Neue Rezension im Vergangenheits-Archiv.
Archiv des Autors: Frank Duwald
Wiederveröffentlichungen
In drei Jahrzehnten Beschäftigung mit Literatur vor meinem noch recht jungen Blog dandelion | abseitige Literatur hat sich ein randvolles Archiv mit Buchbesprechungen und Autorenportraits angesammelt. Diese sind weitgehend in Print-Magazinen und -Fanzines erschienen und schon lange nicht mehr erhältlich. Ich habe mich entschieden, diese Texte nach und nach wieder zugänglich zu machen.
Erfreulicherweise habe ich für dieses Vorhaben zwei bemerkenswerte Partner gefunden: Eher der Phantastik/Science Fiction zugehörige Texte werden ab sofort bei fictionfantasy erscheinen, und Rezensionen realistischer Romane finden eine neue Heimat bei booknerds.de. Einige ausgesuchte Beiträge sind zuvor noch als Print-Version in der Buchreihe Zwielicht Classic geplant.
Auf dandelion | abseitige Literatur werde ich alle wiederveröffentlichten Rezensionen und Artikel in chronoligischer Reihenfolge im „Vergangenheits-Archiv“ verlinken.
Interview mit dem Verleger Joachim Körber zu „Amerika-Plakate“ von Richard Lorenz
Joachim Körber ist eine echte Institution in der Verlagswelt. Sein Verlag Edition Phantasia existiert seit dreißig Jahren und startete zunächst ausschließlich mit wohlfeilen streng limitierten Ausgaben prominenter Autoren. Das Verlagsprogramm umfasst inzwischen aber auch zahlreiche nicht-limitierte Bücher, darunter z.B. in deutschen Erstausgaben neuere Titel von Ray Bradbury, die nicht mehr bei Diogenes erscheinen sind. Relativ neu ist der Hardcover-Imprint kuk, der uns mit Amerika-Plakate von Richard Lorenz dieses Jahr einen herausragenden Roman beschert hat.
FRAGE
Wenn ich mir vorstelle, Verleger zu sein und eines Tages ein Manuskript wie Amerika-Plakate im Briefkasten hätte … Wie war deine erste Reaktion auf den Roman?
JOACHIM KÖRBER
Also, zuerst einmal muss ich natürlich sagen, dass ich eine Menge Manuskripte bekomme, und die meisten davon sind leider wirklich schlecht. Fairerweise lese ich meist die erste Seite, das gibt einem schon einen Überblick, ob das eingereichte Manuskript was taugt. Wenn es stilistische und grammatikalische Mindestanforderungen erfüllt, lese ich noch etwas weiter, aber bei den meisten höre ich dann doch auf Seite zwei oder drei auf. Bei Amerika-Plakate habe ich schon auf der ersten Seite gemerkt, dass ich hier etwas auf dem Tisch habe, das es wert ist, genauer in Augenschein genommen zu werden, habe also weitergelesen und irgendwann festgestellt, dass ich schon auf Seite vierzig war! Ein Manuskript wie dieses bekommt man wirklich selten. Mich hat von Anfang an die sehr zarte, melancholische Grundstimmung angesprochen, natürlich auch die Tatsache, dass viel Popmusik drin vorkommt – die ja neben der Phantastik mein zweites großes Steckenpferd ist.
Es gibt eine Menge deutschsprachige Autoren, die – so sehe ich das jedenfalls – haben gute Ideen, sind aber keine überragenden Stilisten. Und es gibt einige wirklich herausragende Stilisten, die aber in manchen Fällen einfach nichts zu sagen haben. Amerika-Plakate vereinigt beides in sich, einen guten, durchdachten Schreibstil und eine schöne Geschichte. Ich bin froh, dass ich dieses erstaunliche Debüt veröffentlichen durfte und wünsche Richard Lorenz von Herzen Erfolg. Verdient hätte er ihn.
FRAGE
Glaubst du denn, dass Richard Lorenz eine realistische Chance auf Erfolg hat? Das, was er schreibt, ist nun wirklich sehr weit vom bestsellertauglichen Mainstream entfernt. Was würdest du ihm als erfahrener Verleger und Szene-Kenner raten, um das Größtmögliche an Erfolg für das Buch herauszuholen?
JOACHIM KÖRBER
Das ist eine gute Frage. Wenn ich recht informiert bin, hat Amerika-Plakate ja eine lange Odyssee durch verschiedene literarische Verlage hinter sich, deren Lektoren das Buch zwar allen sehr gefallen hat … aber keiner wollte es publizieren, da ihm niemand das Verkaufspotenzial zugetraut hat. Da habe ich es mit der Edition Phantasia natürlich sehr viel leichter. Ich muss zwar auch versuchen, mit meinen Büchern Geld zu verdienen, aber was meine Verkaufserwartungen angeht, liegt die Messlatte längst nicht so hoch wie in den großen Literaturverlagen oder gar den großen Publikumsverlagen, wo ja heutzutage, hat man manchmal den Eindruck, nichts mehr zählt als der Mammon. Ich muss kein Büro und kein Lager finanzieren, das mich jeden Monat Zehntausende kostet, und insofern bin ich schon mit deutlich geringeren Absatzzahlen zufrieden.
Dennoch muss ich natürlich sagen, dass das Buch tatsächlich „weit vom bestsellertauglichen Mainstream entfernt“ ist. Trotzdem war und bin ich der Meinung, dass man Literatur – und Kunst allgemein – nicht unbedingt ausschließlich nach kommerziellen Kriterien bemessen sollte. Ich entsinne mich, dass im Spiegel einmal jemand – ich meine, es war Hendryk Broder, bin aber nicht mehr sicher – schrecklich gegen die großen deutschen Theater und die Milliarden an Steuersubventionen gewettert hat, die sie verschlingen. Als Gegen- und Musterbeispiel führte er eine Aufführung des Weißen Rössl am Wolfgangsee auf, die irgendwo seit Jahrzehnten läuft und sich durch die Einnahmen trägt. Ich fand das einen ausgesprochen törichten Essay, denn ohne die Theatersubventionen würden wir dann irgendwann nur noch das Weiße Rössel oder Peter Steiners Theaterstadl zu sehen bekommen … und das kann ja wohl niemand ernsthaft wollen.
Mit der Literatur verhält es sich nicht anders. Darum bemühe ich mich, Bücher zuerst einmal nach literarischen Kriterien zu bewerten, und wenn mich ein Buch so packt wie Amerika-Plakate, dann mache ich es. Und wenn, dies als abschließende Bemerkung, ein kleiner Verlag wie meiner sagen kann, dass er ein Buch macht, auch wenn er am Ende vielleicht ein wenig draufzahlt, weil sich das angesichts stabiler Backlistumsätze dennoch irgendwie rechnet, dann sollte das einem großen Verlag, der Millionen umsetzt, an sich zweimal möglich sein.
FRAGE
Wie lief die Zusammenarbeit mit Lorenz ab? Hast du einfach sein Manuskript lektoriert und veröffentlicht oder gab es Gespräche und Diskussionen bezüglich des Textes?
JOACHIM KÖRBER
Da muss ich den Autor zuerst einmal loben … das Manuskript war nahezu perfekt, wie ich es bekommen habe. Das Lektorat hat sich hier tatsächlich mehr oder weniger darauf beschränkt, ein paar Tippfehler auszubügeln und einige Wortwiederholungen und dergleichen auszumerzen. Aber natürlich habe ich alle Änderungen mit dem Autor entweder per E-Mail oder am Telefon diskutiert.
FRAGE
Habt ihr euch persönlich kennengelernt oder ist Amerika-Plakate ein reiner E-Mail-Deal?
JOACHIM KÖRBER
Persönlich kennengelernt haben wir uns bisher leider noch nicht … es war tatsächlich zuerst einmal ein reiner E-Mail-Deal. Als ich dann gesagt habe, dass ich das Buch definitiv herausbringen werde, haben Richard Lorenz und ich gelegentlich telefoniert, was wir bis heute machen – und natürlich stehen wir über Facebook in Kontakt. Persönlich kennenlernen werde ich ihn hoffentlich im Dezember, wenn er mit dem Schauspieler und Autor Gregor Weber eine Lesung in München veranstaltet, die ich besuchen möchte.
FRAGE
Können wir unter dem kuk-Imprint zukünftig mit weiteren derartigen Entdeckungen rechnen?
JOACHIM KÖRBER
Das kommt darauf an – wenn ich wieder ein ähnlich gutes Manuskript bekomme, warum nicht? Ich bekomme ja schon eine ganze Menge Manuskripte angeboten, aber das meiste davon, muss ich leider sagen, taugt herzlich wenig. Und man muss auch weiter bedenken, dass ein winziger Ein-Mann-Verlag wie ich natürlich kaum finanziellen Spielraum für Werbung usw. hat, wodurch es einigermaßen schwer ist, neue, unbekannte Autoren am Markt zu etablieren. Dennoch, wie gesagt: Wenn mich wieder einmal ein Text so packt, warum nicht?
