[Rezension] Peggy Wolf – Acker auf den Schuhen

Originalveröffentlichung, 2014

Acker auf den Schuhen

Irgendwann steht wahrscheinlich jede Schriftstellerin, jeder Schriftsteller vor der Frage: Lehne ich mich eher den Publikumsvorlieben entgegen oder versuche ich etwas annähernd Wahrhaftiges zu erschaffen? Mit Wahrhaftigkeit im literarischen Sinne meine ich, der Innenwelt des realen Lebens fiktiv so nahe wie möglich zu kommen, ohne all die möglichen Emotions- und Handlungsspitzen so weit auszureizen, dass sie zwar den Verlag zufrieden machen, letztlich aber die Ambitionen des Schriftstellers aufweichen.
Ich bin mir sicher, Peggy Wolf wusste von Anfang an, welchen Weg sie mit ihrem Erstlingsroman Acker auf den Schuhen gehen würde. Und zwar definitiv nicht den leichten, publikumswirksamen.
Schon der erste Satz legt uns nahe, bloß nicht zu glauben, dass der Anlass des nachfolgenden Familientreffens mit Freude verbunden sei: “Als der Sarg kam, fuhr Waltraud zum Bestatter.“
Waltrauds Haus füllt sich nach und nach mit den Gästen: ihrer jüngsten Tochter Anne, der mittleren Tochter Betty, deren Angehörigen. Der Grund des Familientreffens ist die Beerdigung von Waltrauds ältester Tochter Susann. Von Anfang bis Ende des Buches vergeht nicht viel Zeit. Klammert man das Abschlusskapitel aus, sind es nicht einmal zwei volle Tage, die in Echtzeit vergehen. In dieser Zeit geschieht nichts weiter als die Beerdigungsvorbereitungen und das eigentliche Begräbnis.
Das, was Peggy Wolf uns aber wirklich zu sagen hat, geschieht auf gedanklicher Ebene. Ähnlich wie in Mrs Dalloway von Virginia Woolf wechseln die Gedanken- beziehungsweise Erzählebenen fließend. Diese Perspektivwechsel sind nicht etwa an starre Konzeptgrenzen wie Kapitel etc. gebunden. Das bewirkt, dass die Gedankenströme uns Leserinnen und Leser erreichen als seien wir zu Gast in den Köpfen der Protagonistinnen.
Acker auf den Schuhen ist das, was man zu Recht ein feminines Buch nennen kann. Nicht aber im Sinne von Feminismus sondern in dem Sinne, dass die Frauen das Geschehen steuern. So sind es auch ausschließlich die Frauen, die uns ihre Gedanken schenken. Allen voran die bigotte Mutter Waltraud, die gefangen ist in ihrer Welt aus Pflichterfüllung und äußerer Sauberkeit. Daneben hauptsächlich zu (denkendem) Wort kommt Anne, die Tochter, die am meisten unter dem Tod ihrer großen Schwester zu leiden hat, da sie es als einzige neben ihrer nun toten Schwester Susann geschafft hat, frei zu denken und zu handeln, wenn auch zum Preis lebenslanger Gewissensbisse.
Das traurige Schicksal Susanns öffnet sich nur zögerlich. Lesbisch in einem homophoben Dorfmikrokosmos, trägt sie schon als Jugendliche das Stigma der Verdammten. Sie hat keine Chance, und dieses Wissen bricht nicht nur ihrer kleinen Schwester Anne sondern auch uns Lesenden das Herz.
Wie schon gesagt, ist Acker auf den Schuhen ein Buch der weiblichen Stimmen. Anne, die Susann geliebt hat, die nie Anstoß daran genommen hat, dass Susann lesbisch ist, ist letztendlich die einzige weibliche Sympathieträgerin. Waltraud ist nicht mehr zu helfen. Sie wird niemals realisieren, dass sie ihr Leben (und das ihrer ältesten Tochter) verschwendet hat. Verschwendet an eine Religion und an eine gnadenlos gelebte Erziehung, die ihr nicht annähernd das geben konnten, was freie Gedanken ihr hätten geben können. Auch ihre Tochter Betty ist vom Wege abgekommen. Ihre Welt aus finanzieller Freiheit und selbst gesetzter emotionaler Limitierung gibt ihr zwar die Sicherheit unbeschadet durchs Leben zu kommen, aber wirkliche Qualität hat ihr Leben nicht.
Peggy Wolfs lobenswert differenzierte Darstellung des Gesamtthemas zeigt sich aber besonders deutlich im männlichen Personal. Während Waltrauds ehemals despotischer, nun durch einen Schlaganfall außer Gefecht gesetzter Ehemann und Bettys Gatte in ihrer geistigen Beschränktheit indiskutabel sind, zeigt insbesondere Annes Freund Robert, dass es für Peggy Wolf nicht in Frage kommt, Geschlechter gegeneinander auszuspielen. Robert ist der wohl einfühlsamste Charakter im Roman. Nicht nur, dass er seine eigenen Gespenster zu bewältigen hat – offensichtlich hat er die lesbische Susann geliebt -, er navigiert auch permanent emphatisch zwischen Anne und ihren beiden gemeinsamen Kindern und füllt klaffende Traurigkeitslücken mit Trost und Halt.
Peggy Wolf hat mit Acker auf den Schuhen einen hochrangigen, deutlich aus der Masse herausstechenden Roman geschrieben, der besondere Beachtung durch eine kraftvolle Stilistik verdient, jenem geheimnisvollen Wie, ohne das dieses Werk nicht annähernd so spektakulär wäre, wie es tatsächlich ist. Womit es nämlich wahrhaft herausragt, ist die sprachliche Ruhe und ein gleichbleibend gedrosseltes Erzähltempo. Die Autorin hat die magische Fähigkeit, die Zeit zu verlangsamen.
Peggy Wolf ist eine bemerkenswerte Stilistin, deren Prosa schon in diesem ersten Roman von enormer Reife zeugt und jederzeit das Signal aussendet, die völlige Kontrolle über den selbstgewählten Stoff zu haben. Neigt man bei schwächerer Lektüre schon mal dazu, interne Fehler und Ungereimtheiten aufspüren zu wollen, genießt man in Acker auf den Schuhen einfach nur die sprachliche Virtuosität, die aber nie so wirkt als wolle sie virtuos sein. Mit Bravour umschifft Peggy Wolf alle nur denkbaren Klischees, die man in einem Roman dieser Thematik eigentlich erwarten würde. Sie liefert nur die Geschichte. Für Betroffenheitsgestik, Sozialkritik und Anklageverlesung gibt sie sich nicht her. Sie liefert das düstere, durch einen warmen Humor gemilderte Material. Was jeder für sich sich daraus mitnimmt, ist nicht mehr ihre Baustelle.
Acker auf den Schuhen ist ein großer Roman über die Schuld. Ein Menschenleben wurde ausgelöscht. Die einzige, die keinerlei Schuld trifft, zerbricht daran, dass sie sich schuldig fühlt. Alle anderen, die über Susanns Untergang entschieden haben, verstecken sich hinter der Sicherheit ihrer fortwährend heruntergebeteten Psalmen der Intoleranz.
Acker auf den Schuhen ist ein meisterhafter Roman.

Vernon Lee | Die Puppe

Originalveröffentlichung:
The Image (1896)
[späterer Titel: The Doll]

Vernon Lee - Die Puppe

Das Puppenabbild einer bereits lange verstorbenen unglücklichen aristokratischen Frau löst das feministische und sexuelle Erwachen einer desillusionierten Antiquitätensammlerin und Ehefrau aus.

