[Rezension] Fritz Leiber – Vier Geister in ‚Hamlet‘

Originalveröffentlichung:
Four Ghosts in Hamlet (1965)

Leiber Hamlet

In der wohligen Welt des klassischen Theaters spielt „Four Ghosts in Hamlet“ von Fritz Leiber. Entgegen des Titels geht es in der atmosphärischen und dramaturgisch wohldurchdachten Erzählung in der Hauptsache um einen Geist und die Frage, ob der Geist aus Hamlet auf der Bühne von einem Menschen oder von einem Geist gespielt wurde.
„Four Ghosts in Hamlet“ wird in der ersten Person von Bruce erzählt, einem Angehörigen der Theatergruppe „Govemor’s Company“, die durch die Lande tingelt und immer wechselnde Stücke von Shakespeare in rotierenden Besetzungen aufführt. Die drei Damen der Truppe vertreiben sich die Langeweile in den Freizeiten mit spiritistischen Sitzungen auf einem Ouija-Brett. Bruce, der klarstellt, dass er nicht an Derartiges glaube, hat persönliche Gründe, den Sitzungen der Damen gegenüber alles andere als positiv eingestellt zu sein. Er hat sein Herz an die Ophelia-Darstellerin Monica Singleton verloren und stellt fest, dass seine Chancen, bei ihr zu landen, seit der Beginn der Ouija-Mode im Sinken begriffen sind. Monica, die bei den beiden anderen, schon länger praktizierenden Damen als begabtes Medium gilt, hat offenbar nur noch Interesse für das Buchstabenorakel hat.
Die gesamte Handlung zentriert sich in der nahenden Aufführung in Wolverton. Das dortige Theater „Monarch“ ist eine dankbare Kulisse für die weiteren Ereignisse. Schon ewig hat hier keine Vorstellung mehr stattgefunden, und der Ort wird von den Darstellern als schaurig und verstaubt empfunden. Bruces Entdeckung, dass ausgerechnet auch noch Fledermäuse ihre Kreise durch das Gebäude ziehen, machen den Ort zu einer Traumkulisse für das Irrationale. Ausgerechnet Bruce beginnt an diesem Tag, das Übernatürliche zwischen den Wänden des Monarch zu „riechen“. Kurz vor der Vorstellung wartet alles sichtlich nervös auf Guthrie Boyd, einem rückfälligen Alkoholiker, der den Geist von Hamlets Vater spielt.
Die Aufführung beginnt in normalen Bahnen. Für den Fall, dass Guthrie Boyd von der vermuteten Zechtour nicht rechtzeitig auftauchen würde, scharren bereits zwei Schauspieler der Truppe mit den Füßen, die die Rolle ebenfalls beherrschen. Da der Geist nur eine Robe mit gesichtverhüllender Kapuze trägt, sollte auch kostümtechnisch ein kurzfristiger Rollentausch kein Problem sein.
Und dann folgt einer der schauerlich-schönsten Momente in der phantastischen Literatur: Der Auftritt des Geistes, der sowohl dem Publikum in der Geschichte als auch Fritz Leibers Lesern den Atem raubt. Dabei ist sehr bemerkenswert, wie wenige Hilfsmittel Leiber benötigt, um eine Atmosphäre des Unheimlichen zu erzeugen, die den Leser förmlich spüren lässt, wie das Übernatürliche kurzzeitig in die rationale Welt strömt. Leiber baut hier lieber auf nicht mehr als die Erzeugung eines jenseitigen Hauches, anstatt eine Batterie von Schockeffekten aufzufahren. So besteht für Bruces Leben zu keinem Zeitpunkt wirklich ernstzunehmende Gefahr. Die stimmungsvolle, um das Unheimliche expandierte Welt des Theaters sorgt lediglich für eine kurzzeitige aber nachhaltige Erschütterung. Es ist aber Leibers Kunst, dass er die (ihm wohlbekannte) Welt des Theaters detailreich vor uns ausbreitet, sie aber gleichzeitig wie in einem Lupenglas nur für uns sichtbar macht und zeitweilig von dem Rest der Welt abkoppelt.
Der Abgang des Geistes hinterlässt viele Fragen, die Bruce versucht, als rational gelöst hinzustellen. Aber war der Geist wirklich nur der Shakespeare ähnelnde und über dieselben Initalien verfügende Requisitenmeister Props, der bisher als einziger des Ensembles noch nie eine Rolle gespielt hat? Oder hat womöglich der affektierte und auf Guthrie Boyd eifersüchtige Star der Schauspielgruppe, Francis Farley Scott, seine Finger in der Angelegenheit?
Spekulationen folgen, aber ausgerechnet Bruce, der schon die Ouija-Sitzungen ins Lächerliche zog, ist der Einzige, der den verhüllten Bühnengeist berührt hat und unter der Robe etwas „Körperloses“ spürte. Und hat es eine Bedeutung, dass das Ouija-Brett, auf die Frage, wer „der Geist wäre, der den gespenstischen Ort heimsuchte“ folgenden Namen buchstabiert: S.H.A.K.E.S.P.E.A.R.E.? Die Rolle des Geistes in Hamlet gilt als die einzige Rolle, die William Shakespeare selbst jemals auf der Bühne gespielt hatte. Wollte er sie vielleicht noch einmal spielen?
Dann ist die Geschichte zu Ende. Und wie steht es am Ende um Bruces Eroberung von Monica? Dafür sollte man die Geschichte noch einmal lesen, den die Antwort steht am Anfang der Geschichte: „[…] eine Nacht des Entsetzens vor der Nacht der Liebe.“

