigkeit. Es folgten tatsächlich großartige wunderschöne Besprechungen.
Ich glaube auch, dass es eine Mär ist, an den dummen Leser zu glauben, der ausschließlich einfachen Handlungssträngen folgen kann. Der keine abseitigen Bücher mehr lesen kann oder will – jedenfalls keine deutschen Publikationen. Wir sehen das an dem aktuellen Erfolg von Neil Gaiman. Könnte ein deutscher unbekannter Autor so etwas publizieren? Ich persönlich habe da so meine Zweifel.

FRAGE

Amerika-Plakate wird ja immer als dein Erstlingsroman angesehen, aber Kinderland ist ja schon eher erschienen…

RICHARD LORENZ

Das ist richtig. Dennoch ist Amerika-Plakate tatsächlich der Debüt-Roman, der eigentlich ein wenig früher auf den Markt hätte kommen sollen. Kinderland war dann das Folgeprojekt, eine Fingerübung sozusagen. Ist Amerika-Plakate eher ein Kammerspiel, öffnete ich mit Kinderland die Linse auf Weitwinkel im Sinne der Absonderlichkeiten eines Tim Burton. Im Nachhinein denke ich, dass es nicht hundertprozentig funktioniert hat, weshalb ich auch eine Überarbeitung anstrebe. Erschienen ist es ja bei einem Münchner digital-first-Verlag in fünf Teilen, also nur als eBook.
Während der Arbeit an Kinderland arbeitete ich auch noch an einer kürzeren Geschichte – Charlie Parker und der letzte Schnee. Charlie Parker trifft Moondog und ein Gespenst – eine schöne Geschichte, wie ich finde.

FRAGE

Was ist aus der Geschichte geworden?

RICHARD LORENZ

Die Geschichte um Charlie Parker und seine letzten Tage liegt aktuell bei der Edition Phantasia. Wie man die kürzere Geschichte am besten umsetzt, ist noch nicht ganz geklärt. Eine angedachte Möglichkeit wäre eine limitierte illustrierte Ausgabe – was natürlich Joachim Körber entscheiden muss. Aber ich denke, es wäre eine schöne Art, der Erzählung gerecht zu werden.
Natürlich wäre es möglich, die Kurzgeschichte als eBook zu publizieren, was mir jedoch stark missfallen würde. Ich denke nach wie vor, dass sich manche Erzählungen besser im Print-Bereich gestalten lassen.

FRAGE

Dein neuer, noch nicht erschienener Roman Frost, Erna Piaf und der Heilige ist denkbar anders als Amerika-Plakate aber trotzdem sofort als ein Roman von Richard Lorenz erkennbar. War es eine bewusste Entscheidung von dir, diesen Roman direkter, weniger komplex und visionär zu schreiben?

RICHARD LORENZ

Nach Amerika-Plakate war es mir tatsächlich fast schon ein Bedürfnis, eine rasche klare Geschichte zu erzählen. Wenngleich die Erzählung vermutlich gar nicht so rasch und klar erzählt ist, wie sie mir erscheint – jedenfalls nicht im Vergleich zu anderen Autoren.
Frost, Erna Piaf und der Heilige kommt mir selbst vor wie ein Traumgebilde. Der Ansatz war ja der Umgang mit dem Tod und dem Glauben. Dem Verlust, an ein Himmelreich glauben zu können. Und letztendlich natürlich auch mit dem Thema Sterbehilfe.
Frost ist wie Leibrand eher ein zerbrochener Mensch. Ein Hoffender und Liebender. Mir gefallen vor allem die Randfiguren des Romans. Das Merkwürdige. Das Eigenartige und das Herausfallen aus einem Leben. Geschichten müssen so sein, denn Geschichten sollen ja das Leben spiegeln. Ich mag nach wie vor keine glattgeschliffenen Erzählungen, als wäre das Leben eine One-Man-Show. Das ist einfach nicht richtig. Denn das Leben ist fahrig, ungenau. Oft genug merkwürdig. Eigentlich müsste das Beschreiben einer Sterbeszene unlesbar, weil so verwirrend, sein – tausend Eindrücke. Aber oft genug habe ich solche Szenen gelesen, als hätte der Autor vom Kuchenbacken geschrieben.
Ich habe es sehr gemocht, diesen Roman zu schreiben.

FRAGE

Die erste Hälfte ist sehr dunkel. Doch dann kommt Amelie, der Engel, der die finsteren Herzen mit Licht erfüllt …

RICHARD LORENZ

Das ist richtig. Die erste Hälfte ist bewusst sehr dunkel gehalten, um den Kontrast besser darstellen zu können. Amelie entzündet Frost, könnte man sagen. In einer Zeit, in der Frost an sich selbst und der Welt zweifelt.
So stellt Frost das Sterben und Amelie das Leben dar. Gegenseitig können sie sich heilen.
Ich glaube, wir brauchen solche Menschen, die uns befreien. Uns lieben. Sterbende brauchen solche Menschen, natürlich. Aber es ist immer noch schwer, mit Sterbenden umzugehen, sie zu begleiten. Weil wir Angst vor diesem Anblick haben. Angst, den Tod am Krankenbett zu sehen, weil er uns an die eigene Sterblichkeit erinnert. Aber auch an das Glück, noch am Leben sein zu können, zu dürfen. Mit der Verdrängung des Sterbens verdrängen wir auch maßgeblich das Leben. Und damit verdrängen wir natürlich auch die Selbstbestimmung und die Frage nach aktiver Sterbehilfe.

FRAGE

Die Liebesgeschichte wird ja nur angerissen, und trotzdem überstrahlt sie alles andere. Auch die Liebesgeschichte zwischen Leibrand und Suzanne findet in Amerika-Plakate nicht statt, obwohl sie das ganze Buch zusammen hält. Ist es dir lieber, dass die Leserinnen und Leser sich selbst vorstellen, wie das Zusammensein ein Liebespaars aussehen könnte?

RICHARD LORENZ

Die Liebe entfaltet vor allem in der erste Phase zwischen zwei Menschen eine starke Magie, wie ich finde. Wenn Geheimnisse noch nicht ganz offen gelegt sind. Gerade das ist für mich als Autor interessant. Den Umstand zu beschreiben, dass alles mit einem Geheimnis kippen könnte. Oder anders gesagt, dass die Liebe beweisen muss, wie stark sie ist. Eine ausgereifte Liebesgeschichte bietet wenig Reibungspunkte. Das Unfertige reizt. Der Duft ihrer Haare, ihre Bewegungen. Sehnsüchte und Träume, der erste Kuss um Mitternacht. Alles das. Nichts ist stärker, nichts ist mächtiger. Und nichts prägt uns so sehr. Leibrand zehrte ein Leben lang davon. Und Frost? Frost wünschte sich nichts sehnlicher.

FRAGE

Leibrand beherrscht selbst noch nach seinem Tod, die Herzen und Gedanken vieler Menschen in deinen Werken. Er strahlt etwas Übermenschliches aus. Ist er eine Art Messias?