Vernon Lees Kurzgeschichte “The Image“ [“Die Puppe“] ist ein früher, bei genauem Hinschauen recht deutlicher Beitrag zum Feminismus und lesbischen Begehren. In einer Zeit entstanden, die derartige Gedanken einer Frau nur verschlüsselt auf Papier zuließ, hatte die renommierte Kunstkoryphäe Vernon Lee, die im wirklichen Leben Violet Paget hieß, eigene Wege gefunden, ihre Dämonen in die literarische Öffentlichkeit zu tragen. Sie schrieb eine Reihe von sogenannten “übernatürlichen“ Erzählungen, deren Genre-Rahmen ihr die Freiheit gab, ihre dringlichsten persönlichen Präferenzen einem öffentlichen Publikum als Beigabe zu ihren auch so schon ausgesprochen faszinierenden Texten zu überlassen. Ihre Geschichten zeichnen sich aus durch einen eleganten, feinsinnigen Schreibstil, dessen erstaunliches Nebenergebnis es ist, dass sie sich auch heute noch wie moderne Prosa lesen lassen. Bestes Beispiel dafür ist auch ihre meisterhafte Novelle “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“].
“The Image“ erschien zuerst 1896 in der Zeitschrift The Cornhill Magazine und blieb unbeachtet (und wahrscheinlich unverstanden). Erst drei Jahrzehnte später erfuhr die Geschichte ihre erste Buchveröffentlichung in einem Erzählungsband der Autorin.
Die namenlose Ich-Erzählerin berichtet uns von ihrem Abstecher in ein kleines Städtchen in Umbrien, wo sie ihrer Leidenschaft, dem Sammeln von Antiquitäten, frönen will. Das Angebot eines verschuldeten Adligen führt sie in einen leicht heruntergewirtschafteten Palast, wo sie antikes Tafelgeschirr erwirbt.
Alles ändert sich aber urplötzlich für sie, als sie durch Zufall der lebensgroßen Puppe einer Frau begegnet. Es handelt sich dabei um die Nachbildung einer schon seit vielen Jahren toten Ahnin des jetzigen Palastbesitzers, einer Gräfin, von der bekannt ist, dass sie noch sehr jung im Kindbett starb, nachdem sie jahrelang im Schatten ihres sie vergötternden aber sie nicht als Frau mit eigenen Wünschen und Begierden wahrnehmenden Ehemannes verkümmerte.
Vom ersten Moment an solidarisiert sich die Erzählerin mit der Puppe, die für sie in ihrer Wirkung identisch mit der einstigen lebenden Gräfin ist. Die Beziehung zu dem Abbild, das für sie keinen Unterschied zu der “Frau, der sie nachgebildet war“ macht, wird ihr kleines Geheimnis. Welchen Stellenwert die Puppe für sie einnimmt, zeigt sich schon damit: “Glauben Sie etwa, ich hätte meinem Mann jemals von der Puppe erzählen können? Dabei erzähle ich ihm sonst alles von mir […].“
Warum das so ist, erklärt sich aus der begründeten Vermutung, dass sie vermutlich lesbisch ist. Ihr Mann, der lieber durch Abwesenheit glänzt und “Besseres zu tun“ hat als sie auf ihren “Nippes-Exkursionen“ zu begleiten, ist sicherlich nicht der richtige Gesprächspartner für ein derartiges Thema.
Von Beginn an besteht eine spürbare Intimität zwischen der Erzählerin und der Gräfin. Zum einen sorgt bereits die Erkenntnis dafür, dass die Kleidung der Puppe die originale Kleidung der Gräfin ist. Es gibt weiterhin versteckte Symbole wie etwa die Perücke mit dem echten Haar der Gräfin. Trug eine Dame im frühen 19. Jahrhundert in der Öffentlichkeit ihr Haar stets hoch gesteckt, wirkt das offene Haar der Perücke wie eine Einladung in einen privaten Bereich, zu dem gewöhnlich nur Dienstmädchen und Ehemann Zutritt hatten.
Diese Symbolik weitet sich zunehmend aus in eine sehnsuchtsvolle, erotisierte Sprache. So löst die Puppe zutiefst etwas in ihr aus, so “dass ich den ganzen Tag an sie dachte.“ Weiter schreibt sie: “Es war, als wüsste ich bereits alles über sie“ und “Immer wieder sah ich sie vor mir […].“
Das alles sind Formulierungen, die von Leidenschaft zeugen, ja, die einer romantisch verehrten Person vorbehalten sind und gewöhnlich in keinem anderen Kontext gebraucht werden als dem Verliebtsein.
Am Ende steht die Erzählerin allein mit dem Ehering der Puppe da, dem Symbol ihrer erweckten Leidenschaft und ihrer neu erlangten geistigen Freiheit. Die kraftvolle Metaphorik dieser Schlussszene symbolisiert die tiefe feminine Verbundenheit der beiden Frauen. Über ein Jahrhundert hinweg.

Deutsche Übersetzung: “Die Puppe“, übersetzt von Oliver Plaschka, in: Frank R. Scheck & Erik Hauser (Hrsg.), Als ich tot war – Dunkle Phantastik der britischen Dekadenz, Band 2 (Windeck: Blitz, 2008)

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Vernon Lee | Amour dure

Vernon Lee | Oke von Okehurst

Originalveröffentlichung:
A Phantom Lover (1886)
[späterer Titel: Oke of Okehurst]

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Auf einem alten englischen Landsitz stellt sich für einen Auftragsportätmaler sein Modell als eine außergewöhnlich faszinierende aber auch abgründig gespenstische Frau heraus.

Nicht oft hat mich ein literarisches Werk gleichzeitig so fasziniert und so ratlos zurückgelassen wie dieses. Es provoziert Fragen über Fragen, die sich nicht zufriedenstellend beantworten lassen; mögliche Lösungsansätze, die nur noch mehr Fragen aufwerfen, anstatt Antworten zu geben. Und immer dieses schreckliche Gefühl, der Lösung so nah zu sein.
Vernon Lee, die renommierte Kunstkennerin, die eigentlich Violet Paget hieß, ist in ihren phantastischen Erzählungen stets ein Garant für exquisite Prosa, stilistisch immer elegant und geschliffen. Die Novelle “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“] – zuerst als eigenes Buch erschienen, später in Sammelbänden und Anthologien nachgedruckt – gehört zum Beeindruckendsten, was sie geschrieben hat. Mit der Sicherheit eines Messerwerfers wirft sie die Elemente des klassischen Schauerromans ins Ziel und dehnt das Genre dank Psychologie erstaunlich weit auf.
Liebhaber der gothic novel werden auf ihre Kosten kommen, denn alles ist da: ein alter englischer Landsitz, ein finsteres Schlüsselereignis in der Vergangenheit, das unheimliche Gemälde einer doppelgängerischen Ahnin, Andeutungen eines Geistes und eines Familienfluchs. Und doch ist es bei Vernon Lee viel, viel mehr oder viel, viel weniger als das.
“A Phantom Lover“ lässt sich auf sehr verschiedene Arten lesen, denn Lee bietet gleich mehrere Interpretationsansätze an. Mir jedoch scheint die Nabe, um die die Geschichte kreist, in erster Linie die seltsame Beziehung des männlichen namenlosen Ich-Erzählers zu seinem Modell zu sein.
Unzuverlässige Erzähler gibt es zuhauf in der Literatur, aber unser Erzähler ist so geschickt, dass man ihm kaum etwas bezüglich seiner Unseriosität anlasten kann. Ich habe nur zwei Stellen gefunden, in denen er nicht ganz sauber berichtet. So wird Oke von Okehurst bei seinem Besuch beim Erzähler von “seinem Freund“ (Italics, auch in den nächsten beiden Zitaten, von mir) begleitet. Im gesamten späteren Text hat er aber keinen solchen Freund. Wenige Sätze später spricht der Erzähler bezüglich des Begleiters von “meinem Freund“. Dies und die vage Beschreibung lassen vermuten, dass Mr. Oke bei diesem ersten Zusammentreffen von seiner Frau in Männerkleidung begleitet wird. Auch in der zweiten etwas zweifelhaften Szene verschweigt uns der Erzähler etwas bezüglich seines Verhältnisses zu Mr. Oke: “[…] er stellte mir keine Fragen mehr bis auf eine.“ Dann lenkt er ab. Wie die Frage lautete, sagt er uns nicht. Lautete sie vielleicht: “Kann es sein, dass Sie meine Frau lieben?“ Spekulation, ich weiß.
Der schüchterne Mr. Oke erteilt dem Erzähler den Auftrag, den Sommer 1880 über, ihn und seine Frau zu porträtieren. Da sich der Erzähler gerade in einer Phase des Misserfolgs befindet (er hatte eine einflussreiche korpulente Dame “alt und vulgär“ gemalt, “was sie ja auch war.“), sagt er sofort zu.
Er reist nach Kent zu den Landedelleuten und ist vom ersten Moment an gebannt von Mr. Okes Frau Alice. Den gesamten folgenden Text reichert er mit Beschreibungen Alices an, die von einer grundsätzlichen, leidenschaftlichen Huldigungen der weiblichen Schönheit zeugen. Die Addition dieser Beschreibungen macht Alice zu einem Idealbild, ähnlich Edgar Allan Poes “Ligeia“ [“Ligeia“]. So feiert der Erzähler Alice etwa als “die anmutigste und vollkommenste Frau“, die er je gesehen habe. “Sie war sehr groß“ und “gertenschlank“ und “[w]ahrscheinlich das wunderbarste Wesen, das ich je getroffen habe“. Immer wieder hebt er “ihr schönes, blasses, durchscheinendes Gesicht“ und “die erlesene Geschmeidigkeit ihrer großgewachsenen Gestalt“ hervor.
Als der Erzähler darangeht, Mr. und Mrs. Oke zu malen, wird schnell deutlich, wem von beiden seine Prioritäten gelten. Während er Mr. Oke ohne vorherige Skizzen malt, fertigt er von Mrs. Oke wochenlang Entwurf um Entwurf an und rechtfertigt das damit, dass er noch nicht die richtige Position seiner Muse gefunden habe: “Sie hob ihre wunderschön großen, blassen Augen, wobei sie die erlesene Neigung von Schultern und Nacken und ihres delikaten bleichen Kopfes zeigte, die ich vergeblich einzufangen suchte.“ Auch eine Methode, möglichst viel Zeit mit Mrs. Oke zu verbringen.
Da er wohl selbst merkt, dass sein Verhalten ihn irgendwann verdächtig machen könnte, setzt er auf die Devise “Angriff ist die beste Verteidigung“: “Ich interessierte mich für Mrs. Oke, als wäre ich in sie verliebt, und doch war ich nicht im Geringsten in sie verliebt.“
Bedenkt man, dass er eigentlich nur ein neutraler Erzähler ist, der offiziell an den Ereignissen auf Okehurst selbst nicht aktiv Anteil hat, findet hier doch erstaunlich viel persönliche Interaktion mit den Personen statt, über die er eigentlich nur wertfrei erzählen soll.
Nach und nach ist es jedoch nicht nur die Schönheit Mrs. Okes, die den Erzähler so anzieht: “Diese Frau versetzte mich entschieden in Schrecken.“ Er findet etwas “beinahe Abstoßendes an dieser wunderschönen Frau. Plötzlich wirkte sie pervers und gefährlich auf mich.“
Was an Mrs. Oke ist pervers? In der Novelle kann ich nach heutiger Sicht nichts finden, was diese Wortwahl rechtfertigen würde. Gewinnbringend könnte es daher an dieser Stelle sein, das private Leben der Autorin heranzuzuziehen. Ja, ein literarisches Werk sollte für sich selbst stehen, auch ohne nähere Informationen zur Autorin oder zum Autor zur Verfügung zu haben. Im Fall von Vernon Lee ist es aber nicht unvorteilhaft zu wissen, dass sie ziemlich sicher lesbisch war. In vielen ihrer Erzählungen wählt sie einen männlichen Erzähler als Medium, um eine abgründige, meist unheilbringende Frau darzustellen. Natürlich kann man auch hier nur spekulieren, aber diese Erzählperspektive bot Vernon Lee grundsätzlich die Möglichkeit, leidenschaftlich über andere Frauen zu schreiben, ohne im prüden neunzehnten Jahrhundert von ihrer Leserschaft als frauenliebende Frau wahrgenommen und geächtet zu werden. Die Beschreibungen Mrs. Okes sind, wie wir gesehen haben, geprägt von der erregenden Faszination, die diese außergewöhnliche Frau auf den Erzähler ausübt. Im viktorianischen England galten lesbische Frauen als pervers. Es mag ja irregeleitet sein, hier die Erklärung zu suchen, aber Vernon Lee bietet uns zusätzlich mit dem Cross-Dressing der beiden Alice Okes einen weiteren Wink für einen solcherart möglichen Hintergrund.
Aber wie auch immer: In der vorliegenden Novelle ist alles möglich, bei weitem nicht nur meine Lesart. Vielleicht dreht sich ja wirklich alles nur um den vergeblichen Eifersuchtskampf gegen einen Phantomliebhaber. Oder, vielleicht hat die Lesart für alle die, die es sich einfach machen wollen, Vorrang: Die Okes sind schlicht und einfach wahnsinnig.