Deutsche Übersetzung: „Vier Geister in ‚Hamlet'“, übersetzt von Birgit Reß-Bohusch, in: Manfred Kluge (Hrsg.), 18 Geister-Stories (München: Heyne, 1978)

Lektorat: Uwe Voehl

[Rezension] Kingsley Amis – Zum Grünen Mann

Originalveröffentlichung:
The Green Man (1969)

Green_Man

Fritz Leiber hat einmal in einem Interview gesagt, dass es sehr schwierig sei, die Stimmung von übernatürlichem Horror über die Länge eines Romans aufrecht zu erhalten. Ihm selbst ist diese Königsdisziplin mit Our Lady of Darkness [Herrin der Dunkelheit] vorbildlich gelungen, aber weitere geglückte Beispiele sind rar.
Einem, den man gar nicht mit übernatürlicher Literatur assoziiert, ist es auch gelungen. The Green Man von Kingsley Amis atmet quasi die reinste Luft aus zwei Welten. Sein Treibstoff ist das Beste aus dem psychologischen Gesellschaftsroman und der klassischen Geistergeschichte. Beides funktioniert einzeln betrachtet schon vorzüglich, aber erst in der von Amis wie von einem Alchimisten verschmolzenen Legierung kann man von wahrhaft meisterhaftem Handwerk sprechen.
Maurice Allington, 53, könnte einem der „amerikanischen“ Romane von Vladimir Nabokov entsprungen sein, so zynisch und ich-bezogen, aber auch gebildet und tragikomisch ist er. Zusammen mit seiner 13-jährigen, fernsehsüchtigen Tochter Amy aus erster Ehe, seiner neuen Frau Joyce und seinem Vater, den er sehr verehrt (ohne es freilich jemals zuzugeben) lebt er auf dem Lande, nicht weit entfernt von Cambridge und führt einen Landgasthof namens „Zum Grünen Mann“, dessen bauliche Ursprünge bis ins Mittelalter zurückreichen und der laut dem ironischen Restaurantführer, der den Roman einleitet, „mindestens ein Gespenst“ beherbergt. Über der zusammengewürfelten Familie schwebt immer noch der plötzliche Unfalltod von Maurices erster Frau vor eineinhalb Jahren, der Amy desillusioniert und ziellos zurückließ und Joyce die undankbare Rolle der zum Scheitern verurteilten Stiefmutter aufbürdete.
Maurice lässt sich nicht gern in die Karten gucken und kommt und geht, wann er will. So etwas wie Familienpflichten sind ihm fremd. Fester Bestandteil seiner Welt ist auch der Whisky, von dem er problemlos eine Flasche am Tag vertilgt.
Die erste Hälfte des Romans nutzt Maurice als Ich-Erzähler dazu, das zwischenmenschliche Netz, das den Gefühls-Mikrokosmos im „Grünen Mann“ darstellt, zu ent- bzw. zu verwirren. Maurices Prioritätsthema hierbei ist eindeutig die Befriedigung seiner Lüste. So gehört zum ersten Teil seines großen Beischlaf-Plans, dass er Sex mit der schönen Diana hat, einer Freundin der Familie und Ehefrau seines Hausarztes, was ihm auch erstaunlich schnell gelingt. Skrupel gegenüber seiner Frau scheint er keine zu haben, und überhaupt ist der sexuelle Akt für ihn nur kurze Befreiung von seiner Geilheit. Er selbst gibt sich in seinen Gedanken alle Mühe, die Bedeutung des Orgasmus und alles was darum herum geschieht, zu entmystifizieren und als eine rein zweckdienliche Angelegenheit anzusehen. Das Wort „Liebe“ kommt ihm nicht über die Lippen, und entsprechend verhält er sich auch gegenüber seiner Tochter. Amy schreit förmlich nach der Zuneigung ihres Vaters, aber Maurice hat Wichtigeres zu tun.
Kaum hat er sein erstes Kopulationsziel erreicht, arbeitet er schon an einer Steigerung. So wächst in ihm der ehrgeizige Plan, zusammen mit Diana und seiner Frau Joyce einen Dreier zu organisieren, den er hochromantisch „Orgien-Projekt“ nennt.