RICHARD LORENZ

Das ist eine schwierige Frage. Ich persönlich sehe ihn nicht als Messias, wenngleich natürlich Anleihen im Glauben, wie zum Beispiel die Erlösung, vorhanden sind. Ich würde mir wünschen, dass wir alle Menschen so behandeln nach ihrem Sterben. Dass niemand vergessen ist. Und die Erinnerungen und die begonnenen Taten weiterleben, zu Ende geführt werden. Lebendig gehalten werden.
Das Leben bietet eine Vielfalt an Geheimnissen. Aber auch das Sterben. Wir sollten uns an die Toten erinnern, aber nicht im Sinne von Friedhofs-Besuchen. Jeder Mensch hat eine Gabe in sich verankert, die Welt zu bewegen. Zu verändern. Leider nutzen wenige Menschen dieses Talent. Deshalb strahlen vielleicht auch Menschen, die aus der Welt fallen. Sie erschrecken und beeindrucken uns gleichzeitig, weil gerade diese Menschen uns zeigen, was ein Leben sein kann. Und ein Leben ist eben nicht nur Haus, Garten, Urlaub. Sondern vor allem die Herzschläge und die Träume. Leibrand fügt sich der Welt nicht ein, und doch ist in ihm mehr Leben als in vielen anderen Menschen. Weil er das Leben atmet und letztendlich daran zerbricht. Davor haben wir eine ausgeprägte Angst. Daran zu zerbrechen. Und deshalb sind wir meistens Gaukler des Lebens – die mit billigen Zauberkunststücken versuchen das Leben zu imitieren.

[Erzählung] Richard Lorenz – Das Treffen der traurigen Menschen in Franks Tabakladen während eines Schneesturms

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Der wahre Sinn der Kunst liegt nicht darin, schöne Objekte zu schaffen.
Es ist vielmehr eine Methode, um zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden.
Paul Auster

 

Kapitel 1
Vom Hoffen auf ein Leben

1

Wenn Frank seine Augen schloss, dann konnte er seinen Vater hinter der Theke stehen sehen. Die Hände abgestützt, immer mit Krawatte unter dem Kinn. Wässrig blau die Augen, wie windstille Meere. Oben im Flur hingen noch alle seine Krawatten im Kleiderschrank, als wären es herausgerissene glänzende Zungen. Bis heute hatte Frank keine davon tragen können.
Nach dem Krieg hatte sein Vater den Tabakladen hier in Giesing aufgemacht, zwischen den verwinkelten Straßen und den verwilderten Hinterhöfen. Damals hatte ja noch beinahe jeder geraucht. Natürlich auch sein Vater. Jeden Tag drei Schachteln Lucky Strikes ohne Filter. An manchen Schultagen konnte Frank seinen Vater unten lange husten hören, bevor die ersten Leute kamen, um die Zeitung zu kaufen. Später hatte er dann auch Lotterielose verkauft und Groschenhefte.
Frank blickte auf und sah durch das schmale Schaufenster nach draußen. Das Licht merkwürdig und die Schatten gebrochen. Seit zwei Tagen schneite es unaufhörlich, und Frank nickte. So soll es sein zur Weihnachtszeit, dachte er sich, zog eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an und fühlte sich plötzlich alt und schwermütig. Und tatsächlich war Frank nun schon älter als sein Vater geworden war.
Draußen schlitterte ein Auto auf der rissigen Straße entlang, ein Mann mit Weihnachtspaketen unter dem Arm verschwand in einer Seitenstraße. Flackernd die Straßenlaternen, die ersten Sturmböen bogen die Äste der kranken Bäume zu Boden.
Es war ein 24. Dezember wie heute gewesen, als Franks Vater den Laden früher als gewohnt zusperrte. Ungewöhnlich früh sogar. Schneetreiben und Gespenster, die jeden Namen kannten. In den späten siebziger Jahren, als die letzten RAF-Spukgestalten noch in den Ecken lauerten, war sein Vater zur Donnersbergerbrücke gefahren, hatte sich auf das vereiste Geländer gestellt und solange gewartet, bis er die ersten Lichter eines Güterzuges sehen konnte. Dann war er einfach gesprungen. Zu Hause der Weihnachtsbaum in der Ecke, schief gewachsen wie ein schiefes Leben. Mit Kerzen, die noch niemand angezündet hatte.
Wir sind das, was das Leben aus uns macht, dachte sich Frank und nickte abermals. Überlegte einen Augenblick, ob er es laut ausgesprochen hatte. Aus dem Hinterzimmer mit dem Tisch und den Stühlen drang leise aus dem Grundig-Radiogerät Stille Nacht.
Einige Jahre lang war Frank jedes Weihnachten zu dieser Brücke gegangen und hatte gewartet, bis alle verschwunden waren. Hatte sich auf das Geländer gestellt und sich gefragt, wie es sei zu fliegen. Natürlich war er nie gesprungen, wenngleich sich jedes Jahr mehr etwas abschälte ihn ihm; das Unverständnis des Sterbens in einer eisigen Dezembernacht.
“Und wir wären gerne, was wir nie erreichen”, flüsterte Frank und strich sich schnell über den Mund. Inhalierte den Rauch und drückte die Zigarette zu früh aus. Nicht mehr allzu lange, und er würde seine wenigen Freunde durch den Schnee stapfen sehen. Schon von Weitem würde er sie erkennen können, an ihrem Wanken und Taumeln. Mit müden Knochen und müden Augen. Sie waren noch alles, was er hatte in dieser großen, dunklen Stadt. Außer Martha drüben vom Waschsalon, die er manchmal besuchte, wenn er heimlich ihr Parfüm riechen wollte, um sich lebendig zu fühlen. Martha, die mindestens genauso alt war wie er selbst und wegen ihres schlimmen Rückens Morphium-Tabletten nehmen musste, und die er oft vor dem Salon stehen sah, rauchend. Den Blick hilflos zum Himmel gerichtet.
Und natürlich außer Nellie. Aber Nellie war keine Freundin. Sie war vielmehr wie ein Herzschlag. Manchmal stolpernd, manchmal rasend. Schon seit Anfang November hatte Frank überlegt, ob er diesen Heiligen Abend tatsächlich von Nellie erzählen sollte und davon, dass niemand vergessen ist auf dieser Welt.
Martha schlüpfte aus der Waschsalontür und zündete sich hastig eine Zigarette an. Rauchte viel zu hastig. Auch ihr hatte er von Nellie erzählt, aber natürlich nicht die ganze Geschichte. Nichts davon, dass er sie tatsächlich manches Mal spüren konnte. Tief im Bauch.
“Wir hoffen auf ein Leben, das wir immerzu suchen. Und nur manchmal finden. In den Herzen anderer, du weißt”, hatte einmal Leibrand zu ihm gesagt, als die ersten Herbststürme die Wolken nach Osten getrieben hatten, lange bevor Frank von Nellie zum ersten Mal gehört hatte. Wie eine Vorahnung hatte er es damals gesagt, denn einige Monate später war Leibrand tot. Und er fehlte, dieser merkwürdige Mann, der vielleicht alles verstanden hätte. Leibrand hatte immerzu von Brooklyn geträumt, von seinem ganz eigenen Amerika. Mit den dunklen Wegen und den hellen geheimnisvollen Orten. Mit den Träumen und den Fragmenten, den Skizzen des Lebens.
Frank drehte sich um und blickte auf das Bild, das Leibrand gemalt und ihm dann geschenkt hatte. Amerika-Plakate. Zu Weihnachten vor hundert Jahren. Am gleichen Tag war Leibrand inmitten des Ladens umgefallen, als hätte ihn jemand einfach umgestoßen. Und Herr im Himmel, Frank konnte sich noch sehr genau an das Gefühl erinnern, als er ihn dort ohnmächtig liegen sah. Er hatte damals an seinen Vater denken müssen, der auf den Bahngleisen gelegen war, aus der Dunkelheit herabgefallen, wartend auf den letzten Atemhauch. Oft hatte sich Frank gefragt, ob Leibrand davon gewusst, oder vielleicht auch nur gespürt hatte. Und dass das Bild in seinem Kopf gewesen war, einen vom Güterzug zerrissenen Vater in einer mondlosen Weihnachtsnacht. Von den Träumen, dass er selbst an seinem Tod schuld sei und sonst niemand. Davon, dass er es hätte spüren müssen.
Aber als Leibrand da gelegen hatte, mit geschlossenen Augen und weit ausgestreckten Armen, war irgendwie jede Schuld von Frank genommen worden. Gib mir Zuversicht, gib mir Hoffnung und Schutz vor dem Sturm. Worte, die Frank damals in seinem Bauch gehört hatte.
Er hob seine Hand und winkte Martha, die ihn bemerkte und auch winkte. Im fahlen Licht der Straßenlampe glaubte er zu sehen, dass sie lächelte, und für einen Moment wollte er hinüber gehen und sie in den Arm schließen. Für alle Zeit, für immer und ewig.
Aber noch bevor er einen Schritt wagen konnte, war sie wieder im Waschsalon verschwunden, und der Schnee verdeckte ihre Spuren.
Von einem Herzschlag zum anderen.