FRAGE
Was das Etablieren unbekannter Autoren am Markt anbelangt, widerspricht das merkwürdigerweise den Erfahrungen, die ich mit meinem Blog dandelion gemacht habe. Meine Rezension zu Amerika-Plakate hatte am ersten Online-Tag ca. die vierfache Klickrate als z.B. meine Besprechung zu Das Haus mit den sieben Giebeln von Nathaniel Hawthorne, das bei Manesse erschienen ist. Wenn man das als Maßstab nimmt, müsste ja Manesse deutlich weniger verkaufen als du. Kannst du dir das erklären?
JOACHIM KÖRBER
Das rührt jetzt an eine ganz grundsätzliche Diskussion, die ich ständig mit Autoren und Kollegen führe. Meiner Meinung nach ist das mit den Internet eine zwiespältige Sache. Grundsätzlich sagt die Anzahl von Klicks natürlich nichts über den kommerziellen Erfolg von etwas aus. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich nur sagen: Wenn ich für ein Buch eine Besprechung in einem großen, meinungsbildenden Printmedium bekomme, Spiegel, Zeit, Süddeutsche, FAZ usw., dann gehen in den Tagen danach die Verkaufszahlen durch die Decke. Bei Besprechungen im Internet passiert meistens rein gar nichts … jedenfalls nicht unmittelbar. Manesse wird mit Sicherheit mehr Bücher verkaufen als ich, aber wir haben es hier auch mit zwei verschiedenen Dingen zu tun: Das Haus mit den sieben Giebeln ist ein Klassiker, und die ernten – das ist eine Branchenerfahrung – meist nicht dasselbe Interesse wie Neuerscheinungen. Amerika-Plakate ist natürlich im Moment durch die für mich erstaunlich große Zahl sehr überschwänglicher Rezensionen sehr viel präsenter als ein Autor wie Hawthorne. Das geht aber – wiederum aus meiner Erfahrung – vorüber … leider. Klassiker wie Hawthorne, Lovecraft usw. sind etabliert und werden immer irgendwie präsent sein, während neue Autoren, auch wenn sie vorübergehend ein hohes Maß an Aufmerksamkeit generieren, doch leider oft auch wieder verschwinden. Ich hoffe, dieses Schicksal bleibt Richard Lorenz erspart.
FRAGE
Welche Bücher aus dem Gesamtprogramm der Edition Phantasia kannst du den Lesern empfehlen, denen Amerika-Plakate gefallen hat?
JOACHIM KÖRBER
ALLE! Nein, das war natürlich ein Scherz. Aber ich würde sagen, wer Ray Bradbury schätzt, der dürfte Amerika-Plakate mögen, also kann ich die Bücher von Bradbury in meinem Programm durchaus empfehlen. Und mit den literarisch ebenfalls recht anspruchs- und gehaltvollen Titeln von Stefan Blankertz wäre man wohl auch nicht schlecht beraten, obwohl Dein Name sei Menschenfischer natürlich keine Phantastik ist.
FRAGE
Könntest du dir vorstellen, bei passenden Randbedingungen ein weiteres Buch von Richard Lorenz zu publizieren?
JOACHIM KÖRBER
Das könnte ich mir durchaus vorstellen. Sein Kinderland ist ja bisher „nur“ als E-Book-Serie erschienen … und wie man weiß, sind E-Books ja keine richtigen Bücher. [lacht] Nein … ehe jetzt ein Sturm der Entrüstung losbricht, auch das war ein Scherz! Trotzdem … davon eine schöne Print-Ausgabe wäre denkbar.
So paradox es vielleicht erscheinen mag, aber an sich wünsche ich Richard Lorenz natürlich, dass er es bald gar nicht mehr nötig hat, in einem Verlag wie meinem zu veröffentlichen, sondern einen großen Verlag findet, der mehr finanzielle Power im Rücken hat und ihm und seinen zukünftigen Büchern die Publikumsaufmerksamkeit sichern kann, die sie verdient hätten!
FRAGE
In diesem Fall bestünde aber die Möglichkeit, dass Richard Lorenz von genau so einem Verlag versaut, sprich kommerzialisiert wird.
JOACHIM KÖRBER
Die Gefahr besteht natürlich. Letztendlich kommt es dabei aber in erster Linie auf den Autor an und in welchem Maße er sich kommerzialisieren lässt. Ich habe vor Jahren einmal einen Werkstattbericht gelesen, wie ein Lektor eines großen, angesehenen Literaturverlages sich das Manuskript eines deutschen Autors (ich will hier keine Namen nennen, aber er ist durchaus ein „Darling“ des Feuilletons und im Literaturbetrieb sicher kein ganz Unbekannter) vorgenommen und dem Autor diktiert hat, was er wie zu ändern und umzuschreiben hätte. Am Ende kam ein Buch heraus, das kaum noch etwas mit dem ursprünglichen Manuskript zu tun hatte. Ich fand das ziemlich grässlich; es wurde unter dem Motto veröffentlicht, „wie Literatur entsteht“, und es kam so rüber, als wären die Literaten ja ohne ihre Lektoren gar nichts. Ich hätte mir so gravierende Eingriffe in meinen Text jedenfalls nicht gefallen lassen … und dann auch noch stolz Auskunft darüber gegeben. Ich weiß aus Gesprächen mit Richard Lorenz, dass er Angebote einiger Literaturverlage hatte, das Buch zu veröffentlichen … wenn er dies oder das umschreiben, das ganz rausnehmen und dafür mehr von dem da einfügen würde. Er ist stur geblieben und hat diesen Versuchungen widerstanden, und ich denke, das wird ihm auch weiterhin gelingen – hoffe ich. Natürlich muss man ab und an Kompromisse machen, und es ist sicherlich so, dass Lektoren, die einem Text distanzierter gegenüberstehen als man selbst, einem wertvolle Tipps geben können … aber ein Buch, das der ursprünglichen Absicht mehr oder weniger diametral entgegengesetzt ist, sollte dabei nicht rauskommen. [grinst]
Interview mit Richard Lorenz
Mit Richard Lorenz hat ein Ausnahmetalent die Buchwelt betreten. Sein erster Roman Amerika-Plakate ist im Frühjahr bei kuk, einem Imprint der legendären Edition Phantasia, erschienen und zeigt einen Autor, dessen Phantasie keine Grenzen zu kennen scheint.

Copyright © 2014 by Deliah Lorenz
FRAGE
Für mich bist du mit Amerika-Plakate wie aus dem Nichts auf der Literatur-Bildfläche erschienen. Wie sieht deine Schriftsteller-Vita bis zur Veröffentlichung dieses Romans aus?
RICHARD LORENZ
Eigentlich habe ich keine klassische Autoren-Vita. Zwar habe ich immer wieder veröffentlicht, jedoch ausschließlich Short-Storys. Angefangen vor zwanzig Jahren, zu Beginn stark geprägt von Stephen King. Vor zwanzig Jahren jedoch galt King noch als Schundliteratur, die in Bahnhofskiosken verkauft wurde.
Von Zeit zu Zeit habe ich bei Printmedien, also Tageszeitungen, publiziert. 1996 dann eine Short-Story-Sammlung bei einem Druckkostenzuschuss-Verlag, da man damals noch nicht wirklich gut informiert war und das Angebot verlockend war. Diese Sammlung ist heute nicht mehr erhältlich – verkauft haben sich davon vielleicht eine Handvoll Exemplare.
Verlage waren mir eigentlich immer relativ suspekt, gerade im Zeitalter vor dem Internet, mit der geringen Möglichkeit nach kleinen Verlagen zu suchen. Jahrelange Wartezeiten auf ein belangloses und unpersönliches Antwortschreiben. Deshalb wollte ich tatsächlich auch nicht publizieren. Die Branche war mir zu merkwürdig. Also habe ich weiterhin einfach nur geschrieben und zwei-, dreimal im Jahr Lesungen veranstaltet.
Vor Amerika-Plakate habe ich ausschließlich für mich geschrieben. Kurzgeschichten und Novellen. Und natürlich Lesungsprogramme. Das letzte war schließlich Amerika-Plakate. Aber das hat natürlich auch einen Vorteil. Man lernt die eigene Sprache besser kennen, und man findet schließlich auch die ganz eigenen Themen. Unabhängig vom Literaturmarkt. Meiner Meinung einer der größten Fehler der aktuellen Literatur-Szene: Die Anpassung.
FRAGE
Hast du denn keine Bedenken, dass auch dir diese Anpassung irgendwann droht? Gerade Amerika-Plakate strahlt für mich im besten Sinne diese positive Anarchie aus, die guten Erstlingsromanen manchmal zu eigen ist. Glaubst du, du wirst noch genauso frei schreiben können, wenn du erst einen festen Verlag und eine feste Leserschaft im Nacken hast?