Deutsche Übersetzung: “Oke von Okehurst“, übersetzt von Josef Ehold, in: Franz Rottensteiner (Hrsg.), Viktorianische Gespenstergeschichten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987)

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Oliver Onions | Der Unfall

Originalveröffentlichung:
The Accident (1911)

Mit großer Subtilität lenkt Oliver Onions diese Geschichte einer gescheiterten Männerfreundschaft in eine unwirkliche Richtung.

Die Besonderheit an Oliver Onions‘ Schauergeschichten ist das Vorhandensein eines menschlichen Grundkonflikts, der das existenzielle Fundament der Realität abbildet, die beinahe folgerichtig unmerklich mit unheimlichen Abweichungen in Frage gestellt wird.
So auch in seiner Kurzgeschichte „The Accident“ [„Der Unfall“], die mit großem sprachlichen Geschick eine zerbrochene Männerfreundschaft rekonstruiert. Der 64-jährige Romarin macht sich auf den Weg in das Restaurant, wo er vierzig Jahre zuvor wegen irgendeines Mädchens eine Schlägerei mit seinem Freund Marsden hatte. Eine Schlägerei, die die Freundschaft der beiden Studenten abrupt beendete. Jetzt will er an diesen Ort zurückkehren, um zum ersten Mal seit damals Marsden zu treffen, der Romarins Einladung zu einem Wiedersehen zugestimmt hat.
Romarin, dessen Ziel es ist, dieses Lebenskapitel doch noch zum Guten hin zu wenden, merkt jedoch schnell, dass durch Marsdens Adern immer noch Feindseligkeit gegen ihn strömt. Als eine Art Bestandsaufnahme beschreiben sie jeweils ihre Lebensläufe. Romarin ist ein berühmter Maler, „[…] ausgezeichnet, preisgekrönt, von Monarchen beim Arm genommen […]“, während Marsden seit all den Jahren von der Hand im Mund lebt und als versoffener Straßenauswurf im Zwielicht der Gesellschaft auch mit kriminellen Mitteln um sein Auskommen kämpft. Wie Marsden plötzlich mit hämischer Freude aufdeckt, muss das Mädchen, um das die beiden sich so viele Jahre zuvor geschlagen haben, Romarin sehr viel mehr bedeutet haben, als er uns anfangs glauben gemacht hat. Die Schlägerei von damals droht vierzig Jahre später ihr wahres blutiges Finale zu finden, doch Onions hat noch ein As im Ärmel, das „The Accident“ eine überraschende phantastische Doppelbödigkeit verleiht.
„The Accident“ mag aufgrund der textlichen Knappheit zunächst etwas enttäuschen, aber wie so oft bei Oliver Onions, offenbart sich die Tiefe erst, wenn die Lektüre längst beendet ist und die Gedanken ihre Arbeit aufnehmen.

Deutsche Übersetzung: „Der Unfall“, übersetzt von Richard Bellinghausen, in: Michael Görden (Hrsg.), Totentanz – Gespensterbuch 3 (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

Algernon Blackwood | Der Zentaur

Originalveröffentlichung:
The Centaur (1911)

Algernon Blackwood - Der Zentaur

In seinem mystischen Schlüsselroman schreibt sich Algernon Blackwood, der große Erzähler unheimlicher Geschichten, in einem zeitweise delirierenden Schreibstil voller rauschhafter Naturbeschreibungen die eigenen inneren Untiefen von der Seele.