Kapitel 2
Das Treffen der traurigen Leute

1

Das Hinterzimmer war aufgeräumter als gewohnt, auf dem schmalen Tisch leere Aschenbecher und elf Flaschen billiger Wein, den Frank im Supermarkt gekauft hatte. Durch das schmale schmutzige Fenster konnte er in hell beleuchtete Wohnungen sehen, erblickte hohe Weihnachtsbäume und Wartende. Dort ein trauriges Kind, das die Nase platt drücke am Fensterglas. Eigentlich hatte er auch einen Baum besorgen wollen, es dann aber doch wieder vergessen. Seufzend zündete er zwei Kerzen an, die er noch unter der Theke gefunden hatte. Für alle Fälle, falls doch mal wieder der Strom ausfallen würde. Rauschend das Radiogerät, aus der Ferne dumpfe Kirchenglocken. Später dann würde er Essen besorgen, von einem der Läden einige Straßen weiter, die immer geöffnet hatten. Wie leere Herzen.
In solchen Momenten fragte sich Frank besonders, weshalb er nie eine Frau gefunden hatte. Eine Frau wie Martha vielleicht, mit der er zusammen die Tage hätte verbringen können. Mit Weihnachtsbaum und Geschenken, mit guten Träumen und guten Augenblicken. Vielleicht deshalb, weil so gut wie nie Frauen in seinen Laden kamen, nicht einmal für die Lottoscheine. Und wo hätte er auch Frauen kennenlernen sollen? Manchmal schlief er nach acht Uhr abends hier im Laden ein und träumte von seinem verlorenen Leben, zwischen Wellengang und Mondfinsternis. Weit offen die Ladentüre. Krähen, die in seinen Schuhen schliefen.
Dabei hatte er früher vorgehabt, wegzugehen. Früher, weit vor Vaters Tod. Jeder Weg noch offen und hell beleuchtet, nichts verwinkelt und verborgen. Wenngleich er sich auch nur noch fahrig erinnern konnte, weshalb, waren die Gedanken daran warm und gütig. Letztendlich war er aber nie weiter gekommen als bis zu dem kleinen Laden mit der schiefen Tür, deren Schloss in den Wintermonaten zufror. Mit dem abgetretenen Linoleum und den nikotingelben Wänden. Mit der verlassenen Wohnung darüber, den tausend Zimmern und den tausend Gespenstern. Den Gerüchen einer anderen Zeit und den Schattenverwischungen von Kindheitstagen.
Eigentlich war Frank nie gerne in der Wohnung gewesen, hatte dort immer schlecht geträumt. Selbst wenn er nicht geschlafen hatte. Als würden die toten Ungeziefer unter den Tapeten mit ihm sprechen und von den Alpträumen des Lebens erzählen. Von der Einsamkeit, dunkelgraue Episoden. Vielleicht waren sie deshalb auch immer ein wenig länger geblieben, seine Freunde. Weil sie es gespürt hatten, zwischen zwei Zigarettenzügen.
Warum in aller Welt hatte er auch nie Martha gefragt, nie zu einem Kaffee eingeladen? Natürlich hatte er es immer wieder mal vorgehabt, es dann aber doch nicht getan.
“Frohe Weihnachten”, sagte plötzlich eine Stimme, und Frank erschrak.
“Herr im Himmel. Willst du, dass ich zu Weihnachten einen Herzinfarkt bekomme?”
“Der Herr ist dein Hirte”, sagte Abraham leise, hustete und lachte unbeholfen. Dabei rutschten seine falschen Zähne klackernd ein wenig nach vorne. Er schob sie wieder zurück. Abraham war schon in den Laden gekommen, als Franks Vater noch gelebt hatte. Jeden Tag zwei Päckchen Roth-Händle. Eine davon glomm zwischen seinen Fingern.
In vielen Leuten steckt ein wenig Leibrand, dachte sich Frank, als er Abraham ansah. Die Hose alt und schmutzig, der Mantel abgestoßen. Eingetrockneter Vogeldreck auf dem uralten Hut.
“Diese verfluchten Menschen”, sagte Abraham ohne Umschweife, als er sich setzte.
“Ja”, sagte Frank, goss ihm Wein in ein Glas.
“Ausgelacht haben sie mich. Stell dir das mal vor. Nur weil ich mit den Mäusen geredet habe. Als ich noch die Straßen gekehrt habe, habe ich immer mit den Mäusen geredet. Mit den Menschen kann man ja nicht reden. Kommt ja doch nur Unsinn dabei raus.”

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“Trink ein wenig”, sagte Frank und füllte erneut Wein in das Glas.
Wir brauchen traurige Menschen. Auch das dachte sich Frank gerade. Denn alleine in der Traurigkeit steckte jene Hoffnung, die das Leben offenbarte.
“Alles wird gut”, flüsterte Frank, obwohl er selbst nicht mehr so recht daran glaubte. Manchmal sah er Abraham durch die Straßen gehen, wankend als wäre er betrunken. Aber es war nicht der Schnaps, der seine Schritte unsicher machte, sondern alleine das verzweifelte Leben. Von Ost nach West, wenn man nicht weiß, wer oder was man ist. Lieder von Kurt Weill brummend, manchmal den Blick ungläubig zum Himmel gerichtet. Fünfzig Jahre lang die Straßen der Stadt gekehrt, so hatte Abraham immer mehr verloren und zum Schluss sich selbst. Wie eine Uhr oder ein Portemonnaie, für alle Zeit verloren.
Der alte Mann schniefte und wischte sich die Nase mit dem Mantelärmel sauber, hustete lange.
“Weine wie ein kleines Kind. Sollte mich was schämen. Und das zu Weihnachten.” Die falschen Zähne klackten laut aufeinander.
Vielleicht sollten sich ganz andere Leute schämen, dachte sich Frank, aber sprach es nicht aus, sondern strich stattdessen über Abrahams Kopf. Vor vier, fünf Jahren war Abrahams Frau an einem Schlaganfall gestorben, daran konnte sich Frank noch gut erinnern. Sie hatte tot im Bett neben Abraham gelegen. Auch daran, dass er danach versucht hatte, sich einfach tot zu rauchen. Sieben Schachteln Zigaretten am Tag, aber außer einer schweren Bronchitis war überhaupt nichts geschehen.
Draußen ratterte die Straßenbahn vorbei, Funken stoben empor. Ein Mann mit Hund auf dem Schoß saß im hinteren Abteil und schlief. Seine Träume waren hell und dunkel zugleich.
Während der Hund über das Gesicht des Schlafenden leckte, als wolle er ihn aus einem hundertjährigen Traum erwecken, begann es bereits heftiger zu schneien.