RICHARD LORENZ
Das ist tatsächlich eine sehr interessante Frage, die ich natürlich auch von Amerika-Plakate her kenne. Die „Glättung“ des Romans. Einige größere und große Verlage haben durchaus Interesse an dem Roman bekundet – jedoch mit Einschränkungen. Zu phantastisch, zu merkwürdig, zu unnormal, zu sprunghaft. Alles das. Vermutlich hätte man sich mit einem dieser Verlage einigen können, denke ich mal. Aber nicht nur, dass ich das nicht wollte, vielmehr konnte ich es auch gar nicht. Die Grundstimmung des Romans ist phantastisch, magischer Realismus. Was auch immer. Daraus einen Günter-Grass-Roman zu machen, wäre durchaus schwierig gewesen.
Ich bin ja kein Genre-Schreiber. Ich erzähle Geschichten und bediene mich deren Elemente. Deshalb trifft auf Amerika-Plakate der Begriff Phantastik auch nur begrenzt zu – und wenn, dann im Sinne eines Ken Keseys.
Tatsächlich glaube ich, man sollte die Geschichten schreiben, die man in sich trägt, und nicht die Geschichten, die das Publikum hören möchte. Gerade durch den neuen Boom des Self-Publishing entsteht jener Eindruck: Schreibe, was sie lesen wollen, und du bist ein gemachter Mann. So etwas ängstigt mich. Denn dann wird es keine innovativen Bücher mehr geben. Nehmen wir zum Beispiel Forellenfischen in Amerika von Richard Brautigan. Diese Texte sind so abseitig und wundervoll gleichzeitig, dass sie überstehen. Weil sie wichtig waren und immer noch sind. Heute lese ich in Bücher-Foren, dass sie Bradburys Fahrenheit 451 für langweilig halten oder nicht verstehen. Aber Literatur muss nicht immer nur anspruchsvoll sein, sondern sie muss vor allem mutig sein.
Persönlich glaube ich, dass man meine Texte zwar glätten kann, aber sie von der Grundstruktur, von der Erzählung, immer abseitig bleiben. Diesen Anspruch habe ich. Abseitige Figuren in abseitigen Situationen. Magie, kein billiger Zauber.
Außerdem bin ich kein junger Autor mehr, was vermutlich ein Vorteil ist. Würde ich etwas schreiben sollen, was mir nicht gefällt, dann würde ich es lassen und wieder nur für mich schreiben. Was soll‘s? Denn wenn man eines bei der Arbeit mit Sterbenden lernt, dann wohl, dass man Dinge nicht mehr abändern kann. Und dass man gefälligst seinen Weg gehen soll.
FRAGE
Der Tod ist ja allgegenwärtig in Amerika-Plakate. Ich habe ihn aber in deinem Roman so verstanden, dass die Grenzen zwischen Leben und Tod fließend sind und die Toten auf die ein oder andere Art – z.B. durch Träume und Erinnerungen – trotzdem fortleben. Das hat etwas Tröstliches, was auch der Roman nach meinem Empfinden eindeutig an die Leser transportierst. Du hattest beruflich mit dem Tod zu tun?
RICHARD LORENZ
Ja, und ich denke, der Tod ist nichts Endgültiges. Damit meine ich jetzt nicht einmal das Himmelreich, sondern vielmehr, dass von jedem Menschen etwas zurückbleibt. Gedanken, Erinnerungen, Träume, Pläne. Eine Melange. Der Tod ist ein zentrales Thema, weil ich glaube, dass wir danach unser Leben ausrichten. Gewollt oder ungewollt. Wir haben Angst davor, und diese Angst treibt den Menschen an. Das Sterben ist der Motor des Lebens, würde ich sagen.
Beruflich hatte ich mit dem Sterben zu tun, natürlich. In der Krankenpflege, später dann im onkologischen Bereich, ist der Tod dein Schatten, in dem Gespenster tanzen. Das Leben verliert seine Konturen, wenn man Sterbende begleitet. Nichts mehr hat Bestand, und zu Recht sagt Thomas Bernhard diesbezüglich: Alles ist lächerlich.
Sämtliche Bemühungen, ein genormtes Leben zu leben, wirken bei der Zerbrechlichkeit des Seins merkwürdig und abseitig. Ich persönlich glaube nicht an Bücher wie: Wünsche von Sterbenden. Das ist billiger Budenzauber. Ihre Wünsche sind einfach: Keine Schmerzen und ein würdevolles Sterben.
Und manchmal erzählen sie von zu Hause. Und meistens sind das bessere Geschichten, als sie jemals in einem Buch zu finden sind.
FRAGE
Du hast bereits erwähnt, dass du mit Amerika-Plakate künstlerische Differenzen mit diversen Verlagen hattest. Wie bist du vorgegangen, als du fertig mit Schreiben warst, und wie bist du letztendlich bei kuk gelandet?
RICHARD LORENZ
Man muss vermutlich wissen, dass Amerika-Plakate grundsätzlich eine Kurzgeschichte ist. Ausgelöst durch ein Erlebnis in meiner Kindheit, als ein Nachbarsjunge und gleichzeitig Freund tatsächlich aus dem Fenster gesprungen und dabei irgendwie die Zeit stehen geblieben ist. Ein Sommertag mit hellblauen Sommerhimmel. Darüber wollte ich schreiben. Auch über die Affinität zu Amerika – aber eher dem Film-Amerika. Dem Amerika, wie man es sich als Kind vorstellt, wenn die Nächte lang sind.
Es entstand also die Kurzgeschichte, und eines Abends sah ich mir Bloch an, mit Dieter Pfaff. Eine der frühen Folgen mit Katharina Wackernagel als Tochter. Plötzlich hatte ich den Wunsch, sie zu fragen, ob sie nicht Lust hätte, die Short-Story als Audio-Geschichte einzusprechen. So schrieb ich ihre Agentur an, und wir wurden uns relativ schnell einig. Daraus entstand ein wundervoll eingesprochenes Projekt.
Völlig naiv dachte ich 2012, eine Literaturagentur könnte sich darum kümmern, dass diese Audio-Geschichte im Radio laufen würde. Stattdessen waren sie an einem Roman interessiert, und so versuchte ich mich an meiner ersten längeren Geschichte, basierend auf der Kurzgeschichte. Nach vier Monaten war der Roman dann fertig, und es war von vornherein klar, dass es damit schwierig werden könnte. Zeitsprünge, phantastische Elemente, all diese Sachen. Zudem konnte man Amerika-Plakate nicht so einfach einem Genre zuordnen, was ja scheinbar das Wichtigste überhaupt ist.
Dennoch waren einige Verlage daran interessiert, machten es aber dann doch nicht. Zu verkopft, zu merkwürdig, zu eigenartig. Wer soll das kaufen, wer soll das lesen? Gleichzeitig jammerten jedoch diese Verlage immer wieder, dass es an innovativer Literatur fehlen würde. Und vom Untergang des literarischen Abendlandes.
Eine Zeitlang sah es tatsächlich so aus, als würde Amerika-Plakate nicht bei einem Verlag erscheinen können. Anfang 2013 schrieb ich dann die Edition Phantasia an, da ich diesen kleinen Verlag immer schon sehr gerne mochte. Joachim Körbers Publikationen sind großartig, wenngleich ich mir nicht ganz sicher war, ob er diese Art Literatur machen würde. Nachdem ich ihm das gesamte Manuskript via email geschickt hatte, dauerte es dann nicht mehr lange. Körber war tatsächlich der erste Verleger, der gesagt hat: Das will ich machen, genau so. Für diesen Mut sollte man ihm einen Orden verleihen, finde ich. Oder ihn zum Ritter schlagen.
FRAGE
Joachim Körbers Verlag hat ja eine Jahrzehnte lange Tradition als Verlag für ausgesuchte phantastische Literatur. Wie wurde Amerika-Plakate denn bisher aufgenommen? Ich könnte mir vorstellen, dass bisher eher Leser und Rezensenten phantastischer Genres auf dich aufmerksam geworden sind – obwohl ich die Erfahrung gemacht habe, dass gerade sie zu den tolerantesten Buchkonsumenten überhaupt zählen.
RICHARD LORENZ
Pressearbeit gestaltet sich ja, wie man weiß, als sehr schwierig. Das heißt, um an Kultur-Reaktionen zu kommen, bedarf es Geduld und Mühe. Ohne großen Verlag im Rücken mit Hunderten von Freiexemplaren wird es schwierig – vor allem, wenn es sich nicht um Genre-Romane handelt. Hier helfen auch kaum Leserunden oder Facebook-Werbung. Der Markt ist völlig überschwemmt, leider.
Die Reaktionen waren bisher sehr positiv, wenn auch noch nicht sehr zahlreich. Auch hier scheint es für die Leute schwierig, da sie den Roman nicht zuordnen können. Was ist es nun? Gegenwartsliteratur, phantastische Literatur, magischer Realismus? Wer kann das schon so genau sagen? Für mich ist es einfach eine gute Erzählung. Nicht mehr, nicht weniger.