Autoren, die in ihren Werken aus den Tiefen ihres Selbst schöpfen und somit die Literatur als Medium ihrer eigenen Befindlichkeiten nutzen, lassen sich oft auf ein Schlüsselthema fokussieren, über das sie letztlich immer wieder schreiben. Es ist spannend für Leute wie mich, ein solches Sujet im Werkkontext eines Autors herauszuarbeiten, aber ein wahrer Glücksfall ist es, wenn ein Schriftsteller uns ein Schlüsselwerk an die Hand gibt, das sein gesamtes Restwerk in einem neuen Licht erscheinen lässt, es quasi auf ein völlig anderes Fundament stellt. Hat man ein solches Werk gelesen, raunt es einem zu, dass man nun ausreichend gerüstet sei, mit diesem neu gewonnenen Wissen noch einmal ganz am Anfang der Bibliographie desjenigen einzusteigen.
Was beispielsweise für das Verständnis Arthur Machens dessen Roman The Hill of Dreams [Der Berg der Träume] ist, ist The Centaur [Der Zentaur] für das Gesamtwerk Algernon Blackwoods. Blackwood hatte unter anderem mit seiner Novelle “The Willows“ [“Die Weiden“] (1907) der englischen Schauerliteratur einen unsterblichen Beitrag spendiert, aber welcher spirituelle Treibstoff den Autor zeit seines Lebens offenbar antrieb, das eröffnet uns erst der Roman The Centaur.
Ginge es hier nur um Plot, würde der Umfang einer Kurzgeschichte ausreichen, um das Geschehen abzubilden. Aber wie schon dargelegt ist The Centaur für Algernon Blackwood wesentlich mehr als einfach nur eine Geschichte. Es ist Manifest, Grundsatzprogramm und persönliche Bibel in einem.
Derjenige, der uns die Geschichte erzählt, ist ein unbeteiligter Ich-Erzähler, der am Ende gar nicht mehr so unbeteiligt wirkt. Er erzählt uns von seinem Freund Terence O’Malley, einem Iren, der alles ist, nur kein moderner Mensch, der mit dem Strom schwimmt. O’Malley hat eine Vision, die ihn lenkt. Zusätzlich angestachelt von den Werken des deutschen Psychologen, Physikers und Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner sucht O’Malley sein Leben lang nach dem Grund dafür, warum er sich anderen Menschen nicht zugehörig fühlt und kommt – wie Fechner – immer mehr zu der Überzeugung, dass die Erde beseelt ist und wir Menschen einst eigentlich fester Bestandteil davon waren, jedoch zunehmend diese spirituelle Zugehörigkeit vergessen haben und durch den voranschreitenden Fortschritt zu Skeptikern allem Unerklärlichen gegenüber geworden sind.
Zum Zeitpunkt, da der Erzähler beginnt, ist O’Malley bereits ein Aussteiger, der der modernen Welt adieu gesagt hat und die Aura der Ur-Welt mit all seinen Sinnen spürt und von höchst willkommenen Einflüsterungen, Düften und Erscheinungen begleitet wird. Er begibt sich per Schiff auf seine persönliche Reise zu den Quellen der Ur-Erde, eine Reise, die auch zur inneren Odyssee wird. Auf dem Schiff lernt er einen mysteriösen nicht sprechenden Russen kennen, in dem er sofort einen weiteren Suchenden erkennt und zu dem er sich kompromisslos hingezogen fühlt. Der ebenfalls an Bord weilende deutsche Arzt Stahl scheint mehr über den geheimnisvollen Russen zu wissen und kennt sich auch mit O’Malleys Philosophie der beseelten Erde aus. Fortan treffen die drei immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammen.
Erst im Kaukasus findet O’Malley das, was er sein Leben lang gesucht hat. In der dortigen Abgeschiedenheit ist die Erde noch unberührt von Skepsis und Fortschritt. In einem visionären Bilderrausch taucht O’Malley ein in die Aura der Vorzeit, fühlt sich von Göttern gestreift und von Fabelwesen begleitet: “Vor sich sah er die uralten Gestalten der Mythen und Legenden, immer noch lebendig in irgendeinem wunderbaren Garten der vorzeitlichen Welt, einem so entlegenen Winkel, dass die Menschheit ihn noch nicht mit den hässlichen Spuren ihres Lebens besudelt hatte.“
The Centaur ist alles andere als ein Spannungsroman. Das ist eine Zelebration. Algernon Blackwood feiert die Sprache mit jedem Satz. Die Anmut und Pracht von O’Malleys Visionen gehören zum Schönsten, was man in einem Buch finden kann. Natürlich könnte man Blackwood vorwerfen, sich immer und immer wieder mit seinen Thesen zur Allbeseelung des Universums zu wiederholen, aber nur so erreicht er die nachhaltige Wirkung, die The Centaur letztlich innehat.
Da stellt sich wie so oft die Frage, ob sich das alles nur im Kopf des Protagonisten abspielt oder als reales Erleben anzusehen ist. Das grandiose Ende des Romans, welches auch eine grandiose Kurzgeschichte fulminant hätte abschließen könnte, legt uns nahe, dass die Ereignisse nicht nur auf O’Malley begrenzt sind.
Eine völlig andere Interpretationsposition führt auf sehr direktem Wege zur Sexualität der Charaktere, die durchgängig schwul zu sein scheinen. Nicht eine einzige Frau hat Einzug in The Centaur gehalten, nicht einmal in einer Nebenrolle. Und über der gesamten Konstellation O’Malley/Stahl/Russe schwebt eine homoerotische Atmosphäre. Wenn beispielsweise der Russe O’Malley anlächelt, “mischten sich bei O’Malley Beunruhigung und ein Gefühl des Wunderbaren, wie er es noch nie erlebt hatte.“ Als O’Malley spontan die Hand des Russen umschlingt, “zuckte er leicht erschrocken zusammen, da sich die Berührung so wunderbar, so kraftvoll anfühlte – fast so, als hätte ihn eine Windböe oder eine Meereswoge erfasst.“
Während O’Malley im Bann des Russen ist, scheint Dr. Stahl O’Malley zugeneigt zu sein: “Im Dunkeln tastete er [Stahl] nach der Hand seines Gefährten und drückte sie einen Augenblick.“
Wie ich schon weiter oben sagte, vergisst der Ich-Erzähler zeitweise seinen neutralen Standpunkt, denn auch er outet sich, wenn er O’Malleys “feingliedrigen Hände“ und “die zarten, sensiblen Lippen“ feiert.
Dies alles sind nur einige Beispiele, die eine weitere Ebene von The Centaur entblößen und direkt zu den sexuellen Repressalien der menschlichen Gemeinschaft führt, die offenbar ebenfalls ein gewichtiger Grund sind, warum O’Malley diesem Leben entfliehen möchte.
Was auch immer jeder aus The Centaur mit nimmt, mich hat Algernon Blackwood in eine Welt der Wunder geführt.

Deutsche Übersetzung: Der Zentaur, übersetzt von Usch Kiausch (Leipzig: Festa, 2014)

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Algernon Blackwood | Aufgeschoben

[Rezension] Richard Lorenz – Amerika-Plakate

Originalveröffentlichung, 2014

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Gute Schriftsteller gibt es viele. Eher selten dagegen stößt man auf ein Buch, von dem man ehrfürchtig denkt, dass kein anderer Autor auch nur annähernd so etwas schreiben könnte, so eigen, so außergewöhnlich und sprachlich so abweichend ist es. Amerika-Plakate von Richard Lorenz ist solch ein Buch. Ein kompliziertes Buch, das von der ersten Seite an signalisiert: hier ist etwas, das du nicht alle Tage lesen wirst. Und als ich das Buch nach der letzten Seite zugeklappt hatte, habe ich dasselbe gedacht.
Erzählt wird Amerika-Plakate von einem namenlosen Ich-Erzähler, der, man ahnt es schon nach wenigen Seiten, für die Geschichte selbst völlig irrelevant scheint, so neutral und aktionslos bringt er sich selbst ein. Aber, er ist es, der uns die Geschichte von Leibrand erzählt – mit der zeitlichen Distanz mehrerer Jahrzehnte.
Kristallisationspunkt ist Leibrand, der als Junge in seinen Kleiderschrank flüchtet, um vor seinem alkoholischen Vater sicher zu sein, der eine Etage tiefer seine Mutter misshandelt. Wenn es besonders schlimm wird, flüchtet Leibrand sich, inspiriert von Paul Austers Kurzgeschichte „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“ in ein imaginäres Amerika. Seine Portale dahin sind die Amerika-Plakate des Titels, die Leibrand im Kleiderschrank zu malen beginnt.
Der eigentliche Startschuss für Amerika-Plakate fällt damit, dass der Zirkus in die Stadt kommt. Leibrand und der Erzähler sind elf Jahre alt, und eine Rattenplage eilt dem Zirkus voraus. Die Szenerie aus Zuckerwattengeruch, dem Rattern des Glücksrads und den pompösen Lock-Parolen der Schausteller könnten einer Ray-Bradbury-Idylle entsprungen sein, würde man nicht schon sehr bald merken, dass Lorenz sich sehr viel tiefer ins dunkle Herz der Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit hineingräbt. Es liegt eine beinahe archetypische Furcht über der Siebziger-Jahre-Szenerie: der Angst vor RAF-Gespenstern, vor Kindermördern, vor prügelnden Ehemännern und vor den gruseligen Kinoleuten, die der Zirkus mit anschwemmt. Das alles setzt Lorenz mit ungemein gekonnter Feder in eine völlig entgegengesetzte poetische Sprachzentrierung. Die Sprache hat dabei eine Täuschungsfunktion wie der Nebel für den Zauberer. Wie Zuckerwatte, in der Rasierklingen versteckt sind, verzaubert und schockiert uns diese meisterhafte Prosa gleichermaßen. Und, als sei er selbst ein Zauberer, wollen wir Lorenz gar nicht fragen, wie er das macht, denn jedes deutliche Wort hieße das Ende der Magie. Überhaupt hat man selbst als aufmerksamer Leser ständig das Gefühl, dass Lorenz viel mehr weiß als wir, und ich kann nicht sagen, ob ich die letzten Rätsel der Amerika-Plakate je lösen werde oder vielmehr überhaupt je lösen möchte.
Die Kindheit von Leibrand erlebt ihren Höhepunkt und ihr Ende, als er Suzanne, das Mädchen mit den feuerroten Haaren sieht und es dazu kommt, dass die beiden sich küssen. Dieser Kuss ist das Evangelium, für das Leibrand fortan leben wird, und als Erwachsener wird er keine Ruhe finden, ehe er Suzanne nicht wiederfindet. Die erwachsene Suzanne ist für mich auch der ergreifendste Charakter in Amerika-Plakate. Ihre Einsamkeit wird beinahe greifbar, so nah ist sie dem Leser. Wenn ich mir etwas von Richard Lorenz wünsche, dann, dass er in Zukunft weitere so liebenswerte Schöpfungen zu Papier bringt. Die anderen Charaktere des Romans, egal ob obdachlos oder verrückt, sind ebenfalls mit viel Wärme geschildert, und man spürt deutlich, dass Lorenz ein großes Herz für die Verlierer der menschlichen Gemeinschaft hat. Suzanne ist allen anderen jedoch einen Schritt voraus. Sie wird nicht nur von Leibrand geliebt, sondern auch von mir als Leser, so sehr hat sie sich in meinen Gedanken breitgemacht. Eine erstaunliche schriftstellerische Leistung.
Richard Lorenz‘ Welt der Erwachsenen lässt die Geister und Werwölfe der Kindheit weiterleben, nur mit viel weitreichenderen Folgen. Amerika-Plakate ist bevölkert mit Engeln, Sehern und Schutzengeln, doch letztlich besteht das schräge Romanfiguren-Ensemble nur aus melancholischen Träumern, von der Gesellschaft ausgespuckt, die verzweifelt nach ihrem Glück greifen. Spätestens hier stellt sich die eigentlich unwichtige Frage: Was ist Realität? Unwichtig deshalb, weil sie keine Rolle spielt. Amerika-Plakate ist Fiktion. Aber was für eine.