2

Eine halbe Stunde später waren sie alle angekommen. Zuletzt Paul, dem sie vor einem Jahr das Bein amputiert hatten, und der deshalb immer viel zu spät kam. Und weil er oft Schmerzen hatte, vor allem an den kalten Tagen, saß Paul dicht neben dem knackenden Gasofen in dem abgewetzten Stuhl, den Frank auf dem Sperrmüll gefunden hatte, und rieb sich die Hände.
Dann waren da noch Bloch und Blumenstein. Und natürlich Anna, die ja gar nicht selbst rauchte. Ihr Mann hatte geraucht, wie ein Schlot sogar. Frank konnte sich nur fahrig an ihren Mann erinnern, denn er war bereits seit über zwanzig Jahren tot. Dennoch kam Anna einmal in der Woche in den Tabakladen, um Zigaretten für ihren Mann zu kaufen. Immer eine Stange Camel und zwei Lotterie-Lose. Eines für sich, eines für ihren Mann. Der nie viel von Lotterie-Losen gehalten hatte.
Immer schon hatte Frank sie danach fragen wollen, was sie mit den Zigaretten-Stangen machte, aber jedes Mal kam ihm die Frage falsch vor. Als würde er danach fragen, weshalb die Leute auf den Friedhof gingen, wenn sie ja doch mit niemanden sprechen konnten.
“Soll ich das Fenster aufmachen, Anna? Frische Luft?” fragte Frank und schaltete die Kaffeemaschine ein. Später würden sie reichlich davon brauchen können, weit nach Mitternacht.
“Dann hole ich mir womöglich den Tod”, sagte Anna, schüttelte den Kopf und trank Schnaps aus einem Flachmann. Sie prostete dem lieben Gott zu, weil der liebe Gott manchmal mit ihr einen trank. Am Stehausschank, im Hautbahnhof.
Bloch zündete die Zigarette von Blumenstein an, und Blumenstein die Zigarette von Bloch. Rauchkringel stiegen zur Decke empor, Bloch kicherte.
“Also? Wer hat einen neuen Roman?” fragte Paul leise, nippte am billigen Wein und rieb seinen Beinstumpf.
Frank setzte sich neben Anna und fragte sich, wie das alles nur hatte passieren können. Wie all die Geschichten in ihre Köpfe gekommen waren. Zuerst in den Bauch und dann in ihre Köpfe. Obwohl er es ahnte, vielleicht sogar wusste. Gib den traurigen Menschen eine Geschichte, damit sie nicht umsonst weinen. Hatte das nicht Leibrand gesagt, oder hatte sich das Frank nur eingebildet. Auf jeden Fall hätte es Leibrand sagen können, soviel stand fest.

Ja, gib den traurigen Menschen eine Geschichte.
Und Beine zum Tanzen.
Von Ost nach West, taumelnd.
Bis der Schnee aufhört
vom Himmel zu fallen.

Frank selbst hatte sich vor Leibrand nie für Geschichten interessiert, hatte kaum Bücher gelesen. Aber dann war dieser merkwürdige Leibrand in seinen Laden gekommen, und alles war danach anders gewesen. Als hätte dieser Leibrand all die Geschichten in sie hineingeträumt. Im Hinterzimmer rauchend Bloch und Blumenstein, Anna mit ihrem Flachmann und Paul noch mit zwei Beinen. Die allesamt den Tag nicht mochten und deshalb warteten, bis der Abend kommen würde. Und mit dem Abend die Dämmerung, in deren Schattengeäst man sich auf den Weg nach Hause machen konnte. Zu den hungrigen Traumgestalten, die von einem Leben erzählten, das nie erreicht wurde.
“Ich habe zwei neue Romane und sieben Kurzgeschichten”, sagte Bloch und rieb sich die Nase. Früher einmal war er Lokführer gewesen, ein halbes Leben lang. Heute, mit weit über sechzig Jahren, saß er in einer der billigen Dachwohnungen am Ausläufer der Stadt, mit dem Rattengetrippel im Gebälk. Gerade noch Geld genug, um sich Zigaretten zu kaufen und billigen Schnaps. Denn wenn nichts mehr bleibt, dann folgt man den Rauchschwaden zum Himmel. Aus Alkohol, der fast schon blind macht, gemalt die Flügel, um die Wolken zu erreichen.
“Drei Mäuse-Bücher, jawohl. Drei Mäuse-Bücher”. Abraham schniefte, zog aus seiner Hose ein altes Taschentuch und schnäuzte laut.

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“Dafür habe ich sieben Romane geschrieben”, sagte Blumenstein, und Bloch kicherte abermals, weil er Blumenstein sehr bewunderte. Blumenstein schrieb Bücher, die so eigenartig waren, dass man sie kaum lesen konnte und doch lesen musste, sobald man damit angefangen hatte.
“Um Himmels willen, sieben Romane?” fragte Bloch und ließ dabei Asche auf den Boden fallen.
“Eigentlich wären es mehr geworden, hab mir aber Zeit gelassen. Truman Capote hat es auch so gemacht, hab ich mal gelesen. Hat sich auch Zeit gelassen.”
“Natürlich. Salinger ja auch.”, sagte Bloch und hustete heiser. Vermutlich hätte er auch sieben Romane, wenn nicht sogar mehr, geschafft. Aber in den Sommermonaten war er obdachlos gewesen, weil er seine Arbeit als Hausmeister verloren hatte. Gott sei Dank hatte ihm sein Freund Harvey einen Job als Aushilfsbriefträger beschafft und sogar eine neue Schreibmaschine geschenkt.
“Hat jemand was verkauft?” fragte Anna und trank einen weiteren Schluck Schnaps. Anna schrieb jeden Tag ein neues Gedicht für ihren toten Mann, das wussten sie alle.
“Was für ein Witz”, lachte Blumenstein, zündete sich am Zigarettenstummel eine frische Zigarette an und zog seine Mütze vom Kopf. Abraham weinte wieder ein wenig.
“Ich hab eine Geschichte eingetauscht gegen warme Socken. Halten bei mir ja länger, die Socken”, sagte Paul und legte das hoch genähte Hosenbein über das Knie.
“Ist eine schlechte Zeit für merkwürdige Bücher. Das denke ich mir oft”, sagte Anna ohne aufzusehen. Sie blickte häufig zu Boden. Oder hinauf zum Himmel.
Frank zündete sich eine Zigarette an und dachte nach. Wann das alles begonnen hatte. Früher schon hatten sie sich am Weihnachtsabend hier getroffen. Getrunken und geraucht und von den Dingen erzählt, die weder wahr noch gelogen waren. Vielmehr einer eigenen, tieferen Wahrheit inne. Eigentlich nur, um nicht alleine zu sein, während hinter all den anderen Fenstern sich Menschen umarmten und miteinander glücklich waren. Aber nachdem Leibrand gefallen war, hatte sich alles irgendwie verändert. Nicht sofort, vielmehr langsam, zögerlich. Bis an einem Weihnachtsabend vor vielen Jahren Blumenberg gesagt hatte: “Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe einen Roman geschrieben. Ich weiß auch nicht warum, aber es ist so. Soll ich etwas vorlesen?”
Was war danach geschehen? Frank versuchte sich zu erinnern, aber die Bilder waren verschwommen. Unklar. Nur so viel wusste er heute noch: Aus ihnen allen war mehr geworden, als sie jemals gewesen waren. Jedes Wort aus Blumenbergs Mund hatte den Himmel näher gebracht. Hatte den alten Schmutz von den Wänden des Hinterzimmers verschwinden und das Licht der Neonröhre glänzen lassen. Aus den Hoffnungslosen waren traurige Leute geworden. Von einem Atemzug zum anderen.
“Ein Schneesturm. Da. Gut, dass wir einen Platz haben”, sagte Bloch in die Stille hinein und Anna nickte, ohne hinauszusehen.
Fahl das Licht der Straßenlampen, gebrochene Schatten auf dem Weiß der Straßen. Ein zitternder Hund, der kurz vor dem Laden stehen blieb und nach den wilden Flocken schnappte, bevor er im Schneetreiben verschwand.
“Wer will heute eine Geschichte erzählen?” fragte Paul und schloss seine Augen.
“Ich denke, es ist Zeit, euch von Nellie zu erzählen. Ja, das denke ich”, flüsterte Frank, zündete sich eine Zigarette an, blies den ersten Rauch zur Decke empor und begann mit ein wenig Zittern ums Herz herum mit seiner Geschichte.