Natürlich hoffe ich weiterhin, dass der Roman auffallen wird.

Copyright © 2014 by Deliah Lorenz
FRAGE
Welche literarischen Vorbilder hast du? Nach Lektüre von Amerika-Plakate würde ich insbesondere auf Ray Bradbury und Paul Auster tippen. Was ich dabei aber bemerkenswert finde, ist, dass du eine völlig eigene Stimme hast. Ich behaupte, aus einem Stapel Neuerscheinungen würde ich dich ohne Probleme heraushören.
RICHARD LORENZ
Hier wird es schwierig, die Frage konkret zu beantworten, denn die Vorbilder sind eigentlich vielmehr Wegweiser dafür, wie eine gute Geschichte funktionieren kann, wenn sie das Zwielicht streift. Bradbury ist natürlich für mich ein zentraler Autor. Fahrenheit 451, Die Mars-Chroniken, auch seine Short-Stories. Wie Paul Austers Geschichten sind sie immer voller Liebe und Hoffnung. Das gefällt mir. Die New-York-Bücher von Auster – wundervoll. Vor allem „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“, eine kurze Episode, die mich beeindruckt hat und es immer noch tut.
Aber auch Autoren wie Truman Capote mit seinen Beschreibungen oder Friedrich Ani, der für mich einen der besten deutschen Autoren darstellt. Stephen King natürlich, vor allem mit seinen untypischen Erzählungen. Frühling, Sommer, Herbst und Tod – für mich eines seiner besten Bücher.
Michael Chabon mit seinen Wonderboys oder T. C. Boyle. Neil Gaiman, der immer noch viel zu wenig Beachtung findet.
Ich mag Autoren und Bücher, die anders sind. Im positiven Sinne abseitig. Die mein Herz oder meine Seele berühren, die einen ganz eigenen Soundtrack inne haben. Diese Eigenschaft sollte gute Literatur immer haben – wenngleich das natürlich nicht immer die breite Masse anspricht. Vom Gefühl her gibt es in Deutschland kaum diese Nischen-Literatur, obwohl sie alle davon sprechen. Ich sehe ausschließlich Mainstream-Varianten, stapelweise auf Büchertischen. Als wäre Literatur nur noch billige Lift-Musik. Deshalb stehe ich auch dieser „Demokratisierung der Literatur“-Bewegung eher skeptisch gegenüber.
Wer schreibt, sollte meiner Meinung nach viel gelesen haben und weiterhin viel lesen. Von Büchern habe ich gelernt. Heutzutage gibt es ja überall Schreibwerkstätten und Workshops, und ich weiß tatsächlich nicht, was ich davon halten soll. Natürlich ist Schreiben ein Handwerk, so wie das Zaubern ein Handwerk ist. Aber dahinter gibt es noch etwas, und das kann man nicht erlernen.
FRAGE
Insbesondere mit Paul Auster teilst du ja eindeutig eine herzliche Zuneigung zu den Gestrauchelten…
RICHARD LORENZ
Paul Auster hat in der Tat einen wundervollen Blick auf die Gefallenen. Jene, die meist im Schatten des Lebens stehen. Ebenso wie Billy Wilder in seinen Filmen. Anti-Helden und Verlorene als Kontrast für ein Leben, das wir nicht verstehen.
Leibrand ist so angelegt. Ein Mann, der sich im Leben nicht wirklich zurecht findet, jedoch vermutlich das Leben atmet. Solche Menschen sind weitgehend Einzelgänger. Suchende. Diese Suche impliziert natürlich eine ständige Auseinandersetzung mit dem Leben. Für einen gut verdienenden Bankangestellten stellt sich selten die Frage nach dem Sein. So brauchen wir Zerbrochene, um das Leben zu verstehen. Deshalb haben wir vermutlich auch Probleme mit Obdachlosen und Bettlern, mit all den Gestrandeten. Sie zeigen uns die andere Seite des Lebens, und dass es ein schmaler Grat ist. Ein Abgrund, an dem wir alle stehen.
Solche Menschen sind so nahe am Leben, dass sie mich stark beeindrucken. Krankheiten und Tod der ständige Begleiter. Was passiert, wenn man nichts mehr zu verlieren hat? Das ist eine zentrale Frage, die wir uns stellen sollten. Und: Was bleibt, wenn wir alles verlieren?
FRAGE
Sämtliche Schrecken, die die Protagonisten in Amerika-Plakate heimsuchen, haben ihren Ursprung in der Kindheit. Der kindliche Kuss zwischen Leibrand und Suzanne stellt die Weichen für mindestens zwei Leben. Bist du ein Mensch, der die Kindheit stets mit sich herumträgt? Viele Menschen scheinen diese Zeit als Erwachsene ja völlig vergessen bzw. verdrängt zu haben.
RICHARD LORENZ
Um das Leben zu verstehen, ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, jene Dinge in Gewahrsam zu halten, die uns als Kind geängstigt haben. Oder von denen wir geträumt haben. Nur so kann eine stetige Neu-Orientierung passieren. Ich glaube, als Kind sieht man das Leben wie eine riesige Landkarte mit unzähligen Straßen und Wegen, mit geheimnisvollen Plätzen und magischen Orten. Je älter man wird, desto kleiner wird diese Landkarte und die Magie verschwindet. Für Kinder zählen andere Werte als materielle Dinge – jedenfalls die meiste Zeit. Später scheinen wir die Hoffnungslosigkeit des Seins mit Wohlstand und Sicherheit abdecken zu wollen.
Tatsächlich entspringt der Schrecken in der Kindheit, prägt uns. Sämtliche Eindrücke sind als Kind hell, beinahe grell und nahe. Der Himmel ein Baldachin, zum Greifen nahe. Alles das verlieren wir auf eine Art und Weise, von einem Tag auf den anderen, wenn wir aufwachen und erwachsen sind. Eigene Kinder bringen dieses Gefühl zurück. Die Ängste vor der Dunkelheit, die Hoffnungen eines unendlichen Sommertages.
Ich selbst bin auf dem Land aufgewachsen, die RAF-Gespenster noch an jeder Ecke stehend. Der Vater dem Alkohol zugeneigt, die anderen Kinder oftmals bösartige Figuren. Es entstehen Geschichten, die man sich selbst erzählt. Die man sich vorbetet wie ein Vater-Unser, um nicht zu ersticken.
Dennoch: Die Sommer waren nie länger und die Grillen nie lauter. Wie sollte man das je vergessen können?
FRAGE
Genauso wie man die erste Liebe ein Leben lang wie eine für niemanden sichtbare Tätowierung in sich trägt?
RICHARD LORENZ
Jene Unsichtbarkeit von Wunden, Verletzungen sind ein interessantes Thema. Jeder von uns trägt diese Dinge in sich. Manchmal sind diese Schnittstellen wie ein Leuchtfeuer. Ob es nun die erste Liebe ist oder das Sterben eines Kindes – wir tragen es mit uns. Fabrizieren ein Traumgeäst darum.
Begegnungen sind allgemein ein starkes Thema eines jeden Geschichtenerzählers. Bindungen und Schwankungen. Aus Liebe entsteht Hass, solche Dinge.
Erzählungen wachsen aus diesen Leuchtfeuern, damit wir sie verstehen können. Oder damit wir sie niemals vergessen.
Leibrand erging es mit Suzanne so. Ein Kuss auf dem Jahrmarkt und eine lebenslange Suche nach dem Mädchen. Es hat etwas Zerbrechliches an sich, aber auch etwas Mutiges. Den Spuren weiter folgen, den Atem nach den Träumen ausrichten. Das sind große zentrale Themen, die einhergehen mit Schuld, Sühne und Erlösung.
FRAGE
Vier Monate für die Erweiterung von der Kurzgeschichte zum Roman Amerika-Plakate finde ich sehr schnell angesichts des sprachlich sehr anspruchsvollen Textes. Fällt dir das Schreiben in dieser Qualität generell leicht?
RICHARD LORENZ
Sobald ich den Sound einer Geschichte gefunden habe, fällt es mir relativ leicht, zügig zu schreiben. Wobei ich mich nur vage an ein Exposé halte, wenn überhaupt. Eine Geschichte zu „plotten“ stört mich persönlich ungemein, wird meiner Meinung nach auch überschätzt. Diesbezüglich gefällt mir auch das Absurde, wenn in Raymond Chandlers Romanen Figuren auftauchen und wieder verschwinden, weil sie schlichtweg vergessen wurden. So etwas ist mir sehr sympathisch, denn es zeigt den Atem eines Buches.
Heutige Bücher könnten auch von Robotern geschrieben worden sein. Nicht alle, aber viele. Gerade im Genre-Bereich – sie sind so blank gescheuert wie ARD-Sonntagsfilme.