Zunehmend schleichen sich nun seltsame Begebenheiten unter den Allington-Alltag. So sieht Maurice eine rothaarige Frau in der Kleidung des 17. Jahrhundert, die genauso geisterhaft wieder verschwindet wie sie aufgetaucht ist. Daneben tut Maurices Alkoholismus sein Übriges. Maurice leidet verstärkt an Schmerzattacken und Halluzinationen.
Die Historie des „Grünen Mannes“ ist so weit überliefert, dass bekannt ist, dass Ende des 17. Jahrhunderts der ehemalige Fellower des Cambridger All Saints‘ College, Dr. Thomas Underhill, dort gelebt hat. Sein Ruf war denkbar schlecht, denn man bezichtigte ihn, sich der Schwarzen Kunst verschrieben zu haben und verantwortlich für zwei denkbar grausame Morde, darunter auch an seine Frau, zu sein. Intuitiv erkennt Maurice, dass es sich bei der Rothaarigen um den Geist von Underhills Frau handelt.
Die zweite Hälfte des Romans rückt das Unheimliche immer stärker in den Vordergrund. Amis holt einige der beeindruckendsten Requisiten der unheimlichen Literatur auf die Bühne: Underhills Grab wird geöffnet; Maurice führt ein philosophisches Gespräch mit einem blonden jungen Mann, der aussieht wie einem Modekatalog entstiegen, möglicherweise aber der Teufel ist – wer weiß das schon so genau; und ein aus Ästen und Gestrüpp geformter Golem, einst von Underhill erschaffen, ihm die unermessliche Macht zu geben, nach der er strebte, trampelt in der Nähe des Hauses herum und weckt Urängste.
In einem Buch über „Aberglauben und Geistergeschichten der Briten“ findet Maurice im All Saints‘ College von Cambridge die Spur zu einem Fragment des Tagebuchs Underhills, welches bestürzende Fakten zu Underhills Leben liefert. So war Underhill nicht nur ein Gelehrter sondern auch Nekromant, Schänder und charakterlich so verkommen, dass einem unwohl wird, wenn man diese Tagebuchzeilen liest.
Gewinnt Maurice in der mysteriösen Ursprungsgeschichte seines Hauses immer mehr den Durchblick, verliert er ihn in persönlicher Hinsicht immer mehr. Nacheinander erhält er erst von Diana und dann von Joyce das Okay für die geplante ménage à trois, doch das „Orgien-Projekt“ verläuft nicht ganz so wie geplant. Maurice meint noch die Kontrolle zu haben, als er Diana und Joyce anweist, dass sich zunächst alle drei ausziehen sollten. Als aber dann die beiden Frauen nur Augen füreinander haben und lieber den Lehren Sapphos folgen, ergreift Maurice die Flucht aus dem Schlafzimmer, weil er weiß, dass er raus ist.
In dem Maße, in dem es für Maurice privat bergab geht, wird seine Rolle in der bereits seit Jahrhunderten währenden finsteren Geistergeschichte um Dr. Underhill immer mehr zu einer Hauptrolle. Im großen, magische Funken sprühenden Finale ist Maurice so klar im Kopf wie schon lange nicht mehr. Er wächst über sich hinaus und agiert selbst wie ein Magier, was ihn aber nicht vor privatem Verlust schützt. Das Ende ist jedoch nichtsdestotrotz von Hoffnung geprägt. Maurice zieht genug Nutzen aus den Ereignissen und ist stark genug für einen Neubeginn zusammen mit seiner Tochter Amy.
Fritz Leiber hat The Green Man offenbar nicht gelesen, sonst wäre ihm in besagtem Interview mindestens ein Roman eingefallen, der die unheimliche Atmosphäre über Buchlänge durchhält. The Green Man ist ein psychologischer Sandkasten, der Menschen zeigt, die sich weiter entwickeln. Er hat große schaurige Momente, ist humorvoll und sprachlich auf überaus hohem Niveau. Dieser Roman verdient es, neben Shirley Jacksons The Haunting of Hill House [Spuk in Hill House], T. E. D. Kleins, The Ceremonies [MorgenGrauen], Richard Adams‘ The Girl in a Swing [Das Mädchen auf der Schaukel] und zu guter Letzt Fritz Leibers Our Lady of Darkness zu stehen.