Während sich Kinder hinter Weihnachtsbäumen versteckten.
Während sich zwei Liebende auf der Straßenseite gegenüber fest umschlangen, um nicht hinzufallen.
Und natürlich während der Wolfsmann in den Hinterhöfen lauerte, weil jemand zu viel an das Sterben dachte und nicht an das Leben.

Kapitel 3
Nellie

1

Es fing an, nachdem Leibrand aus dem Fenster gefallen war. Damals, aus dem Fenster des Krankenhauses, inmitten einer Winternacht. Die Lungen voller Krebs, der Kopf voller Träume.
Jeder Mensch fehlt. Und Leibrand fehlte Frank sehr. Vielleicht gerade deshalb, weil er ihn nicht besonders gut gekannt, sondern vielmehr gefühlt hatte.
Einige Wochen nach Neujahr, als es noch einmal so richtig geschneit hatte, war er schließlich hinunter gegangen zu jenem Krankenhaus mit den großen Fenstern und den schiefen Dächern. Obwohl er nicht gewusst hatte, was er dort suchte. Oder gar finden wollte. Mit den Gesprächen und den eigenen kleinen Wahrheiten, die man hören konnte, hatte es begonnen. Vor dem Krankenhaus, bei den Wartenden und den stillen Hoffnungslosen. Die mit Zigaretten zwischen den Fingern schlaflos die Kälte nicht mehr spürten. Auch Obdachlose, die sich zu ihnen gesellten wie streunende Katzen und über die eigenen Krankheiten jammerten. Von offenen Beinen und offenen Seelen. Von kaputten Herzen, die kein Katheter mehr reparieren konnte. Nicht einmal der beste Chirurg der Welt.
So war Frank im ersten Jahr dort draußen im Schein der fahlen Außenbeleuchtung dem sterbenden Beckett begegnet, der nie schlafen konnte wegen der schlechten Matratzen und den schlechten Träumen. Dem er schon am zweiten Tag Zigaretten mitgebracht hatte, weil er Stummel rauchte, die er in seinen Hosentaschen versteckt hatte, aus Angst vor den Schwestern. Lange Stunden bevor Frank den Tabakladen aufsperrte, suchte er diesen Ort auf, der eigentlich so hässlich war wie kein anderer, und doch auf eine magische Art und Weise schön.
“Es gibt überall Menschen, die tatsächlich unsichtbar sind. Wir haben sie unsichtbar gemacht”, hatte Beckett plötzlich gesagt und auf all die Rauchenden gezeigt. Dabei die Hose hochgezogen, die an ausgeleierten Trägern hing.
“Aber glaub ja nicht, dass sie nicht alle ein Geheimnis haben. Ein Geheimnis, dass es wert ist, daran zu glauben. Ja?”
Frank hatte genickt, wenngleich er es nicht verstanden hatte.
“Wir liegen alle da drinnen in den Betten und erfahren Dinge, die wir nicht wissen wollen. Dass wir sterben oder eigentlich schon tot sind. Und dann geschieht etwas. Soll ich es dir verraten?” hatte Beckett gefragt und Frank hatte genickt. Während der Schnee gefallen war und ihre Fußspuren überdeckt hatte, als wären sie niemals hier gewesen.
“Dann denkt man plötzlich an Dinge, die man längst vergessen hat. Keine großen Sachen.”
“An was hast du gedacht?” hatte Frank gefragt und zu Beckett geblickt.
“Ich? Ich dachte an meinen Elefanten. Auf einem Elefanten zu reiten. Das wollte ich immer schon. Als Kind war das mein guter Gedanke beim Einschlafen, das Gute-Nacht-Gebet. Auf einem riesigen Elefanten zu sitzen, um den Himmel anzufassen. Das funktioniert nur auf einem Elefanten, glaube es mir. Das habe ich wohl verpasst.”
Dann hatte Beckett gelacht, mit schiefen Zähnen und asthmatischen Atemzügen. Drei Tage später war Beckett gestorben. Herzstillstand, mitten in der Nacht, wie Frank von einem anderen Patienten erfahren hatte.
Dieses erste Geheimnis der unsichtbaren Menschen ließ Frank nicht mehr los, und lange Zeit wusste er nicht so recht, was er tun sollte. Der Winter ging und auch der Frühling. Mit der Schneeschmelze veränderten sich die Menschen vor dem Krankenhaus, und Frank ging nicht mehr dorthin, weil sie stumm wurden und auf den Sommer hofften. Und auf ein neues Leben.
Aber trotzdem dachte er jeden Tag an Beckett und seinen geträumten Elefanten, fragte sich, wie es wohl sei mit Wünschen, die nie in Erfüllung gingen. Nicht einmal über den Tod hinaus. Aber dann geschah an einem Augusttag etwas Merkwürdiges. Eine Parade zog plötzlich die Straße entlang, er konnte sie schon von Weitem hören. Das Geklapper und den Marktschreier, das Wiehern und die verbeulten Trompeten. Die Tür des Ladens weit offen, rannte Frank hinaus und sah einen traurigen Aufmarsch. Erschöpfte Pferde und zwei Clowns mit schiefen Nasen, ein dickbäuchiger Dompteur mit staubigem Zylinder auf dem Kopf. Ein kläffender Pudel, zwei längst müde gewordene Kamele. Die betrunkene Schönheit auf dem Zirkuswagen rief: “Nur heute in der Stadt, nur heute in der Stadt. Die pure Magie!” Seifenblasen, die zum Himmel stiegen und zu schnell zerplatzten. Aber auch ein Elefant, der mindestens schon zweihundert Jahre alt war und immer stehen blieb, als wolle er es nicht glauben, wohin die Reise geführt hatte.
Frank dachte nicht allzu lange nach, holte alles Geld aus der Kasse und lief der betrunkenen Schönheit nach. Durch Konfetti-Wolken und den schiefen Tönen des Trauermarsches, bezahlte ein Vermögen und fiel zweimal herunter, bevor Frank laut lachte und leise weinte.
Und ritt auf dem Elefanten, um den Himmel anzufassen. Nur einen Augenblick, aber lange genug, um herauszufinden, dass es gelingen konnte.
Und er dachte an Beckett mit den schiefen Zähnen.
Und er dachte an Leibrand.
Und schließlich an alle, die er längst vergessen hatte.