FRAGE
Obwohl ich bei Amerika-Plakate schon den Eindruck habe, dass du die Handlung bereits von Anfang an im Kopf hattest. Bereits auf den ersten Seiten finden sich Echos späterer Ereignisse.
RICHARD LORENZ
Das stimmt. Da ich Erzählungen oft überarbeite, achte ich auf diese Dinge. Kleinigkeiten, die sich dann letztendlich einfügen und eine Geschichte abrunden. Für mich ist es natürlich schon wichtig, dass ein Roman schlüssig bleibt – egal wie abseitig oder absurd er auch sein mag.
Bei Amerika-Plakate wusste ich natürlich bereits den Schluss, jedenfalls Leibrands Ende der Geschichte. Es ist natürlich sehr hilfreich, wenn man bereits eine Vorahnung über den Schluss hat. Vieles in Amerika-Plakate wurde aber auch nur angerissen, vage gezeichnet. Phantastische Elemente können ganz schnell entzaubert werden, sobald man versucht sie zu erklären. Letztendlich gilt das vermutlich für die meisten Elemente eines Romans. Natürlich sollte man wissen, wovon man schreibt – aber man sollte nicht versuchen, alles zu erklären.
Vieles jedoch ist erst beim Schreiben entstanden, was ich eigentlich sehr gerne mag. Den Überraschungsmoment, wenn Dinge geschehen, die man nicht für möglich gehalten hätte. Ich denke, als Leser merkt man sehr schnell, was geplant wurde und was nicht. Bei Stephen King zum Beispiel merkt man es sehr stark.
Ich mag dieses Jazz-Gefühl, wenn eine Erzählung kurz aus dem Ruder läuft und sich dann aber wieder zusammenfindet. Sicherlich keine sehr einfache Angelegenheit, denn natürlich kann so eine Tagesarbeit in einer Sackgasse enden. Aber sie kann eben auch zurückführen zur Hauptstraße oder wenn man sehr viel Glück hat auf einen unbefahrenen Weg voller Löwenzahn.
FRAGE
Wie können wir uns einen typischen Tag im Leben des Schriftstellers Richard Lorenz vorstellen?
RICHARD LORENZ
Hoffen und beten, sozusagen.
Ich arbeite an neuen Projekten, also schreibe ich natürlich jeden Tag. Meistens am Nachmittag bis zum frühen Abend.
Letztendlich habe ich es mir zwar sehr beschwerlich vorgestellt, jedoch nicht so steinig. Nicht das Schreiben an sich, sondern vielmehr die Literatur-Welt. Nach wie vor ist diese Parallelwelt befremdlich für mich. Lesungen zu organisieren wird immer mehr zu einem Schattenboxen.
Wenn ich mir anschaue, welche Autoren heute bei großen Verlagen literarische Erzählungen publizieren, sehe ich kaum eine Möglichkeit für mich. Das soll kein Vorwurf sein, es sind bestimmt sehr gute Bücher. Aber ihre Biographien unterscheiden sich doch gewaltig von meiner eigenen. Die Zeiten eines Bukowskis, der aus der Gosse heraus wunderbare Gedichte publizierte, sind vorbei. Einen Überraschungs-Erfolg zu platzieren scheint fast unmöglich.
So sieht mein Tag aus: Nach einem Mausloch zu suchen, dahinter die Möglichkeit, bescheiden das tun zu dürfen, was man möchte. Aber wer kann das schon?
FRAGE
Was können wir neben Amerika-Plakate noch von dir lesen? Gibt es noch veröffentlichte Kurzgeschichten?
RICHARD LORENZ
Es gibt zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte. Versteckt in Telefonbüchern der Städte, vergraben auf Friedhöfen, mit Kreide an Häuserwänden geschrieben. Unter der Tapete meines Arbeitszimmers geklebt warten 47 Kurzgeschichten.
Die Gespenster kennen sie alle.
FRAGE
Es gibt da die elektronische Fortsetzungsgeschichte Kinderland. Kannst du uns bitte etwas darüber erzählen?
RICHARD LORENZ
Kinderland wurde als Serial-Novel konzipiert, die bei einem Münchner ebook-label herausgekommen ist. Fortsetzungs-Romane haben mir immer sehr imponiert.
Letztendlich ist Kinderland eine Erzählung um das Aufwachsen in einer kleinen Stadt, in der Kinder verloren gehen, vergessen werden. Es hat mich gereizt, etwas zu erzählen was im direkten Zusammenhang mit dem Konzentrationslager Dachau steht. Und dem Vergessen von Träumen und Traum-Episoden.
Kinderland ist im Gegensatz zu Amerika-Plakate eher eine Weitwinkel-Aufnahme mit vielen Figuren mit Anleihen einer Tim-Burton- Erzählstruktur. Natürlich wird so etwas sofort kategorisiert, in diesem Fall: Mystery. Damit kann ich mich aber bis heute nicht wirklich anfreunden.
FRAGE
Du hast nach Amerika-Plakate bereits einen neuen Roman, Frost, Erna Piaf und der Heilige geschrieben. Wie ist der aktuelle Status dieses Werkes?
RICHARD LORENZ
Zum aktuellen Status kann ich mich nicht äußern, weil noch alles in der Schwebe ist. Natürlich würde es mich sehr freuen, wenn das Buch seinen Weg finden würde. Denn ich glaube, es ist eine schöne Geschichte vom Leben und vom Sterben. Und von einer Suche, die in Paris endet.
FRAGE
Woran arbeitest du zur Zeit?
RICHARD LORENZ
Zur Zeit arbeite ich an einer weiteren literarischen Erzählung über einen Schriftsteller, der auch Salinger hätte sein können. Also verschroben, aus dem Leben gefallen. Salinger ist ja eine hochinteressante Persönlichkeit, und die Weigerung zu publizieren, finde ich äußerst sympathisch. Solche Figuren fehlen heute sehr, wie ich finde.
Wer weiß, vielleicht wird das sogar mein letzter Roman – also jedenfalls der letzte, der den Weg nach außen sucht. Weiß Gott, vielleicht tue ich es dann dem Protagonisten des aktuellen Romans gleich und schreibe nur noch für die Gespenster, die nachts an mein Bett kommen. Denn wir müssen alle unsere Wege gehen, und manche Wege sind mit der Zeit unpassierbar geworden.
[Rezension] Richard Lorenz – Amerika-Plakate
Originalveröffentlichung, 2014
Gute Schriftsteller gibt es viele. Eher selten dagegen stößt man auf ein Buch, von dem man ehrfürchtig denkt, dass kein anderer Autor auch nur annähernd so etwas schreiben könnte, so eigen, so außergewöhnlich und sprachlich so abweichend ist es. Amerika-Plakate von Richard Lorenz ist solch ein Buch. Ein kompliziertes Buch, das von der ersten Seite an signalisiert: hier ist etwas, das du nicht alle Tage lesen wirst. Und als ich das Buch nach der letzten Seite zugeklappt hatte, habe ich dasselbe gedacht.
Erzählt wird Amerika-Plakate von einem namenlosen Ich-Erzähler, der, man ahnt es schon nach wenigen Seiten, für die Geschichte selbst völlig irrelevant scheint, so neutral und aktionslos bringt er sich selbst ein. Aber, er ist es, der uns die Geschichte von Leibrand erzählt – mit der zeitlichen Distanz mehrerer Jahrzehnte.
Kristallisationspunkt ist Leibrand, der als Junge in seinen Kleiderschrank flüchtet, um vor seinem alkoholischen Vater sicher zu sein, der eine Etage tiefer seine Mutter misshandelt. Wenn es besonders schlimm wird, flüchtet Leibrand sich, inspiriert von Paul Austers Kurzgeschichte „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“ in ein imaginäres Amerika. Seine Portale dahin sind die Amerika-Plakate des Titels, die Leibrand im Kleiderschrank zu malen beginnt.
Der eigentliche Startschuss für Amerika-Plakate fällt damit, dass der Zirkus in die Stadt kommt. Leibrand und der Erzähler sind elf Jahre alt, und eine Rattenplage eilt dem Zirkus voraus. Die Szenerie aus Zuckerwattengeruch, dem Rattern des Glücksrads und den pompösen Lock-Parolen der Schausteller könnten einer Ray-Bradbury-Idylle entsprungen sein, würde man nicht schon sehr bald merken, dass Lorenz sich sehr viel tiefer ins dunkle Herz der Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit hineingräbt. Es liegt eine beinahe archetypische Furcht über der Siebziger-Jahre-Szenerie: der Angst vor RAF-Gespenstern, vor Kindermördern, vor prügelnden Ehemännern und vor den gruseligen Kinoleuten, die der Zirkus mit anschwemmt. Das alles setzt Lorenz mit ungemein gekonnter Feder in eine völlig entgegengesetzte poetische Sprachzentrierung. Die Sprache hat dabei eine Täuschungsfunktion wie der Nebel für den Zauberer. Wie Zuckerwatte, in der Rasierklingen versteckt sind, verzaubert und schockiert uns diese meisterhafte Prosa gleichermaßen. Und, als sei er selbst ein Zauberer, wollen wir Lorenz gar nicht fragen, wie er das macht, denn jedes deutliche Wort hieße das Ende der Magie. Überhaupt hat man selbst als aufmerksamer Leser ständig das Gefühl, dass Lorenz viel mehr weiß als wir, und ich kann nicht sagen, ob ich die letzten Rätsel der Amerika-Plakate je lösen werde oder vielmehr überhaupt je lösen möchte.