Originalausgabe (Bellheim: kuk, 2014)

Lektorat: Uwe Voehl

[Rezension] Sarah Waters – Die Muschelöffnerin

Originalveröffentlichung:
Tipping the Velvet (1998)

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Direkt mit ihrem Erstling Tipping the Velvet gelang es Sarah Waters, dem Literatur-Kanon einen sehr wichtigen Roman hinzuzufügen. Da aber „wichtig“ noch lange nicht „gut“ heißt, bleibt zu klären, ob Tipping the Velvet auch ein guter Roman ist. Der Charme von Erstlingsromanen liegt ja oft in einer Art positiver Unprofessionalität der noch nicht von Markterfordernissen zerfressenen Schriftstellerseele. Auch Sarah Waters hatte für diesen Roman keinerlei Erwartungsdruck seitens eines Verlags oder einer Leserschaft, doch von positiver Unprofessionalität kann hier wirklich keine Rede sein. Sie hatte gerade ihre Doktorarbeit in Englischer Literatur – Wolfskins and Togas: Lesbian and Gay Historical Fictions, 1870 to the Present – beendet, als sie direkt ihre Recherchen an die Hand nahm und ihren ersten Roman ansteuerte. Ihre begeisterte Lektüre viktorianischer Literatur verbunden mit ihrer akademischen Ausbildung haben sicherlich ihren Beitrag dazu geleistet, dass man Tipping the Velvet niemals für einen Erstlingsroman halten würde, wenn man es nicht besser wüsste. Denn Waters ist stets die Herrin über ihren nicht einfachen Stoff und beeindruckt mit ihrer Ausgereiftheit in Dramaturgie und Personencharakterisierungen.
Tipping the Velvet ist ein Bildungsroman, der sieben Jahre im Leben des Austernmädchens Nancy Astley beschreibt. Zu Beginn wird Nancy gerade 18. Am Ende ist sie eine 25-jährige Frau, die genau weiß, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist.
Wir befinden uns im viktorianischen England Ende der 1880er Jahre. In einem kleinen Fischereinest an der Küste von Kent arbeitet die unscheinbare Nancy im Austernrestaurant ihrer Eltern. Sie erweckt nicht den Eindruck, dass ihr etwas fehlt im Leben, doch das ändert sich drastisch, als sie das hiesige Theater besucht und dort die Gesangsnummer einer jungen in einen Herrenanzug gekleideten Frau verfolgt. Es handelt sich um die aufstrebende Künstlerin Kitty Butler, die zum Abschluss ihrer Show jeweils einem Mädchen im Publikum eine Rose überreicht. Nancy ist nun nicht mehr davon abzubringen, ab jetzt regelmäßig Kittys Vorstellungen zu besuchen. Show um Show vergeht, ohne dass Nancy diejenige ist, die die Rose erhält. Als es dann so weit ist und Kitty Nancy zum Gespräch in ihren Umkleideraum bittet, ist für Nancy klar, dass sie sich in Kitty verliebt hat. Für Nancy ist das die einzige ihr mögliche Art, einen anderen Menschen zu lieben, doch der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist hoch.
Kitty und Nancy freunden sich an, und Nancy wird Kittys Garderobiere. Als Kitty sie dann fragt, ob sie sie für eine neue Stufe ihrer Karriere nach London begleiten würde, kann Nancy gar nicht anders, als ihrer großen Liebe zu folgen. Der Abschied von ihrer Familie und die Entfremdung von ihrer Schwester, die als Einzige in Nancys Gedanken eingeweiht ist und diese kategorisch ablehnt, sind ein Meisterstück psychologischer Einfühlung.
In London wird Kittys Gesangsnummer in neue Höhen geleitet, als Nancy, die ebenfalls ein Talent zum Singen hat, als ihre Partnerin mit auf der Bühne steht. Die Nummer wird ein großer Erfolg, und die Londoner Theater und Varietés, in denen sie auftreten, werden immer größer und berühmter.
Kitty, die längst geahnt hat, dass Nancy sie liebt, ist inzwischen auf Nancy zugegangen. Ein Liebespaar dürfen die beiden allerdings nur nachts auf ihrem Zimmer sein.
Als bisheriger Höhepunkt der beiden Mädchen, Nancy ist gerade mal 19, rückt eine Weihnachtsaufführung im renommierten Britannia näher. Doch innerhalb von Sekunden wird Nancys glückliche Welt mit gnadenloser Härte zerstört. Mittellos wird sie in den Moloch London ausgespuckt. An das Beste von Paul Auster erinnernd (Moon Palace [Mond über Manhattan] kommt mir in den Sinn) lässt Nancy sich, ihres Herzens beraubt, durch London treiben und beginnt ihre persönliche Odyssee, die einige Jahre dauern soll und sie u.a. als männlich verkleideter Stricher und als Lustsklavin einer wohlhabenden Sapphistin durch Bereiche navigiert, die der bürgerlichen Welt verborgen sind.
Der Titel des Buches – im Text der deutschen Ausgabe mit Den Samt berührt übersetzt (leider jedoch nicht als Buchtitel genutzt) – ist ein viktorianischer Slangausdruck für den Cunnilingus. Ein solcher Titel signalisiert natürlich: Sex. Im finsteren Mittelteil formuliert Sarah Waters auch zahlreiche explizite Sexszenen aus, die ins Obszöne und Pornographische übergehen. Teilweise sind diese Szenen die einzigen im Buch, die ich für nicht ganz gelungen halte. Natürlich geht es im Mittelteil nicht um Liebe und Sinnlichkeit, sondern um reine sexuelle Befriedigung. Trotzdem verlieren derart graphisch dargestellte Szenen an Kraft, wenn sie sich wiederholen. Schon allein deshalb würde ich Tipping the Velvet nicht als perfekt bezeichnen wollen. Aber, um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, Tipping the Velvet ist ein gutes Buch. Den ersten Teil des Romans würde ich sogar als makellos bezeichnen. Und die Beschreibungen eines vergangenen Londons mit seinen Theatern und Pferdekutschen lassen einen literarischen Ort entstehen, den man beinahe glaubt, selbst gesehen zu haben.
Sarah Waters hat sich definitiv mit Tipping the Velvet für einen Entwicklungsroman entschieden, der auf sprachliche Schnörkel gänzlich verzichtet und klassisch linear erzählt. Sprachlich stellt Waters keine hohen Anforderungen an die Leser, und doch ist da einiges, was sie schon in ihrem Erstling weit über den Durchschnitt der schreibenden Zunft erhebt. Tipping the Velvet saugt einen als Leser ins Geschehen hinein, sodass man nicht ablassen möchte. Schon Charles Dickens wusste genau, dass man seine Leser damit packt, indem man mit ihren Emotionen spielt. Das macht auch Sarah Waters. Doch weshalb ersaufen schlechtere Autoren in ihrem eigenen Zuckerguss, während Waters eine Stärke ausstrahlt, die uns bei ihr hält? Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Sarah Waters es schafft, dass ihre Charaktere uns so wirklichkeitsnah erscheinen. Ich glaube, es liegt auch daran, dass Waters sehr gut darin ist, zu beschreiben, wie ihre Protagonisten aufeinander wirken. Damit meine ich, dass zwischen ihnen nicht nur ein Textdialog stattfindet. Mit außergewöhnlicher Subtilität zeigt Waters uns auch auf, wie die Charaktere jeweils auf das Gesagte reagieren. Die kleinsten Nuancen dieser Reaktionen bewirken schon, dass wir als Leser die Sprechenden so deutlich vor uns sehen und uns derart intensiv in sie hineinversetzen.
Am Ende ist Nancy eine starke, mutige Frau, die es geschafft hat, das Erlebte für ein besseres Leben zu nutzen. Was kann man sich mehr wünschen?