Deutsche Übersetzung: Zum Grünen Mann, übersetzt von Herbert Schlüter (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1971)

Lektorat: Uwe Voehl

[Rezension] Violette Leduc – Therese und Isabelle

Originalveröffentlichung:
Thérèse et Isabelle (1966, geschrieben 1954)

Therese und Isabelle

Dass auch Bücher ihre Schicksale haben, ist bekannt. Um Thérèse et Isabelle richtig einschätzen zu können, muss man die Hintergrundgeschichte kennen: Violette Leduc lieferte 1954 einen neuen Roman bei ihrem französischen Verleger ab, dem das Manuskript jedoch zu heiß war. Aufgrund deutlicher sexueller Beschreibungen wurde der Text radikal insbesondere um den einleitenden ersten Teil des Romans gekürzt. Das geschändete Restmanuskript erschien 1955 unter dem Titel Ravages und fand keine nennenswerte Beachtung.
Erst 1966 traute sich der Verleger, den herausgekürzten ersten Teil des Romans als eigenständiges aber erneut gekürztes Buch unter dem Titel Thérèse et Isabelle zu veröffentlichen. Dies erklärt, warum die Novelle als eigenständiger Text etwas in der Luft zu hängen scheint.
Die Handlung ist schnell beschrieben. Die beiden Schulmädchen eines Gymnasiumpensionats entdecken in einem ekstatischen Ausbruch ihre Gefühle und ihre sexuelle Anziehung zueinander. Therese erzählt in der ersten Person, wie die offensive Isabelle sie in einen Taumel aus Lust und Befriedigung zieht. Die Novelle erzählt infolgedessen in expliziten Details das sexuelle Erwachen und Erwachsenwerden der beiden Mädchen. Bei schlechteren Schriftstellern als Violette Leduc wäre die Geschichte lediglich eine ermüdende Aneinanderreihung von Sexszenen. Aber Leduc ist eine zu gute Schriftstellerin dafür. Ihr Ziel war wohl durchaus, jedes Detail, jede körperliche Empfindung und daraus resultierende orgasmische Ekstase minutiös festzuhalten. Aber ihre metaphernreiche, lyrische Sprache erstickt jegliche mögliche Kritik im Keim. Nur in den nötigsten Fällen benutzt Leduc sachliche Bezeichnungen wie „Schamlippen“ und „Anus“, ansonsten ist alles überhöhter sprachlicher Ausdruck – eine Ekstase auch der Sprache.
Die Geschichte um Therese und Isabelle handelt von nur wenigen Tagen und Nächten, die für die beiden wie ein Rausch vergehen, gefangen zwischen ihrer nicht zu zügelnden Leidenschaft und der steten Angst, erwischt zu werden. Violette Leduc erspart uns Gott sei Dank, dass dies passiert. Im Gegensatz zu anderen Mädchenpensionats-Romanen (wie z.B. Christa Winsloes Das Mädchen Manuela) zählt hier nur die Hoheit der Gefühle, die Reinheit der erotischen Anziehungskraft. Die obligatorische Anklage und Bestrafung findet in Thérèse et Isabelle nicht statt.
Somit ist Thérèse et Isabelle eine äußerst seltene lesbische Liebesgeschichte, in der gleichgeschlechtlicher Sex vorwurfsfrei offen dargestellt wird.
So kann man spekulieren, was passiert wäre, hätte Leducs Verleger 1955 den kompletten Roman veröffentlicht. Möglicherweise hätte es einen Skandal gegeben. Möglicherweise hätte Violette Leduc heute aber auch den Ruf einer großen lesbischen Erotikerin. Ihre literarischen Fertigkeiten lassen Violette Leduc unabhängig davon ganz oben stehen. Ich kenne nichts auch nur ansatzweise Vergleichbares.

Deutsche Übersetzung: „Therese und Isabelle“, übersetzt von Nikolaus Klocke, in: Violette Leduc, Therese und Isabelle & Die Frau mit dem kleinen Fuchs (München: Piper, 1967)

Anmerkung: Erst 2000 veröffentlichte Leducs französischer Verlag Thérèse et Isabelle in genau der Fassung, wie die Autorin den Text 1954 eingereicht hatte. Eine deutsche Übersetzung dieser Originalversion ist offenbar leider nicht in Sicht.

Lektorat: Uwe Voehl

[Rezension] Walter de la Mare – Seatons Tante

Originalveröffentlichung:
Seaton’s Aunt (1922)