Die Kindheit von Leibrand erlebt ihren Höhepunkt und ihr Ende, als er Suzanne, das Mädchen mit den feuerroten Haaren sieht und es dazu kommt, dass die beiden sich küssen. Dieser Kuss ist das Evangelium, für das Leibrand fortan leben wird, und als Erwachsener wird er keine Ruhe finden, ehe er Suzanne nicht wiederfindet. Die erwachsene Suzanne ist für mich auch der ergreifendste Charakter in Amerika-Plakate. Ihre Einsamkeit wird beinahe greifbar, so nah ist sie dem Leser. Wenn ich mir etwas von Richard Lorenz wünsche, dann, dass er in Zukunft weitere so liebenswerte Schöpfungen zu Papier bringt. Die anderen Charaktere des Romans, egal ob obdachlos oder verrückt, sind ebenfalls mit viel Wärme geschildert, und man spürt deutlich, dass Lorenz ein großes Herz für die Verlierer der menschlichen Gemeinschaft hat. Suzanne ist allen anderen jedoch einen Schritt voraus. Sie wird nicht nur von Leibrand geliebt, sondern auch von mir als Leser, so sehr hat sie sich in meinen Gedanken breitgemacht. Eine erstaunliche schriftstellerische Leistung.
Richard Lorenz‘ Welt der Erwachsenen lässt die Geister und Werwölfe der Kindheit weiterleben, nur mit viel weitreichenderen Folgen. Amerika-Plakate ist bevölkert mit Engeln, Sehern und Schutzengeln, doch letztlich besteht das schräge Romanfiguren-Ensemble nur aus melancholischen Träumern, von der Gesellschaft ausgespuckt, die verzweifelt nach ihrem Glück greifen. Spätestens hier stellt sich die eigentlich unwichtige Frage: Was ist Realität? Unwichtig deshalb, weil sie keine Rolle spielt. Amerika-Plakate ist Fiktion. Aber was für eine.
Originalausgabe (Bellheim: kuk, 2014)
Lektorat: Uwe Voehl
Richard Lorenz und die „Amerika-Plakate“
Interview mit Andrea Krug zu Sarah Waters (und anderem)
Andrea Krug ist eine Hälfte des Verlags Krug & Schadenberg, der sich ausschließlich der Literatur für Frauen, insbesondere lesbischer Literatur widmet. Im Programm des Verlags enthalten sind die beiden Romane Die Muschelöffnerin und Solange du lügst von Sarah Waters, einer britischen Autorin, die es aufgrund der Qualität ihrer Romane in ihrer englischen Heimat geschafft hat, aus dem eingezäunten Gebiet der lesbischen Literatur herauszutreten und von einem großen Publikum als ernstzunehmende Autorin wahrgenommen zu werden. Die Nominierungen für den renommierten Man Booker Prize sind sicherlich ein Signal in die richtige Richtung.
Andrea Krug, die sich in ihrer Verlagstätigkeit weitgehend auf das Lektorat und die Übersetzungen konzentriert, hat sich sofort bereit erklärt, einige Fragen zu Krug & Schadenberg und Sarah Waters zu beantworten.
v.l.n.r. Andrea Krug und Dagmar Schadenberg
Copyright © by Chr. Böder
FRAGE
Zwei Romane von Sarah Waters sind bei Krug & Schadenberg erschienen. Was hat dich insbesondere dazu bewegt, sie in eurem Verlag zu veröffentlichen?
ANDREA KRUG
Kurz gesagt: die literarische Qualität. Sarah Waters gelingt es in beiden Romanen, eine dichte, teils sehr sinnenfreudige Atmosphäre zu erzeugen, atemberaubend dramatische Szenen und Wendungen zu entwickeln und Heldinnen zu schaffen, die keineswegs durchweg sympathisch, aber in jedem Fall faszinierend und fesselnd sind, so dass wir bei der Entwicklung ihrer Geschichte(n) mitfiebern und uns nicht von ihnen lösen können. Wobei der Roman Die Muschelöffnerin, Sarah Waters’ Debüt, erst auf Umwegen zu uns gelangt ist. Er wurde zunächst von unserer inzwischen leider verstorbenen Kollegin Susanne Amrain im Daphne Verlag verlegt, und wir haben sie immer ein wenig um dieses wundervolle Buch beneidet. Der Daphne Verlag ist damals ökonomisch in der Lage gewesen, dieses für einen kleinen Verlag sehr große Übersetzungsprojekt zu stemmen. Wir hingegen hatten um die Zeit mit Leslie Feinbergs ebenfalls recht umfangreichem Roman Stone Butch Blues zu tun – inzwischen auch ein Klassiker, der damals die Genderdebatte angestoßen hat. Letztlich wunderbar, dass beide so wichtigen Bücher dann sozusagen in gemeinsamer Anstrengung veröffentlicht werden konnten.
Als wir einige Jahre nach dem Tod der Verlegerin die Bestände des Daphne Verlags übernommen haben, um die Bücher weiterhin zugänglich zu halten, war Die Muschelöffnerin vergriffen, und wir haben beschlossen, den Roman erneut zu verlegen. Die Nachfrage hat uns recht gegeben, und auch wenn sich das Buch heute eher maßvoll, dafür aber stetig verkauft, freuen wir uns doch, diesen Klassiker im Programm zu haben.
Der Roman Solange du lügst, der ja vieles ist, unter anderem einer der faszinierendsten, atemberaubendsten historischen Kriminalromane, die ich je gelesen habe, war ebenfalls lange Zeit vergriffen, und da der ursprüngliche Verlag keine Anstalten machte, ihn neu aufzulegen, haben wir uns darum gekümmert. Es gibt einfach Bücher, die zugänglich sein müssen. Diese beiden Romane von Sarah Waters gehören für uns dazu.
FRAGE
Sarah Waters ist so ziemlich der einzige wirkliche big name in eurem Programm. Macht das für dich persönlich einen Unterschied bei der Einschätzung eurer Autorinnen?
ANDREA KRUG
Was ein big name ist, müssten wir erst mal definieren. Wenn wir vom literarischen Establishment reden, stimmt das vielleicht. Obwohl mir daneben auch sofort die Irin Emma Donoghue einfällt, die mit Raum hierzulande großen Erfolg hatte und deren Roman Zarte Landung wir kürzlich veröffentlich haben – eine zauberhafte transatlantische Liebesgeschichte. Doch was die Resonanz in der lesbischen Lesegemeinschaft angeht, gibt es noch einige andere Namen, die very big sind: Leslie Feinberg habe ich schon genannt; dann war Manuela Kuck über viele Jahre ein großer Name bei uns, ehe sie sich ganz dem Krimigenre zugewandt hat. Sie besaß eine riesige Fangemeinde, weil sie das bundesdeutsche Lesbenleben – gerade auch in der Provinz – so schön lebendig beschrieben hat – ähnlich wie Karin Kallmaker, die „Queen of Lesbian Romance“ in den USA, von der wir im kommenden Herbst wieder einen Roman veröffentlichen.
Zu den literarisch herausragenden Autorinnen bei uns im Programm, die es von der breiteren Öffentlichkeit noch zu entdecken gilt, würde ich auf jeden Fall Claudia Breitsprecher zählen, eine feine Stilistin und kluge Beobachterin, oder auch die Britin Shamim Sarif, deren Romane mit großem Erfolg verfilmt werden – genau wie die von Sarah Waters.
FRAGE
Sarah Waters ist wohl ohne Zweifel eine Autorin, die man eine große Erzählerin im Sinne von beispielsweise Charles Dickens oder Charlotte Brontë nennen könnte. Meiner Meinung nach sind nicht viele moderne Autoren dazu in der Lage, so liebenswerte und verletzliche Charaktere zu erschaffen und eine derartige, schon fast klassisch anmutende Dramatik aufzubauen wie Waters. Kennst du Autorinnen, die ihr in diesen Punkten das Wasser reichen können?