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Die Muschelöffnerin, übersetzt von Susanne Amrain, überarbeitet von Andrea Krug (Berlin: Krug & Schadenberg, 2011)

Lektorat: Uwe Voehl

Nathaniel Hawthorne | Das Haus mit den sieben Giebeln

Originalveröffentlichung:
The House of the Seven Gables (1851)

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Im Gewand einer stimmungsvollen, sehr leisen Schauergeschichte umarmt Nathaniel Hawthorne voller Wärme die Ehrbaren, feiert die Liebe und verdammt mit abgründigem Abscheu die eigennützigen Blender.

Warum neigen wir eigentlich so oft dazu, das lange Vergangene als überholt und das Aktuelle als das Definitive anzusehen? Ist es die Überheblichkeit der Moderne oder schlicht eine Art multiples Vergessen?
Nathaniel Hawthornes dritten Roman The House of the Seven Gables [Das Haus mit den sieben Giebeln] aus dem Jahre 1851 zu lesen, ist ein wenig so, wie sich an etwas lange Vergessenes wieder zu erinnern. The House of the Seven Gables ist ein verblüffendes Beispiel dafür, wie ein alter Meister uns die beinahe ausgestorbene Kunst des stimmungskeimenden Erzählens vorführt. Er ist dabei aber nicht etwa einer, der ein großes Feuerwerk abbrennt, sondern eher ein empfindsamer Magier, der nahezu unsichtbar seine Zauberfunken  ins Publikum versprüht.
Das Fundament, auf dem The House of the Seven Gables errichtet wurde, ist denkbar schwergewichtig, denn Hawthorne leuchtet kein geringeres Thema als die Erbsünde aus. Diese findet im historischen ersten Kapitel statt, dass uns nach Hawthornes Vorgängerroman The Scarlett Letter [Der scharlachrote Buchstabe] erneut ins 17. Jahrhundert, dem puritanischen Zeitalter der amerikanischen Hexenprozesse führt. Der angesehene Oberst Pyncheon bringt den unbedeutenden Matthew Maule wegen Hexerei an den Galgen, weil er scharf auf Maules Land ist. Mit seinem letzten Atemzug sagt Maule über Pyncheon: “Gott wird ihm Blut zu trinken geben!“ Oberst Pyncheon lässt auf dem neugewonnenen Stück Erde das Haus des Titels erbauen. Er und seine Nachkommen sollen nicht viel Freude daran haben.
Nachdem Hawthorne also sein Buch mit Hilfe dieser Legende mit Pauken und Trompeten eingeläutet hat, lässt er sich in einer Zeit nieder, die in etwa seiner eigenen Gegenwart entspricht und schrumpft den Rahmen auf ein Minimum zusammen, um mit der eigentlichen Geschichte zu beginnen, die denkbar leise daherkommt.
Zum Entstehungszeitpunkt von The House of the Seven Gables war der klassische Schauerroman schon seit Dekaden totgeritten. Trotzdem grast Hawthorne den Kramladen der gothic novel ab und nimmt alles an Topoi mit, was er gebrauchen kann: ein von Verfall gezeichnetes gotisches Haus, das von einer großen Ulme verfinstert wird; einen Familienfluch; einen geheimen Raum; ein düsteres Gemälde; die Machtausübung des Mannes über die Frau. Das kennen wir alles. Aber nicht, was Hawthorne daraus macht.
Viel von dem Glanz des einstigen Hauses mit den sieben Giebeln ist nicht mehr übrig geblieben. Im Haus ist alles von Verfall und Moder gekennzeichnet, und nur noch die alte Jungfer Hebzibah Pyncheon lebt hier, sofern man ihr Dahinvegetieren Leben nennen kann. Als Lady erzogen, kann sie längst nicht mehr aus ihrer steifen Rolle heraus. Obwohl sie nicht mehr tiefer sinken kann, hält sie sich mit imaginären Adelsparolen aufrecht. Von dem immer noch an der Wand hängenden unangenehmen Gemälde des Obersten Pnycheon lässt sie sich Tag für Tag an ihre wohlhabende Herkunft erinnern. Ihr äußeres Erscheinen wird als heruntergekommen und verbiestert beschrieben. Kontakt zur Außenwelt hat sie nur noch zu dem ihr wohlgesonnenen “Lumpenphilosophen“ Onkel Venner, der die Häuser der Stadt nach Essensresten für sein Schwein abgrast und von einem Lebensabend ohne Arbeiten träumt.
Dass Hepzibah aber noch tiefer sinken kann, stellt sie fest, als sie, um sich ernähren zu können, einen Tante-Emma-Laden eröffnet. Der Kontakt zu den wenigen Kunden ist ein Gräuel für sie, und dementsprechend schlecht läuft der Laden dann auch. Trostloser kann man ein Leben wohl nicht fristen.
Das ändert sich aber schlagartig, als eines Tages Hepzibahs junge Cousine Phoebe  auftaucht und einen Schwall Sonne mit ins Haus bringt. Hawthorne liebt es, mit den Gegensätzen Licht und Dunkelheit zu spielen und setzt hier sehr bewusst auf kraftvolle Metaphern. Phoebe ist die unverdorbene Eva, die offensichtlich nicht ohne Grund in diesem heruntergekommenen Eden wie aus dem Nichts auftaucht. Ihr Erscheinen bewirkt eine erste Wende im Haus mit den sieben Giebeln. Die Misanthropin Hepzibah muss sich eingestehen, dass ihr das lebensfrohe Wesen Phoebes guttut, und das nicht nur, weil Phoebe Hepzibahs Hausladen zum Erfolg führt.
Neue Dunkelheit kehrt jedoch mit dem Erscheinen von Hepzibahs Bruder Clifford ein, den ein jahrzehntelanges Trauma heimsucht, das ihn zu einem gebrochenen alten Mann mit dem zeitweiligen Verstand eines Kindes gemacht hat. Auch ihn verzaubert Phoebe mit ihrer lebensbejahenden Art. Zusammen mit einem Untermieter, dem Protestkünstler Holgrave, bildet der bunte Haufen eine Kommune der Verlierer, dessen zaghaftes Zusammenwachsen in der Not Hawthorne mit unglaublicher Intensität zeichnet. Obwohl diese Menschen, mit Ausnahme Phoebes, derart tiefe Wunden davongetragen haben, dass sie eigentlich nie mehr menschlicher Nähe trauen dürften, führt Phoebe unbewusst alles zusammen. So sagt Onkel Venner nicht grundlos: “Es ist unbegreiflich, wie manche Leute einem so selbstverständlich werden können wie der eigene Atem […]“.
In einer Schlüsselszene zwischen Phoebe und Holgrave wirft Hawthorne alles in die allegorische Waagschale und lässt stark romantisierende Bilder deutlicher sprechen als es die beiden tun. Die Zeit scheint angehalten, und in einem stillen Mikroversum treffen Adam und Eva aufeinander. In diesem spirituellen Szenario gewinnt Holgrave die absolute Kontrolle über die Frau, die er liebt – und widersteht im zerbrechlichsten Augenblick des Buches zugunsten dieser Liebe der Verführung, Phoebe für immer zu unterjochen.
Diese Momente voller Harmonie gehören in all dem Odem der sündenverseuchten Vergangenheit zu den bewegendsten Szenen des Buches, die zudem sehr deutlich zeigen, dass Hawthornes Herz für die Gestrauchelten schlägt. Hawthorne hält zu den kleinen Leuten und hat nur Abscheu übrig für eine “erbärmliche Seele“ wie dem Richter Pyncheon.
Denn dieser Verwandte Hepzibahs, Cliffords und Phoebes, dieses Prachtexemplar von einem Manipulator, stolziert jetzt ins Haus der sieben Giebel, um den dunklen Schlund der Vergangenheit erneut aufzureißen und Clifford und Hepzibah endgültig zu vernichten.
Nathaniel Hawthorne prangt wie ein Steinriese über seinem schwierigen Stoff, den er jedoch zu jeder Zeit fest im Griff hat. Virtuos lenkt er seine in einer wunderschönen Sprache erzählte Geschichte sowohl durch die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele als auch die paradiesischen Momente, die Menschen durchaus zu erschaffen in der Lage sind. Man kann die subtile, eher angedeutete Art und Weise, wie er die Geheimnisse des Romans lüftet, nur vorbildlich und The House of the Seven Gables ohne Zweifel ein Meisterwerk nennen.
Und hoch darüber breitet Hawthorne seine tröstenden Arme aus und outet sich als großer  Humanist, der den Ehrlichen ihre Menschenwürde zurück gibt.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Das Haus mit den sieben Giebeln, übersetzt von Irma Wehrli (Zürich: Manesse, 2014)

Bram Stoker | Dracula

Originalveröffentlichung:
Dracula (1897)

Bram Stoker - Dracula

Dieser berühmteste aller Horror-Romane ist ein Dokument der sexuellen Verklemmtheit der Menschen des viktorianischen Zeitalters. Das übernatürliche Grauen, obgleich zuweilen ausgesprochen überzeugend dargestellt, ist nichts weiter als eine Schutzschicht, die den Blick auf die wahren sexuellen Gelüste und Traumata der gehemmten Viktorianer verschleiert.