Mare Orgie

Die Novelle „Seaton’s Aunt“ gehört zu den rätselhaftesten Geschichten, die ich kenne. Obwohl sie in sehr klarer Sprache geschrieben ist, hinterlässt sie eine endlos scheinende Liste von Fragen, über deren Antworten man nur spekulieren kann. Vordergründig wirkt sie wie eine typische englische Erzählung, in der die Emotionen unterdrückt werden. Aber was da unter der Oberfläche lauert, ist abgrundtief.
Erzählt wird sie in Ich-Form von dem Londoner Achtklässler Withers (seinen Vornamen verschweigt er), der sich so gut er kann persönlich aus der Geschichte heraushält.
Withers ist auch nicht die Hauptfigur, sondern sein Mitschüler Arthur Seaton, der nicht sehr wohlgelitten in der Schule ist. Schon auf Grund seines fremdländischen Aussehens wird er von den anderen Schülern schikaniert. Auch Withers ist nicht gerade eine Glanzfigur, haut er doch mal eben einen Spruch raus, der das fehlende Aussehen eines „reinrassigen Engländers“ an Seaton kritisiert. Trotzdem ist er der Einzige, der sich soweit mit Arthur Seaton abgibt, dass dieser ihn dazu einlädt, ihn zu einem Besuch bei seine schrägen Tante auf dem Lande zu begleiten.
Bei diesem Besuch stellt sich Arthurs Tante, Miss Seaton, als eine sinistre alte Dame heraus, die ihresgleichen sucht. Sie macht Arthur verbal nieder, wo sie nur kann. Schnell wird deutlich, dass Arthur Todesangst vor ihr hat und dass wesentlich mehr hinter dieser seltsamen Beziehung steckt als man ahnen kann.
In der Nacht schleichen Withers und Arthur durch das finstere Haus. Arthur erzählt, dass seine Tante mit dem Teufel im Bunde stehe und mit Geisterwesen kommuniziere. Auch Withers hört das nächtliche Gewisper des Ungesehenen, und selbst als Leser beschleicht einen tatsächlich das kriechende Gefühl, dass dieses Haus Schwärmen von Geistern Heimstatt gewährt, ohne freilich jemals auch nur den Hauch eines Beweises dafür zu finden. So heißt es auch im Text, dass „[…] eine schleichende, unsichtbare Macht im Hintergrund“ Miss Seaton umschwirrt.
Während Withers es ablehnt, etwas Übernatürliches in der Beziehung zwischen Arthur und Miss Seaton zu sehen, ist die Situation für Arthur äußerst ernst. Von Anfang an wirkt er verdammt. Später sagt er zu Withers:“Ich bin schon so gut wie erledigt […].“ Es besteht kein Zweifel: Er ist todgeweiht.