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2

“Du bist auf einem Elefanten geritten?” fragte Abraham und öffnete eine weitere Flasche Wein. Dichte Rauchschwaden hingen nahe der Zimmerdecke, und der Gasofen tuckerte leise. Die Lucky-Strikes-Neonwerbung im Laden flackerte und surrte.
“Ja, das bin ich tatsächlich. Zwar kein riesiger Elefant, aber immerhin. Ich denke, Beckett hätte es gefallen.”

“Ich bin mir sicher, dass es ihm gefallen hätte”, sagte Anna und klopfte an Franks Schulter. Sie trank den Flachmann leer und seufzte, weil sie zuviel getrunken hatte. Ihrem Mann gefiel gar nicht, wenn sie zuviel trank.
“Also ich hätte mich das nicht getraut”, sagte Bloch, und Blumenstein nickte.
“Frank ist ein mutiger Mann. Ja, das bist du”, sagte Anna und lächelte. Ihre Augen wässrig und hell. Sie strich über Franks Wangen, und er roch ihren Atem und den Schnaps. Roch ihr nahes Sterben.
“Aber du wolltest von Nellie erzählen, nicht wahr?” Bloch stand auf, ging in den Laden und holte sich aus dem großen Glas ein Briefchen Gratis-Streichhölzer. Eigentlich hatte Frank noch die Weihnachtsgirlanden aufhängen wollen, aber es genauso vergessen wie den Baum. Er sah nach draußen und betrachtete die Welt, die still geworden war. Still und langsam. Hell erleuchtet die Fenster, einzig und alleine ein Zeitungsverkäufer, der sich verlaufen hatte.
“Ja, Nellie. Natürlich, Nellie.”
Und so erzählte er weiter.

3

Zwei Winter später begegnete Frank um vier Uhr morgens vor dem Krankenhaus Jonas aus dem Walfischbauch. Jedenfalls nannte sich der Mann so. Jener Mann mit dem riesigen Bauch und dem schmalen Gesicht, den wenigen Haaren auf dem Kopf und den zittrigen Händen.
“Mich hat der Wal zu spät ausgespuckt. Zu spät, zu spät, zu spät!”
“Ja?” Frank gab ihm eine Zigarette. Jonas versuchte sie anzuzünden, was ihm nicht gelang. Er fluchte leise.
“Manchmal ist es zu spät. So ist das Leben. Manchmal hat man Glück, und manchmal entwischt einem das Glück. Hier.” Jonas aus dem Walfischbauch zog aus seiner schmutzigen Jacke eine Fotografie. Frank sah sich das Bild an, eine junge Frau mit dunklen langen Haaren und einer kleinen Narbe auf der Stirn. Die junge Frau lächelte.

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“Das ist Nellie. Meine Nellie.”
“Was ist passiert? Wegen der Narbe?” Frank hatte gar nicht fragen wollen, aber doch waren ihm die Worte entwischt, als er die Fotografie in die Hände nahm.
“Mit sieben Jahren ist sie vom Kirschbaum im Garten gefallen. Sie wollte hinauf, um die Wolken anzufassen. Was hat sie geschrien. Und was hatten wir Angst um sie. Angst um Kinder ist das Schlimmste, was es gibt.”
“Sie hat es überstanden”, flüsterte Frank und lächelte. Weiße Atemwolken über ihren Köpfen.
“Drei Jahre später ist ihre Mutter gestorben. Meine Frau. Ein Unfall, ich bin gefahren. Sie war nüchtern, weil sie nie etwas getrunken hat. Ich war nicht nüchtern, natürlich nicht. Ich weiß bis heute nicht ganz genau, was passiert ist. Als ich aufgewacht bin, lag sie da im Maisfeld. Neben dem Auto. Ihre Augen ganz weit offen und die Haare ganz voller Blut, als hätte sie sich heimlich die Haare gefärbt. Ganz schief der Kopf. Mein Gott, so hässlich schief. Außer blauen Flecken ist mir damals gar nichts passiert. Aber dann schon. Dann kam der Wal und verschluckte mich. Ganz tief hinein in den stinkenden Bauch mit den klirrenden Flaschen. Immer nur Schnaps, den ganzen Tag. Und Matrosenlieder, ganz leise. Piraten, die auf dem Wal getanzt haben.”
“Was ist mit Nellie geschehen?”
“Ich weiß es nicht”, sagte Jonas und schüttelte den Kopf. Zog an der Zigarette, hustete, wischte sich über den Mund. Frank sah hinunter und sah den Katheter-Beutel an seiner Hose hängen.
“Du weißt es nicht?” Frank schlug den Mantelkragen hoch und wischte sich den Schnee vom Gesicht.
“Sie ist verschwunden. Das Amt hat sie abgeholt, und sie ist einfach verschwunden. Das ist alles, was ich weiß. Nellie. Weiß ja nicht einmal, wie lange das nun alles schon her ist. Hat es bestimmt besser gehabt, sonst hätte sie vielleicht auch der Wal verschluckt.”
“Ja, vielleicht.”
“Im Walfischbauch sind auch die Ungeheuer. Die eigenen. Im Schatten warten sie auf einen. Warten solange, bis man schläft. Hast du noch eine Zigarette?”

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Frank gab ihm das angerissene Päckchen, und Jonas nickte. Frank fragte sich, wie lange der Mann noch zu Leben hatte. Wie viele Atemzüge noch in ihm waren, und was ein Leben überhaupt war. Einige Straßen weiter hörten sie einen Krankenwagen die Stille des frühen Morgens durchbrechen. Jemand lachte, jemand hustete. Zwei Männer in dreckigen Morgenmänteln und nassen Schuhen schüttelten den frischen Schnee von dem Weihnachtsbaum neben der Krankenhaustür, weil sie nichts Besseres zu tun hatten.
“Und dann, vor ein paar Tagen kam ein Brief von Nellie. Mit dem Bild. Weihnachten macht die Menschen anders, das glaube ich. Vielleicht hat sie wieder einmal an mich gedacht. Einfach so. An ihren kaputten Vater.” Er lachte, die Zigarette fiel aus seinem Mund in den Schnee, ohne dass er es bemerkte.
“Sie will mich besuchen, hat sie geschrieben. Und ob es mir gut geht. Und dass wir vielleicht Silvester zusammen verbringen könnten. Ja, das hat sie geschrieben. Kann man sich das vorstellen? Auf ein ganz neues Jahr.”
Der Krankenwagen schlitterte die Auffahrt hoch und kam zum Stehen. Türen wurden aufgerissen, die zwei Männer in den Morgenmänteln verschwanden im Tumult. Aus dem Krankenhaus lief ein Arzt, der seinen Schuh verloren hatte. Das Maul des Krankenwagens öffnete sich. Auf der Liege ein Junge mit tausend Schläuchen und schneeweißer Haut. Jemand schrie laut.
Der Junge ist keine zehn Jahre alt und der Junge ist tot, dachte sich Frank und fror plötzlich, ganz tief drinnen.
Menschen über dem Jungen. Beatmungsbeutel, das Zischen des Sauerstoffes. Blut, das in eine Infusionsflasche zurücklief. Die Liege, die zu Boden krachte und zitternde Hände, die auf den Brustkorb des Jungen drückten. Immer und immer wieder. Spritzen, Ampullen und noch mehr Schläuche. Zersplittertes Glas am Boden. Atemwolken über allen Gesichtern, aus allen Mündern. Nur nicht aus dem Mund des Jungen, der mit offenen Augen zum Himmel starrte, als würde er alles sehen können.
“Jonas?” Frank sah sich um, doch Jonas war verschwunden.
Alles verlangsamte sich, jede Bewegung. Jeder Schneefall. Und schließlich hörte alles auf, wie das Leben des Jungen.