Ich behaupte einmal, dass es für den modernen Leser unmöglich ist, Dracula von Bram Stoker zu begegnen, ohne ein Grundwissen dessen mitzubringen, worum es in dem Roman geht. Die Figur des Grafen Dracula gehört zur Weltkultur, und sie ist nicht nur ein literarischer Charakter, sondern ein Archetyp. Man beginnt hier also ein Buch zu lesen, über das man wohl oder übel mehr weiß, als einem lieb sein kann.
Doch dafür kann das Buch nichts!
Als es 1897 erstmals erschien, war es etwas Neues. Ein gewaltiges Update von J. Sheridan Le Fanus großartiger Vampir-Novelle „Carmilla“ [“Carmilla“] zwar, aber nichtsdestotrotz für den Großteil der damaligen Leserschaft etwas, das bis dahin in dieser Form niemand zuvor gelesen hatte.
Pirscht man sich als moderner Leser aus dieser Warte an das Buch heran, zieht man den größten Gewinn daraus – und erkennt, dass das verstreute Wissen über Dracula, dass man leider unweigerlich mit sich herum schleppt, einschließlich des Aussehens von Christopher Lee, lediglich Second-Hand-Wissen ist. Daher empfiehlt es sich, sich vor Lektüre des gedruckten originalen Dracula erst einmal dahingehend einzutackten. Dann ist man bereit für Dracula.
Als erzählerisches Mittel von Dracula wählte Bram Stoker eine bunte Ansammlung von Tagebucheinträgen, Briefen, Zeitungsartikeln und Dokumenten. Den Anfang macht das Reisetagebuch des Engländers Jonathan Harker, der als frisch gebackener Rechtsanwalt von seiner Kanzlei nach Transsilvanien geschickt wird, um für den Grafen Dracula den Kauf eines Hauses in London abzuwickeln.
Dieser Auftakt ist spektakulär. Die Reise Harkers, die ihn über Wien und Budapest bis tief in die Karpaten führt, ist grandios beschrieben. Der Wandel der Landschaften und der Menschen, die mit zunehmend östlicher Richtung fremdartiger und unheimlicher werden, setzt einen virtuosen Stimmungsrahmen für das, was folgen wird. In bester Schauergeschichten-Manier erreicht Harker – natürlich nachts und unter Wolfsgeheul – die düstere Burg des Grafen. Der stellt sich von Anfang an als geistreich, gebildet und zuvorkommend dar, kann aber auch etwas Zwielichtiges nicht verbergen. Die Merkwürdigkeiten mehren sich. Dracula ist nur nachts anzutreffen, isst niemals etwas und hat kein Spiegelbild. Schon bald wird Harker klar: er ist Gefangener in der Burg des Grafen.
Als Harker eines Nachts Draculas Warnung missachtet und sein Zimmer verlässt, wird er von drei jungen Damen überrascht, die nicht lange fackeln und mit “unverhohlener Wollust“ über ihn herfallen.
Die Szene öffnet eine Tür in die tieferen Gewölbe des Romans. Beschreitet man als Leser den Weg durch diese Tür, verlässt man den handlungsreichen Unterhaltungsroman, den Dracula zu sein vorgibt und gelangt in die Untiefen sexueller Phantasien, die im viktorianischen England freilich moralisches Sperrgebiet waren, denn eine autarke weibliche Sexualität war unerwünscht, und Frauen hatten bis zur Hochzeit Jungfrau und danach möglichst asexuell zu sein. Das Gebären von Kindern galt als einziger sinnvoller Zweck des Geschlechtsverkehrs.
Ausgerechnet der Roman, der ein ganzes Unterhaltungsgenre begründete, reißt die viktorianischen Wunden an jeder nur möglichen Stelle auf. Von männlichen und weiblichen Sexphantasien über sexuelle Dominanz, Homosexualität und Sex mit mehreren Partnern, bis hin zu Vergewaltigung ist alles da, über das Viktorianer beileibe nicht reden wollte.
Die Lust der drei Damen nach Blut ist der Lust nach Sex gleichzusetzen. Harker, den zu Hause die liebliche Vorzeigefrau Mina erwartet, setzt der aggressiven Sexualität der drei Schwestern nicht das Geringste entgegen. Wenn er in sein Tagebuch schreibt: “Irgendetwas an ihnen erregte mein Unbehagen, es war einerseits Verlangen, andererseits Todesangst“, dann scheint er in dem Moment lieber mit dem Tod für den orgiastischen Sex, der ihm bevorsteht, bezahlen zu wollen, als zurück in sein unaufgeregtes viktorianisches Leben zurückzukehren. Dass er später, jetzt wieder bei klarem Verstand, immer noch so zu denken scheint, belegt die Tatsache, dass er den Vorfall in sein Tagebuch niederschreibt, wohl wissend, dass Mina es irgendwann lesen könnte (was auch tatsächlich geschieht). Es ist ihm bewusst, dass dies Mina “Schmerz bereiten“ wird, aber das ist ihm in dem Moment völlig egal, denn “es ist die Wahrheit“. Harkers sexuelle Erregung wischt jegliche Vernunft derart heftig beiseite, dass er den Moment unbedingt für immer in seinem Tagebuch  festhalten möchte. Das zeigt, wie sehr Harker die anerzogene viktorianische Steifheit abwerfen und die Verklemmtheit seiner Verlobten gegen die nymphomanische Aggression der drei Damen austauschen würde. Wie weit die viktorianische Unterdrückung sexueller Lust geht, wird deutlich, wenn man als Leserin und Leser in dieser Schlüsselszene gedanklich die Lust nach Blut gegen die Lust nach Sex austauscht.
Die Handlung verlagert sich anschließend nach England und führt uns direkt zu Minas Freundin Lucy Westenra, dem für mich interessantesten Charakter in Dracula. Die Briefe, die sie sich mit Mina schreibt, wirken wie ein geschwätziger mädchenhafter Gedankenaustausch, aber bei näherem Hinsehen sind sie alles andere als unschuldig. Lucy, die sehnsüchtig auf einen Heiratsantrag wartet, erhält plötzlich gleich drei Anträge an einem Tag. Da sie offenbar in keinen der drei Männer wirklich verliebt ist, kann sie sich nicht sofort entscheiden. An Mina schreibt sie: “Warum darf ein Mädchen nicht drei Männer heiraten […?]“, was dem Wunsch entspricht, mit drei verschiedenen Männern Sex zu haben. Ironischerweise wird ihr der Wunsch im übertragenen Sinne erfüllt, als sie ein Opfer des Grafen Dracula wird. Nachdem er ihr Nacht für Nacht das Blut aussaugt, bleibt sie nur durch die Bluttransfusionen eben der drei Männer (plus Van Helsing) am Leben, die um ihre Hand angehalten haben. Obwohl das Übertragen von Blut ein rein medizinischer Vorgang sein sollte, ist er in Dracula ein Akt der Intimität, der den Spendenden eine Nähe zu Lucy gibt, die exakt der des Geschlechtsakts entspricht. Über Arthur, dem Mann, den Lucy inzwischen geheiratet hat, wird später zum Besten gegeben, dass er seit der Bluttransfusion das Gefühl habe, “Lucy und er seien wirklich verheiratet und damit vor Gott Mann und Frau.“ Aus Angst vor der Eifersucht Arthurs beschließen die drei anderen Männer, ihre Blutspenden geheim zu halten, was ebenfalls auf eine starke sexuelle Kodierung hindeutet, denn warum sonst würde bei einer lebensrettenden Bluttransfusion eine Veranlassung zur Geheimhaltung bestehen?
Dies sind aber alles Dinge, die sich unter der trügerischen Oberfläche des Buches ereignen. Die eigentliche Handlung geht unterdessen zielstrebig weiter, denn Dracula nutzt die Vorbereitungen, die Harker für ihn getroffen hat, dazu, in England eine neue Basis zu errichten, die einer möglichen Invasion dienen könnte.
Wirklich furchteinflößend ist das Logbuch des Schiffes, das Dracula unerkannt nach England transportiert. Das Einlaufen des Schiffes in den britischen Hafen ringt Bram Stoker die stimmungsvollsten und düstersten Momente ab, die das Buch zu bieten hat. Die spürbare Beunruhigung der Menschen und die einhergehende atmosphärische Verfinsterung, die die Landung dieses Totenschiffes begleiten, erschaffen eine Vision der Apokalypse. Großes Unbehagen macht sich breit.
Um die Heimsuchung Lucys herum baut sich die Opposition zu Dracula auf, eine tapfere Männergruppe unter der fachlichen Leitung des holländischen Professors Van Helsing. Neben ihm besteht die Gruppe noch aus Lucys frischem Ehemann Arthur und den beiden anderen Verehrern Lucys sowie Jonathan Harker. Die Charakterisierungen der Männer sind dabei so oberflächlich und klischeehaft, dass man sie teilweise ohne Namensnennung nicht auseinanderhalten könnte. Alles Weitere an der Oberfläche ist lediglich purer Plot über den Kampf zwischen Mensch und Vampir.
Aber darunter …
Dracula kann in viele Richtungen interpretiert werden: Fremdenhass, Angst vor einer ausländischen Invasion, technischer Fortschritt gegen das Archaische etc. Aber mehr noch als all diese Deutungsvariationen scheint mir allein der Blick auf die Sexualität zum Fundament des Romans zu führen.
Etwas, worüber man in der Entstehungszeit von Dracula besser nicht redete, war Homosexualität. Dracula bietet viele Hinweise auf eine vorherrschende männliche Homosexualität. Beispiele dafür sind die Rasierszene zwischen dem Grafen und Harker sowie auch der Überfall der drei Vampirdamen auf Harker, den Dracula mit den Worten beendet: “Dieser Mann gehört mir!“ Aber nicht nur Dracula, auch die anderen männlichen Charaktere wirken eher schwul als heterosexuell. Je näher sie sich im Laufe der Handlung zu einer Art schwuler Bruderschaft zusammenschließen, umso salbungsvoller und leidenschaftlicher werden die gegenseitigen Bewunderungen geäußert. Die Biographen sind sich darüber hinaus ziemlich einig, dass Bram Stoker wahrscheinlich selbst schwul war.
Stoker gibt sich aber nicht nur mit einem Tabubruch zufrieden, der offen geschildert bereits bei Erscheinen für einen Skandal gesorgt hätte. Er lotet daneben sehr deutlich auch die Macht des Mannes über die weibliche Sexualität aus und zeigt die Hysterie der Männer, sobald sie feststellen, dass sie nicht mehr im Besitz dieser Macht sind. Die sexuelle Machtausübung gegenüber Frauen ist in Dracula sehr ausgeprägt. Wirklich abscheulich wird diese zentriert in Draculas Erniedrigung Minas, indem er sie zwingt, sein Blut zu trinken. In Wirklichkeit ist das eine Vergewaltigung, in der Dracula Mina zum Oralverkehr zwingt. In ihrer Qual sagt sie: “[Dracula] presste meinen Mund auf die Wunde, sodass ich entweder ersticken oder etwas davon schlucken musste […].“
Eine ebenso denkwürdige Szene ist die Pfählung Lucys durch ihren Ehemann Arthur. Dieser ist von Lucys plötzlichem aggressiven Sextrieb völlig eingeschüchtert und verängstigt: “Ihr Blick funkelte ruchlos, und über ihre Gesichtszüge glitt ein wollüstiges Lächeln.“ Angst jagt ihm insbesondere die drastische Veränderung von Lucys Libido ein, denn “[…] die ganze fleischeslüsterne und seelenlose Erscheinung wirkte wie eine teuflische Verhöhnung von Lucys lieblicher Reinheit.“ Wieder die Kontrolle über Lucy gewinnt Arthur, als er ihr den Holzpflock, das Phallussymbol schlechthin, “immer tiefer“ ins Herz rammt: “Der Körper zitterte und schüttelte und wand sich in wilden Verrenkungen.“ Als er sein Werk vollendet hat, kommt Arthurs Atem “in keuchenden Stößen“.
Mina ist letztlich der stille Kristallisationspunkt für jegliche Diskussionen über die Rolle der Frau im viktorianischen England. Sie wirkt asexuell, ganz so wie die Männer die Frauen gern haben wollten. Mina ist auch diejenige, an der sich die zu dieser Zeit alltäglichen patriarchalischen Repressalien am deutlichsten messen lassen, denn sie selbst erkennt schon früh im Buch ihre Rolle in der männlich dominierten Gesellschaft: “[…] und wenn mir nach Weinen zumute ist, so soll er es nicht sehen. Das ist wohl eine der Lektionen, die wir armen Frauen lernen müssen…“