ANDREA KRUG
Ich finde ja, wie gesagt, die Charaktere von Sarah Waters keineswegs uneingeschränkt liebenswert und oftmals auch gar nicht so verletzlich. Für beide Eigenschaften fielen mir aus unserem Programm ganz andere Autorinnen ein, z.B. Ann Wadsworth, in deren Roman Mrs. Medina – mittlerweile der Late-Bloomer-Roman schlechthin – die gleichnamige Protagonistin mit dem Abschied von ihrem langjährigen Ehemann umgehen muss, dessen Leben sich dem Ende neigt, und gleichzeitig der Faszination nachgibt, die eine junge Blumenverkäuferin auf sie ausübt. Oder auch der Roman Die verborgene Welt von Shamim Sarif, in der sich zwei Protagonistinnen mit sehr verschiedenen Lebensentwürfen begegnen und sich eine zarte Annäherung anbahnt – das alles vor dem Hintergrund des Apartheid-Regimes in den sechziger Jahren in Südafrika. In punkto dramatische Spannung können diese beiden Romane problemlos mit denen von Sarah Waters mithalten, meine ich.
FRAGE
Sarah Waters hat sich in England ja einen riesigen Markt aufgebaut und erreicht, dass sie auch von Heteros und Männern gelesen und geschätzt wird. Glaubst du, dass sie die Sache der lesbischen Frauen sowohl im literarischen als auch gesellschaftlichen Sinne voran gebracht hat?
ANDREA KRUG
Ich denke schon. Leserinnen und Leser, die ihre Bücher entdecken und sie als Literatin zu schätzen wissen, werden ja quasi en passant mit lesbischen Inhalten konfrontiert – zumindest wenn sie sich auch mit den ersten Romanen der Autorin befassen. Schade, dass der lesbische Gehalt im Laufe der Zeit immer geringer zu werden scheint.
FRAGE
Hast du eine Ahnung, ob Sarah Waters‘ Publikum in Deutschland inzwischen ähnlich gemischt ist wie in England? Oder ist sie hierzulande immer noch eher eine Nischenautorin?
ANDREA KRUG
Als Nischenautorin würde ich sie keinesfalls bezeichnen – dazu wurde und wird sie viel zu breit rezipiert. Doch dass sie in England bei einem breiteren gemischten Publikum ankommt, hängt sicher auch damit zusammen, dass sie sich dort besser für ihre Bücher einsetzen kann, z.B. indem sie öffentlich auftritt. Das ist ja für sie ein Heimspiel; sie nach Deutschland zu holen ist sehr viel aufwändiger und kostenintensiver. Da müsste sich der Verlag, der ihre neueren Bücher herausbringt, stärker engagieren.
FRAGE
Die Cover der beiden Bücher mit sexy Fotos aus den jeweiligen Verfilmungen scheinen mir nicht unbedingt mit den Zielen lesbischer Frauen zu korrespondieren, nämlich dem Kampf nach Anerkennung und Gleichstellung sowie der Eindämmung von Homophobie und Diskriminierung. Ist das der Preis, den man als unabhängiger Verlag zu zahlen hat, wenn man auch wirtschaftliche Aspekte berücksichtigen muss?
ANDREA KRUG
Die Sichtweise, dass die Cover kontraproduktiv in dem von dir genanntem Sinn sein könnten, finde ich ein wenig befremdlich und gar nicht nachvollziehbar. Vielleicht sollten wir das an anderer Stelle diskutieren? Wir wollten mit den Fotos an die erfolgreichen Verfilmungen anknüpfen und damit eine breitere Aufmerksamkeit gewinnen, und zwar vor allem aus inhaltlichen Gründen: Für uns kommt nämlich in beiden Fotos sehr schön das lesbische Begehren in vergangenen Zeiten – 19. Jahrhundert – zum Ausdruck. Das gefällt uns, wurde lesbisches Begehren doch sehr lange Zeit verschwiegen, geleugnet, unterdrückt, unsichtbar gemacht – und für andere gar nicht so ferne Gegenden der Welt gilt das ja bis heute. Also von daher: gar kein Kompromiss nötig.
FRAGE
Wie ich von dir weiß, hast du die Übersetzungen von Die Muschelöffnerin und Solange du lügst, die ja beide zuvor schon in anderen Verlagen erschienen sind, anhand des englischen Originaltextes revidiert. Musstest du viel an den Übersetzungen überarbeiten?
ANDREA KRUG
Die Übersetzung von Susanne Amrain, die Die Muschelöffnerin ins Deutsche übertragen hat, war sehr gelungen. Da gab es letztlich wenig Überarbeitungsbedarf, und dennoch war die genaue Durchsicht allein schon wegen des Umfangs natürlich aufwändig. Bei Solange du lügst sah das anders aus – das hatte möglicherweise mit divergierenden Vorstellungen seitens der Übersetzerin und des deutschen Originalverlags zu tun. Doch ich denke, dass die nun vorliegende deutsche Fassung Sarah Waters gerecht wird.
FRAGE
In England erscheint dieses Jahr Sarah Waters‘ sechster Roman The Paying Guests. Gibt es eine Chance, dass der Titel bei euch erscheint?
ANDREA KRUG
Wenn wir uns im Wettbewerb mit einem Konzernverlag oder überhaupt einem großen deutschen Verlag befinden, haben wir naturgemäß geringe Chancen, vorausgesetzt der Roman gefiele uns (ich kenne ihn noch nicht) und käme für eine Veröffentlichung bei uns in Frage. Letzteres erfordert doch immer auch einen gewissen lesbischen Inhalt, wobei die Grenzen da jedes Mal neu gefunden werden müssen. Das kann verlagsintern, also bei Programmdiskussionen zu durchaus kontroversen Einschätzungen führen. Sehr spannend!
FRAGE
Hast du in der 21-jährigen Geschichte von Krug & Schadenberg schon einmal diesen magischen Moment gehabt, dass du ein Manuskript zu lesen begonnen hast und sofort wusstest, dass du dieses Buch ankaufen musst?
ANDREA KRUG
Ja! Auf jeden Fall. Mehr als einmal. Und gerade eben war es wieder soweit. Wir haben einen hinreißenden Roman entdeckt, in dem es um einen Jungen von 16 Jahren geht, Chris heißt er, der sich als Emily fühlt. Ich muss gestehen, dass ich anfangs skeptisch war, aber kaum hatte ich 15, 20 Seiten gelesen, wusste ich, das Buch will ich! Und da Dagmar genauso enthusiastisch war, war schnell klar: Das Buch machen wir! Das müssen wir machen! Erscheint im nächsten Frühjahr.
FRAGE
Welche Romane aus eurem Programm würdest du am ehesten heterosexuellen Leserinnen und Lesern ans Herz legen?
ANDREA KRUG
Oh, da gibt es ein sehr breites Spektrum. Zum Beispiel Claudia Breitsprechers Roman Auszeit, in dem eine Politikerin in den besten Jahren nach einem einschneidenden Erlebnis innehält und ihr Leben reflektiert. Gern auch Ivan E. Coyotes Roman Als das Cello vom Himmel fiel, in dem der Protagonist Joey versucht, damit klarzukommen, dass seine Frau ihn wegen einer anderen Frau verlassen hat. Oder den eben erschienenen Debütroman der Schwedin Sara Lövestam, der allerlei Denkmuster in Schwingungen versetzt – übrigens ähnlich wie Sarah Waters mit ProtagonistInnen, die keineswegs durchweg „liebenswert“ sind, aber nichtsdestotrotz oder gerade deswegen faszinieren.
Und ganz sicher rate ich auch zu den Büchern von Astrid Wenke, die sich immer um ein Politikum drehen: In Eine Milliarde für Süderlenau geht es um das Thema Bedingungsloses Grundeinkommen, in dem in Kürze erscheinenden Roman Windmühlen auf dem Wedding um die brisante Entwicklung in Sachen Gentrifizierung.
Und schließlich empfehle ich gern noch einen persönlichen Liebling von mir, einen sogenannten Spannungsroman, der vielen Leserinnen leider nicht lesbisch genug ist und der deswegen auch schon heftige Debatten ausgelöst hat: Turbulenzen von Leslie Larson. Eine grandiose Autorin! Turbulenzen ist eines der Bücher, die inzwischen ausschließlich als E-Book verfügbar sind – wie momentan auch Die verborgene Welt und Mrs. Medina, die ich ebenfalls einem gemischten Publikum ans Herz legen möchte. All unsere E-Books kann man sich seit einiger Zeit übrigens direkt aus unserem Webshop herunterladen, der auf unserer Website zu finden ist.
FRAGE
Andrea, ich danke dir für das Gespräch.