4

“Hast du ihn je wiedergesehen? Jonas aus dem Walfischbauch?” fragte Bloch und holte sich als Erster eine Tasse Kaffee. Frank sah hoch zur Uhr, die über der Tür hing. Nicht mehr lange und es würde Mitternacht sein. Er schüttelte den Kopf.
“Aber du hast nach ihm gesucht, so ist es doch?” fragte Abraham und knüllte das leere Zigaretten-Päckchen zusammen. Schob es in seine Hosentasche.
“Ich ging die nächsten Tage zum Krankenhaus, ja. Habe auf ihn gewartet. Eine Weile habe ich mir überlegt, nach ihm zu fragen. Aber das kam mir irgendwie falsch vor.”
“Weil er vielleicht wieder in dem Walfischbauch ist” sagte Anna und holte sich auch einen Kaffee. Suchte Milch und Zucker, fand aber beides nicht. Am Türrahmen blieb sie kurz stehen und betrachtete die Welt da draußen. Mit den Schneeverwehungen und den Windböen. Mit den Hoffnungen und den Traurigkeiten, die zum Himmel stoben.
“Ja. Weil ihn vielleicht der Wal dieses Mal ganz gefressen hat. Oder die Ungeheuer in dem Wal, wer weiß das schon”, sagte Frank und lächelte unbeholfen. Ein Streichholz flammte auf.

5

Jonas war verschwunden und verschluckt. Alles, was Frank geblieben war, waren seine Worte und die Fotografie von Nellie. Der schönen jungen Frau mit der Narbe auf der Stirn. Die Nächte durchzogen von eigenartigen blauen Träumen, dass etwas nicht erfüllt worden war; eine Hoffnung. Warum hatte der eigenartige kranke Mann das Bild nicht wieder an sich genommen? Frank dachte lange Zeit darüber nach, immer wieder. Vielleicht, weil man im Angesicht des Sterbens manchmal bis auf den Grund einer Seele sehen kann und er Frank vertraut hatte, das Richtige zu tun.
Und vielleicht lag es an der früheren Begegnung mit Leibrand, dass Frank sich entschloss, sich tatsächlich auf die Suche zu machen. Das Leben zu verändern, die dunklen Wege auszuleuchten. Endlich.
Wir alle hoffen auf ein gutes Leben, dachte sich Frank, und so war es auch. In seinen losen Träumen stellte sich Frank vor, dass Nellie sich ebenso auf die Suche machte. Nach dem Walfisch und den Gesängen, nach ihrem Vater und seinen Geschichten, die sie nie gehört hatte. Und dann hatte Frank schließlich doch noch eine Idee, die gut genug war, um ein Schicksal zu wenden.
Zwei Tage vor Silvester wurde Frank irgendwie zu Jonas aus dem Walfischbauch. Es geschah plötzlich, von einem Augenblick zum anderen. Er ging nach oben und zog sich einen Mantel seines Vaters an, der ihm viel zu groß war. Dann noch eine seiner Mützen, die er manchmal aufgezogen hatte als Kind, um sich erwachsen zu fühlen. Und er fühlte sich anders.
“Wir sind das, für was wir uns halten”, sagte er zu sich und ging die Straße hinunter zu dem Fotografen, der manchmal in den Tabakladen kam, um sich frische Zigarillos zu kaufen. Siebenundvierzig Abzüge der Fotografie wie siebenundvierzig Herzschläge, tief versteckt. Fürs Erste eine gute Zahl. Wankte davon und lauschte den Piratengesängen aus den Hinterhöfen, die man tatsächlich hören konnte, wenn man mit den richtigen Ohren zuhörte. Verschwand in Bars und dunklen Wirtstuben. Erzählte von einem guten Leben und wunderschönen Geschichten. Von der großen Sehnsucht nach einer Tochter. Nach Nellie.
“Ich kann ihnen erzählen, woher die Narbe kommt”. So fing Frank meistens an, und dann erzählte er von dem Kirschbaum und verwebte das geheime Leben von Jonas aus dem Walfischbauch mit der Wahrheit. Phrasierte von seinen unglaublichen Reisen, von seinen Erlebnissen in Brooklyn, Paris und Alaska. Dort überall hatte er Nellie gesucht, natürlich, und sie immer wieder verpasst. Hatte sie jeden Herzschlag lang vermisst. Träumte sich das Leben des fremden kranken Mannes auf dem Krankenhausvorplatz zurecht. Der Liebe wegen. Weit über den Tod hinaus.
Erzählte von den vielen Briefen, die er nie abgeschickt hatte, weil kein Wort das alles erklären hätte können. Von den vielen Büchern, die er für seine Tochter geschrieben hatte. Geschichten über Mäuse. Geschichten, die so schön waren, dass man sie lesen musste. Auch Gedichte, natürlich auch Gedichte. Nur für Nellie, ein ganzes Leben lang nur für Nellie. Die nicht da gewesen war und er nicht bei ihr.
So lange, bis Frank die Walfischgesänge hören konnte und er an seinen Vater denken musste, der bestimmt auch ein anderes Leben hinter dem eigentlichen Leben gehabt hatte. Eines, das nie erreicht worden war, so sehr sich sein Vater auch angestrengt hatte. Musste an den Jungen denken, der aus dem Maul des Krankenwagens gefallen war und zu einem Engel wurde, noch bevor er sich zum ersten Mal in seinem Leben hatte verlieben können.
Und so geschah es, dass Nellies Bild in Bars hing, in den kleinen Läden der Seitenstraßen, in Wirtstuben, in zahlreichen Buchläden und in U-Bahnhöfen. Sogar in zwei Kirchen, gleich neben Jesus Christus. Allein nur, weil die Menschen so angetan waren, von der Liebe und dem Begehren, dem Unausgesprochenen eine Stimme zu geben. Der Vermissten ein Gesicht zu geben und dem Suchenden eine Geschichte.
Eines Tages würde Nellie sicher an den richtigen Ort kommen und jemand würde sich an die Gespräche erinnern. Würde erzählen von dem Mann in einem viel zu großen Mantel und einer albernen Mütze, der sie gesucht hatte. Von ihr gesprochen hatte.
“Ja, Jonas hat der fremde Mann geheißen. Jetzt wo Sie es sagen. Die Narbe. Sie sind von einem Kirschbaum gefallen, nicht wahr?”, würde dieser Jemand sagen und dann beginnen zu berichten. Von dem geheimen Leben und den Träumen. Nellie würde vielleicht glücklich sein können, entschwindend das Bild ihres betrunkenen, nutzlosen Vaters. Weil in jedem Menschen etwas steckt, das wir nicht zu sehen vermögen. Tief im Bauch verborgen, wie einst Jonas im Walfischbauch.

Jemand wartet auf dich.
Vielleicht sogar ein Leben lang,
nie erfüllter Kuss.
Herr, sei uns gnädig,
damit wir nicht vergessen sind.
Schick uns einen Traum,
so himmelblau wie der Himmel
in einer guten Zeit.