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Dracula, übersetzt von Andreas Nohl (Göttingen: Steidl, 2012)

Anmerkung: Es existieren alte Übersetzungen von Dracula, die man lieber meiden sollte, will man nicht auf all die zum Teil subtil verborgenen sexuellen Anspielungen verzichten. Die hier gewählte moderne Neuübersetzung von Andreas Nohl ist nicht unproblematisch, da Nohl (und dafür ist er inzwischen in der Branche bekannt) dazu neigt, den Originaltext zu glätten, sperrige Sätze zu begradigen und damit die Leseerfahrung zu vereinfachen.
Beinahe zeitgleich mit der Nohl-Übersetzung erschien die Neuübersetzung von Ulrich Bossier (Stuttgart: Reclam, 2012), von der ich dringend abraten möchte. Bossier erlaubt sich darin schlichtweg inakzeptable, das Original völlig verfälschende Freiheiten. So ist beispielsweise das letzte – sehr wichtige –  Zitat meiner Besprechung in der Bossier-Übersetzung deratig schlampig und falsch übersetzt, dass es in dieser Version restlos unbrauchbar ist und von mir überhaupt nicht als bedeutsam erkannt worden wäre.
So hat man als Leser leider lediglich die Wahl, aus zwei Übeln das Geringere zu wählen.

[Rezension] Peter S. Beagle – Komm, Lady Tod (1963)

Originalveröffentlichung:
Come Lady Death (1963)

Beagle Nashorn

Irgendwann im London des Georgianischen Zeitalters vertreibt sich das weibliche Pendant zum Großen Gatsby, die alte Witwe Lady Neville, ihre Zeit damit, Ballnächte von solchem Prunk zu veranstalten, dass sie schon zu Lebzeiten Legende ist. Zu ihrem Bekanntenkreis gehören die Prominentesten Englands, darunter sogar der englische König. Doch dann kommt der unweigerliche Zeitpunkt, da Lady Neville dem Ganzen nichts mehr abgewinnen kann und von ihren eigenen Bällen gelangweilt ist. Im Kreise ihrer engsten Vertrauten entwickelt sie die ultimative Ballnacht, deren Ehrengast der Tod selbst sein soll.
Und so findet der wohl denkwürdigste Ball statt, den Lady Neville je ausgerichtet hat. Mit wohligen Gänsehautgefühlen will ihre prominente Gemeinde den schaurigen Gast begrüßen, ganz in Erwartung seiner äußeren Erscheinung. Standesgemäß hat es Mitternacht geschlagen, als der Tod den Ballsaal betritt – in Gestalt eines wunderschönen Mädchens, das alle Gäste mit ihrer Schönheit verzaubert, aber auch zutiefst ängstigt.
Gedanken über den Tod, wie Peter S. Beagle sie hier in persona materialisieren lässt, können in einer Kurzgeschichte wie „Come Lady Death“ natürlich das Thema nur ankratzen. Nichtsdestotrotz gelingt es Beagle, auch dank seiner wunderschönen Sprache, die in wenigen Sätzen die lange vergangene Dekadenz solcher Ballnächte in unserer Phantasie auferstehen lässt, viel mehr zu erschaffen als nur einen rhetorischen Gedankenaustausch über das Thema Tod. Beagle schafft es, auf engstem Raum eine Atmosphäre entstehen zu lassen, die ambivalent sowohl zwischen Pracht und Schönheit als auch eisigster Urangst pendelt. Wenn Rittmeister Compson, der auf den Schlachtfeldern dem Tod mehr als einmal begegnet ist, als Erster den Mut findet, Lady Tod zum Tanz aufzufordern, und Lady Neville beobachtet, mit welcher abgrundtiefen Furcht der vom Leben abgeklärte Compson dem wunderschönen Mädchen seine Hand anbietet, dann gibt uns Peter S. Beagle subtile Schauermomente höchster Güte.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: „Komm, Lady Tod“, übersetzt von Hans J. Schütz, in: Peter S. Beagle, Das Indische Nashorn (Stuttgart: Klett-Cotta, 1997)

Lektorat: Uwe Voehl