[Rezension] Sarah Waters – Die Muschelöffnerin
Originalveröffentlichung:
Tipping the Velvet (1998)
Direkt mit ihrem Erstling Tipping the Velvet gelang es Sarah Waters, dem Literatur-Kanon einen sehr wichtigen Roman hinzuzufügen. Da aber „wichtig“ noch lange nicht „gut“ heißt, bleibt zu klären, ob Tipping the Velvet auch ein guter Roman ist. Der Charme von Erstlingsromanen liegt ja oft in einer Art positiver Unprofessionalität der noch nicht von Markterfordernissen zerfressenen Schriftstellerseele. Auch Sarah Waters hatte für diesen Roman keinerlei Erwartungsdruck seitens eines Verlags oder einer Leserschaft, doch von positiver Unprofessionalität kann hier wirklich keine Rede sein. Sie hatte gerade ihre Doktorarbeit in Englischer Literatur – Wolfskins and Togas: Lesbian and Gay Historical Fictions, 1870 to the Present – beendet, als sie direkt ihre Recherchen an die Hand nahm und ihren ersten Roman ansteuerte. Ihre begeisterte Lektüre viktorianischer Literatur verbunden mit ihrer akademischen Ausbildung haben sicherlich ihren Beitrag dazu geleistet, dass man Tipping the Velvet niemals für einen Erstlingsroman halten würde, wenn man es nicht besser wüsste. Denn Waters ist stets die Herrin über ihren nicht einfachen Stoff und beeindruckt mit ihrer Ausgereiftheit in Dramaturgie und Personencharakterisierungen.
Tipping the Velvet ist ein Bildungsroman, der sieben Jahre im Leben des Austernmädchens Nancy Astley beschreibt. Zu Beginn wird Nancy gerade 18. Am Ende ist sie eine 25-jährige Frau, die genau weiß, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist.
Wir befinden uns im viktorianischen England Ende der 1880er Jahre. In einem kleinen Fischereinest an der Küste von Kent arbeitet die unscheinbare Nancy im Austernrestaurant ihrer Eltern. Sie erweckt nicht den Eindruck, dass ihr etwas fehlt im Leben, doch das ändert sich drastisch, als sie das hiesige Theater besucht und dort die Gesangsnummer einer jungen in einen Herrenanzug gekleideten Frau verfolgt. Es handelt sich um die aufstrebende Künstlerin Kitty Butler, die zum Abschluss ihrer Show jeweils einem Mädchen im Publikum eine Rose überreicht. Nancy ist nun nicht mehr davon abzubringen, ab jetzt regelmäßig Kittys Vorstellungen zu besuchen. Show um Show vergeht, ohne dass Nancy diejenige ist, die die Rose erhält. Als es dann so weit ist und Kitty Nancy zum Gespräch in ihren Umkleideraum bittet, ist für Nancy klar, dass sie sich in Kitty verliebt hat. Für Nancy ist das die einzige ihr mögliche Art, einen anderen Menschen zu lieben, doch der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist hoch.
Kitty und Nancy freunden sich an, und Nancy wird Kittys Garderobiere. Als Kitty sie dann fragt, ob sie sie für eine neue Stufe ihrer Karriere nach London begleiten würde, kann Nancy gar nicht anders, als ihrer großen Liebe zu folgen. Der Abschied von ihrer Familie und die Entfremdung von ihrer Schwester, die als Einzige in Nancys Gedanken eingeweiht ist und diese kategorisch ablehnt, sind ein Meisterstück psychologischer Einfühlung.
In London wird Kittys Gesangsnummer in neue Höhen geleitet, als Nancy, die ebenfalls ein Talent zum Singen hat, als ihre Partnerin mit auf der Bühne steht. Die Nummer wird ein großer Erfolg, und die Londoner Theater und Varietés, in denen sie auftreten, werden immer größer und berühmter.
Kitty, die längst geahnt hat, dass Nancy sie liebt, ist inzwischen auf Nancy zugegangen. Ein Liebespaar dürfen die beiden allerdings nur nachts auf ihrem Zimmer sein.
Als bisheriger Höhepunkt der beiden Mädchen, Nancy ist gerade mal 19, rückt eine Weihnachtsaufführung im renommierten Britannia näher. Doch innerhalb von Sekunden wird Nancys glückliche Welt mit gnadenloser Härte zerstört. Mittellos wird sie in den Moloch London ausgespuckt. An das Beste von Paul Auster erinnernd (Moon Palace [Mond über Manhattan] kommt mir in den Sinn) lässt Nancy sich, ihres Herzens beraubt, durch London treiben und beginnt ihre persönliche Odyssee, die einige Jahre dauern soll und sie u.a. als männlich verkleideter Stricher und als Lustsklavin einer wohlhabenden Sapphistin durch Bereiche navigiert, die der bürgerlichen Welt verborgen sind.
Der Titel des Buches – im Text der deutschen Ausgabe mit Den Samt berührt übersetzt (leider jedoch nicht als Buchtitel genutzt) – ist ein viktorianischer Slangausdruck für den Cunnilingus. Ein solcher Titel signalisiert natürlich: Sex. Im finsteren Mittelteil formuliert Sarah Waters auch zahlreiche explizite Sexszenen aus, die ins Obszöne und Pornographische übergehen. Teilweise sind diese Szenen die einzigen im Buch, die ich für nicht ganz gelungen halte. Natürlich geht es im Mittelteil nicht um Liebe und Sinnlichkeit, sondern um reine sexuelle Befriedigung. Trotzdem verlieren derart graphisch dargestellte Szenen an Kraft, wenn sie sich wiederholen. Schon allein deshalb würde ich Tipping the Velvet nicht als perfekt bezeichnen wollen. Aber, um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, Tipping the Velvet ist ein gutes Buch. Den ersten Teil des Romans würde ich sogar als makellos bezeichnen. Und die Beschreibungen eines vergangenen Londons mit seinen Theatern und Pferdekutschen lassen einen literarischen Ort entstehen, den man beinahe glaubt, selbst gesehen zu haben.
Sarah Waters hat sich definitiv mit Tipping the Velvet für einen Entwicklungsroman entschieden, der auf sprachliche Schnörkel gänzlich verzichtet und klassisch linear erzählt. Sprachlich stellt Waters keine hohen Anforderungen an die Leser, und doch ist da einiges, was sie schon in ihrem Erstling weit über den Durchschnitt der schreibenden Zunft erhebt. Tipping the Velvet saugt einen als Leser ins Geschehen hinein, sodass man nicht ablassen möchte. Schon Charles Dickens wusste genau, dass man seine Leser damit packt, indem man mit ihren Emotionen spielt. Das macht auch Sarah Waters. Doch weshalb ersaufen schlechtere Autoren in ihrem eigenen Zuckerguss, während Waters eine Stärke ausstrahlt, die uns bei ihr hält? Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Sarah Waters es schafft, dass ihre Charaktere uns so wirklichkeitsnah erscheinen. Ich glaube, es liegt auch daran, dass Waters sehr gut darin ist, zu beschreiben, wie ihre Protagonisten aufeinander wirken. Damit meine ich, dass zwischen ihnen nicht nur ein Textdialog stattfindet. Mit außergewöhnlicher Subtilität zeigt Waters uns auch auf, wie die Charaktere jeweils auf das Gesagte reagieren. Die kleinsten Nuancen dieser Reaktionen bewirken schon, dass wir als Leser die Sprechenden so deutlich vor uns sehen und uns derart intensiv in sie hineinversetzen.
Am Ende ist Nancy eine starke, mutige Frau, die es geschafft hat, das Erlebte für ein besseres Leben zu nutzen. Was kann man sich mehr wünschen?
Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Die Muschelöffnerin, übersetzt von Susanne Amrain, überarbeitet von Andrea Krug (Berlin: Krug & Schadenberg, 2011)
Lektorat: Uwe Voehl
dandelion | abseitige Literatur
Habe nach langem Hin-und-her beschlossen, den Untertitel meines Blogs umzutaufen. Leider wurde das Wort „phantastisch“ immer wieder hartnäckig als Fantasy und Horror interpretiert. Ich möchte mich aber nicht mehr weiter selbst damit einengen.
Ich betone aber, dass ich phantastische Literatur ausgesprochen liebe – aber eben nicht nur.
Kann ein Roman ein Leben verändern?
Ich kann diese Frage definitiv mit Ja beantworten. Zwar gibt es mehrere Romane, die meine Gedanken für eine bestimmte Richtung geschärft haben, aber nur von einem Buch kann ich wirklich sagen, dass mein Leben wohl anders verlaufen wäre, hätte ich es nicht gelesen: Little Big von John Crowley. In dem umfangreichen Roman geht es um einen „wesenlosen“ New Yorker (einer, auf dessen Schoss sich Leute in der U-Bahn setzen, ohne es zu merken), der sich in ein Mädchen verliebt, das einen Kopf größer ist als er und mitsamt ihrer Familie auf dem Land lebt. Im weiteren Verlauf lernen wir diese schräge und obskure Familie näher kennen. Die Art, wie sie leben ähnelt einem Hippie-Paradies (allerdings ohne die Attitüde, etwas Cooles zu tun). Aber so traumhaft dieses Leben ist, wir lernen, dass auch hier die Menschen Probleme und Sorgen haben wie wir alle. Auch ihr Leben dreht sich letztendlich um Liebe, Tod und Sex.
Wie arm wäre mein Leben wohl ohne dieses Buch?
Habt auch ihr ein Buch, das euer Leben für immer verändert hat?