Miss Seaton ist wohl eine der furchterregendsten Kreationen in der Literatur, und das, ohne dass sie auch nur einen Finger krümmt. Während Miss Seaton Arthur einfach nur zu verabscheuen und zu hassen scheint, fördern ihre Gespräche mit Withers offenbar ihren gruftschweren Esprit hervor. Doch die Dialoge mit ihr sind Spiegelfechtereien, deren Spielregeln sie bestimmt. Jedes ihrer Worte hat eine andere Bedeutung als das ausgesprochene.
Einige Zeit nach diesem ersten Besuch – Arthur hat inzwischen die Schule verlassen und Withers ihn weitgehend vergessen – treffen sich die beiden in London wieder. Arthur befindet sich jetzt in Hochzeitsvorbereitungen, und diese Zufallsbegegnung führt ein zweites Mal zu einem Besuch von Withers bei den Seatons. Withers lernt Arthurs angehende Ehefrau Alice Outram kennen, und ansonsten steht auch dieser Besuch wieder unter dem Regiment von Miss Seaton, die erneut ihr tonales Gift versprüht und Arthur demütigt, wo es nur geht. Seatons Tante zeigt gegenüber Withers aber auch zum ersten und einzigen Mal so etwas wie eine emotionale Regung, weshalb es sich lohnt genauer hinzusehen. Denn im Zusammenhang mit dem Choral „A Few More Years Shall Roll“ sagt sie, dass dieser zu schmerzhafte Erinnerungen in ihr wecke. Das Lied ist in der Geschichte nicht abgedruckt, jedoch lässt sich das leicht überprüfen. Es handelt sich um eine christliche Hymne des Predigers Horatius Bonar, welches in apokalyptischen Bildern von der Vorbereitung auf den Tod erzählt. Der bevorstehende Tod wird als ein großes Ereignis, die Erlösung eines erschöpfenden Lebens gefeiert. Der Tod ist darin ein gesegneter Tag, der einen mit den bereits in der Gruft liegenden Toten vereint.
Wiederum einige Zeit später fällt Withers, der längst wieder in sein altes Leben zurückgekehrt ist, auf, dass er schon ewig nichts mehr von Arthur und von der Hochzeit gehört hat. Spontan steigt er in den Bus und fährt aufs Land zu den Seatons. Was er dort erfährt, beschließt eine zutiefst verstörende Schauernovelle. Dies ist definitiv keine Ray-Bradbury-Jungs-Idylle.
Was neben der Faszination noch bleibt, sind Fragen, viele Fragen. Die wichtigsten sind: Warum verabscheut Miss Seaton Arthur so extrem? Wer ist Alice Outram? Sie kommt und geht, hat aber offensichtlich auch Eindruck auf Withers hinterlassen, der sie „reizend“ findet. Ist es Zufall, dass zwei von Arthurs Hauptpeinigern in der Schule später ein „grauenvolles Ende“ finden? Was bedeutet Miss Seatons Bemerkung zu Withers: „Hier ist mein armer lieber Bruder William schon als kleiner Junge gestorben“? Hat Miss Seaton wirklich Arthurs Mutter umgebracht, wie Arthur behauptet? Fragen über Fragen, die den Leser noch lange beschäftigen.