Kapitel 4
Im Schneesturm tanzen die Gespenster

1

“Du verteilst die Fotografien immer noch, habe ich recht? Und mit dem Bild die Geschichten, die von ihr handeln”, fragte Blumenstein, schaltete die Kaffeemaschine aus und goss sich den bitter gewordenen Rest in ein Glas. Dean Martin sang von Wintertagen aus dem Radiogerät.
Frank nickte. “Ja, immer an den letzten Tagen des Jahres. Ich bin es ihm schuldig, irgendwie. Und Nellie auch.”
“Hast du sie jemals gesehen?” Paul zog aus seiner Hosentasche einige Schmerztabletten, legte sie auf die Zunge und schluckte sie hinunter.
“Das ist eine merkwürdige Sache, müsst ihr wissen. Manchmal nämlich glaube ich sie zu sehen. Oder möchte ich es glauben. Damit nichts umsonst ist. Manchmal sehe ich Nellie die Straße hinunter gehen oder auf den nächsten Bus warten. Ich schwöre, sie könnte es sein. Mit der Narbe auf der Stirn und den wunderschönen Haaren. Und sie lächelt. Lächelt so, als hätte sie gerade etwas Wundervolles gehört. Etwas, das sie vermisst hatte. Jedenfalls wünsche ich es mir, dass es so sei. Vielleicht ist es auch gar nicht Nellie, die ich sehe.”
“Aber vielleicht ist sie es doch”, sagte Anna, lächelte und dachte an ihren Mann. Den sie ja in manchen Nächten hören konnte. Draußen in der kleinen kalten Küche. Wenn er sich einen späten Kaffee kochte, weil er nicht schlafen konnte.
“Ja, vielleicht”, flüsterte Frank und dachte an den Stapel der Fotografien, die im Laden in einem Karton neben den Zigarettenstangen lagen.
“Vielleicht hat das alles Leibrand gewusst. Und wir schreiben deshalb Geschichten, die niemand verstehen kann. Außer wir. Und vielleicht außer Nellie. Das würde ich ihm zutrauen.” Abraham strich den Aschenbecher glatt und blickte in das leere Glas und sah ein Meer mit Möwen am Himmel. Dieses Mal weinte er nicht.
“Und das wäre doch schön”, sagte Bloch, lächelte.
“Ja. Nellie. Was für ein wunderbarer Name. Erzählst du uns von ihr? Nicht über sie, sondern von ihr? Du weißt doch alles” fragte Blumenstein, der sein altes Notizbuch herausgezogen hatte.
“Wir haben immer für sie geschrieben, nicht wahr? Für immer und vielleicht für alle Zeit”, flüsterte Paul und dachte an Leibrand. Der immer für das Leben und die Liebe gefallen war.
“Ich kann ja auch mal Gedichte nur für Nellie schreiben. Das würde mein Mann verstehen.”

2

Frank drehte sich noch einmal um, als er die Ladentüre schloss, um sich auf den Weg zu dem chinesischen Imbiss zu machen. Es war weit nach Mitternacht und die einzige Möglichkeit noch etwas zu Essen zu bekommen. In seinen Hosentaschen zählte er die Münzen und schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Ganz leise konnte er die Stimmen seiner Freunde noch hören, so leise wie das Walfischsingen aus den fernen Straßen. Eiskalt die Luft, atmete er sie tief ein. Der Schneesturm hatte nachgelassen, die letzte Straßenbahn kroch langsam über die Kreuzung. Windböen bliesen Schneegestalten nach Osten. Losgerissene Weihnachtsgirlanden lagen wie schlafende Schlangen auf der Straße.
Sie würden zusammen essen, frischen Kaffee brühen und vielleicht würde er etwas von Nellie erzählen. Etwas Erträumtes, helle Episoden. Plötzlich glaubte Frank seinen Namen gehört zu haben, ganz leise, aber er hatte sich getäuscht. Blickte trotzdem hinüber zu dem Waschsalon, bei dem auch immer noch Licht brannte. Martha, die vielleicht wegen der Morphium-Tabletten eingeschlafen war. Aber dann öffnete sich die Tür, und er sah Martha. Noch bevor er nachdenken konnte, überquerte er die Straße, schlitterte über die Schneeverwehungen und fiel beinahe hin. Kaum in ihrer Nähe, roch er ihr Parfüm, und er musste lächeln.
“Frohe Weihnachten, Martha.” Den Lippenstift zittrig aufgetragen, lächelte auch sie.
“Frohe Weihnachten, Frank. Auch dir.” Sie zog aus ihrer Schürzentasche eine Zigarette, zündete sie an. Der Schnee machte ihre Haare weiß und nass. Sie lächelte.
“Du hast noch Kundschaft?” fragte Frank und blickte an ihr vorbei. Im Laden eine Frau mit unglaublich roten Haaren. Die rötesten Haare, die er jemals in seinem Leben gesehen hatte. Wie Feuer.
“Ja. Jedes Jahr am Weihnachtstag. Immer sie. Immer das gleiche Kleid. Ich mag sie sehr. Vielleicht gerade deshalb.”
“Ja?”
“Ja. Sie braucht das Kleid für Amerika, sagt sie. Weiß Gott, ob das stimmt, aber das ist egal.”
Frank sah abermals hin und fragte sich, woher er die Frau kannte. Es war nicht Nellie, natürlich nicht. Hatte er Leibrand von ihr erzählen hören, damals im Laden, nachdem er aufgewacht war?
“Jeder hat einen Traum”, flüsterte Martha und berührte Frank am Arm.
“Was hältst du davon, wenn du jetzt endlich deinen Laden zumachst, und wir holen uns etwas zu essen? Weil Weihnachten ist. Drüben warten meine Freunde, und sie würden dich bestimmt gern kennenlernen. Wir erzählen uns ein paar Geschichten.”
“Aber doch keine Geschichten, die sich alte Männer gern erzählen, oder?”
Frank lachte. “Sie werden dir gefallen, glaube es mir. Geschichten von Walfischen, Piraten. Und Mäusen.” Ohne darüber nachzudenken, beugte er sich vor und küsste ihre Wange. Martha berührte die Stelle und berührte dann seine Wange. Er nahm ihre Hand.
Die Frau mit den unglaublich roten Haaren strich aus der Tür, in ihren Händen den Karton mit ihrem Lieblingskleid. Sie hatte geweint, das sah Frank. Roch ihr Parfüm, von dem ihm schwindlig wurde. Hinter seinen Augen sah er Leibrand auf die Frau warten.
“Bis nächstes Jahr, Suzanne”, sagte Martha und winkte ihr solange, bis sie nicht mehr zu sehen war. Eine Sekunde lang glaubte Frank den toten Jungen dort stehen zu sehen, an jener Ecke, an der die Frau verschwunden war. Aber er blinzelte und niemand war dort. Außer Schneegespenster im Nachtwind.
“Manches Mal glaube ich, dass der Schnee nicht schmilzt auf ihren Haaren. Kannst du dir das vorstellen?” fragte Martha, holte ihren Mantel und machte das Licht aus.
Und natürlich konnte sich das Frank vorstellen.

Letztendlich konnte er sich alles vorstellen.

Text: Copyright © 2014 by Richard Lorenz
Illustrationen: Copyright © 2014 by Hanna-Linn Hava
Lektorat: Frank Duwald