Michael Moorcock | Mutter London

Die Times stufte Michael Moorcock (*1939) als einen der fünfzig besten britischen Schriftsteller seit 1945 ein. Hierzulande ist er jedoch hauptsächlich für seine wilden und richtungsweisenden Fantasy-Serien (z.B. die um Elric von Melniboné) bekannt, die bei der Einstufung durch die Times vermutlich eine untergeordnete Rolle spielten. Was vielen nicht bekannt ist: Neben den zwar sehr einflussreichen, teils aber auch trivialen Fantasy-Serien hat Michael Moorcock, der der Letzte ist, der das abstreitet – elitär formuliert – einige relevante literarische Romane und Erzählungen verfasst. Zu nennen wären da die auch auf Deutsch erschienenen völlig verrückten Chroniken um Jerry Cornelius (4 Bände plus Nebengeschichten), sowie das mächtige Buchquartett Between the Wars (von dem leider nur der erste Band Byzanz ist überall ins Deutsche übersetzt wurde). Darin versucht Moorcock über den verlogenen, antisemitischen Erzähler Pyat, der selbst Jude ist, auszuloten, warum der Faschismus derart ausufern konnte.
Ein Vergleich der vielen Interviews, die mit Michael Moorcock geführt wurden, mit Mutter London zeigt, dass es sich um Moorcocks bei weitem autobiografischsten Roman handelt. Durch den Kunstgriff, allen drei Hauptcharakteren Züge und Erlebnisse Moorcocks zuzuteilen, wird dies jedoch nur bei näherer Betrachtung deutlich.
Mary Gasalee ist die Nabe, um die sich Mutter London dreht. Die wiedererwachte Mary strahlt etwas Zauberisches aus. Ihre erstaunliche Gelassenheit entzündet und bezaubert ihr Umfeld. Inmitten des Zweiten Weltkriegs, während der zermürbenden Luftangriffe der Deutschen auf London, wird ihr Haus getroffen, doch sie und ihre kleine Tochter überleben. Allerdings fällt Mary ins Koma und schläft und träumt, an lebenserhaltende Systeme angeschlossen, wie eine Prinzessin im Märchen fünfzehn Jahre lang. Bis sie schließlich lange nach Kriegsende wieder erwacht.
Dies wird allerdings keinesfalls chronologisch erzählt, sondern erinnert eher an eine riesige Fotokollage mit lauter Porträts unterschiedlichster Menschen in unterschiedlichsten Zeitabschnitten. Was Moorcock dann dramaturgisch sehr gekonnt macht, ist, diese Collage in tausend Schnipsel zu zerreißen, um sie lachend wie Konfetti in die Luft zu werfen. Die Fetzen anschließend aufzusammeln und jeweils zu betrachten, entspricht in etwa dem Gefühl, diesen großen Roman von Anfang bis zum Ende zu lesen.
Die Handlung beginnt einige Jahre nach Kriegsende in einer psychiatrischen Einrichtung. Dort verbringt Mary Gasalee phasenweise ihre Zeit, nachdem ihr derart viele Jahre ihres Lebens fehlen. Ihr soziales Umfeld dort besteht hauptsächlich aus Mr. Kiss und David Mummery. Eine etwas befremdliche Eigenschaft hat die drei zusammengeführt: Sie können die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen – ob sie wollen oder nicht.
Das ist die Grundkonstellation von Mutter London. Nun bricht das Buch auf und verfolgt die nichtchronologischen Wege dieser drei Handlungsträger und ihrer zahlreichen Bekannten und Freunde durch London von 1940 an bis zur zweiten Hälfte der achtziger Jahre.
Moorcock schildert ein realistisches London, das uns beeindruckend plastisch vor Augen geführt wird. Dies ist auch ein Verdienst der hervorragenden Übersetzung von Hannes Riffel, der sich auf die zahlreichen sprachlichen Zwischentöne einlässt. Wir verfolgen zahllose Pub-Besuche, die oft in intellektuelle, philosophische oder politische Diskussionen münden. Wir besuchen Orte in London, die in keinem Reiseführer stehen. Wir werden Zeugen polizeilich gesteuerter rassistischer Angriffe auf Menschen, die im Krieg britisches Leben gerettet haben, heute jedoch die »falsche« Hautfarbe besitzen. Und schließlich werden wir Zeugen davon, wie die Bewohner Londons (wie auch Moorcock selbst) den Krieg erleben mussten – ein Hauptthema des Romans. Das Kapitel, das in der Idylle von Bank Cottage spielt – einem unzugänglichen und vergessenen Grundstück inklusive altem Landhaus, das von den beiden faszinierenden Schwestern Scaramanga bewohnt und bewirtschaftet wird –, liest man atemlos, wenn die Apokalypse des ersten Blitzangriffs die Welt Londons erschüttert. Moorcock findet spektakuläre erzählerische Bilder für das tosende Inferno, das von deutschen, den Himmel verdunkelnden Kampfflugzeugen verursacht wird. Diese Bilder zählen meines Erachtens zum Besten, was Literatur zu beschreiben vermag. Das ist schlichtweg meisterhaft.
Die vielen Charaktere, die Mutter London besiedeln, sind untrennbar mit London verbunden. Wie Organe eines riesigen Organismus sind sie London. Selbst die gedankenleserischen Fähigkeiten der drei Hauptprotagonisten funktionieren ausschließlich in London. Durch die zahlreichen Stimmen, die die Metropole beseelen, erwächst Moorcocks London beinahe zu einer mythischen, ewigen Stadt. Eine größere Liebeserklärung kann ein Schriftsteller seiner Geburtsstadt nicht machen.
Die Themen, die Moorcocks Roman behandelt, sind auch heute, 37 Jahre nach dem ersten Erscheinen, keineswegs veraltet. Was Moorcock besser macht als viele Autoren zeitkritischer Romane, ist seine Fähigkeit, so zu fabulieren, dass man niemals das Gefühl hat, der Autor wolle uns etwas Bedeutsames sagen. Moorcock erzählt einfach »nur«. Er beschreibt wichtige Themen und Ereignisse, die seinen Charakteren, für die er eine spürbare Sympathie hegt, in ihrem ganz normalen Leben widerfahren. Mutter London ist ein Plädoyer für Toleranz, obwohl das Wort im Roman nicht genannt wird. Die Charaktere – egal ob Schwarze, Weiße, Inder, Zigeuner, Schwule, Lesben, junge oder alte Menschen – leiden, trauern, lachen und feiern gemeinsam und erwärmen unsere Herzen.
Mutter London ist damit ein wertvoller Roman, der jedoch erst erobert werden will. Er lädt dazu ein, ihn wiederholt zu lesen, denn dann erblühen die Charaktere noch größer und farbiger. Moorcocks Schreibstil ist anfangs ungefällig und voller spitzer Klüfte, die sich jedoch glätten, je tiefer man in die Geschichte eintaucht.
Letzlich ist Mutter London ein wohltuend positiver Roman voller Humor, der das Beste in uns weckt. Am Ende steigt im wunderschönen Bank Cottage eine große Party, bei der fast alle Handlungsträger noch einmal zusammenkommen. Wehmütig denkt man: Ihr lieben Leute, lebt bitte ewig so weiter.

Originalausgabe: Mother London (1988)
Deutsche Übersetzung: Hannes Riffel
Wittenberge: Carcosa, 2025