Deutsche Übersetzung: „Seatons Tante“, übersetzt von Elizabeth Gilbert, in: Walter de la Mare, Die Orgie – Eine Idylle (Zürich: Diogenes, 1965)

Lektorat: Uwe Voehl

Elizabeth Gaskell | Die Geschichte der alten Amme

Originalveröffentlichung:
The Old Nurse’s Story (1852)

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Unter der Oberfläche dieser stimmungsvollen, viele bekannte Topoi der Schauerliteratur bedienenden Geistergeschichte brodelt der wütende aber sehr gut unter den Worten versteckte Aufruhr einer großen viktorianischen Autorin gegen die fürchterlichen patriarchalischen Repressionen ihrer Zeit.

In “The Old Nurse’s Story“ [“Die Geschichte der alten Amme“] erzählt die alte Amme Hester den Kindern von Miss Rosamond, wie nah ihre Mutter als kleines Kind einmal dem Unheimlichen gekommen war. Hester wird als nicht einmal Achtzehnjährige zur persönlichen Amme der kleinen Rosamond erkoren, schon bevor diese geboren ist. Als Miss Rosamond vier oder fünf Jahre alt ist, wird sie Waise. Hester, die die kleine Rosamond über alles liebt, bleibt auch weiterhin ihre Amme und Mutterersatz. Die vermögende Verwandschaft von Miss Rosamond, die auch über die Vormundschaft verfügt, zitiert Rosamond und Hester in das alte Familienanwesen, dem Herrenhaus von Furnivall in Northumberland am Fuße der Cumberland Fells. Überraschenderweise hat die Familie bereits vor fünfzig Jahren das Herrenhaus verlassen. Nur noch eine alte Miss Furnivall und einige Bedienstete sollen dort noch leben.
Als Hester und Miss Rosamond in dem abgelegenen Herrenhaus ankommen, lernen sie die vermutlich um die achtzig Jahre alte Miss Furnivall kennen, die stets traurig und melancholisch dreinblickt. Ihr zur Seite steht die genauso alte, immer mürrisch und ernst aussehende Mrs. Stark, die offiziell zwar nur die Gesellschafterin von Miss Furnivall ist, in Wirklichkeit aber eher die Bedeutung einer engen Freundin für Miss Furnivall hat.
Was dann folgt, ist die Beschwörung einer ganzen Batterie von Geistergeschichten-Requisiten. Hester hört die riesige Orgel des Hauses wie wild spielen, obwohl niemand sie bedient, und Miss Rosamond wird von dem Geist eines um Hilfe rufenden kleinen Mädchens nach draußen in die im Schneefall versinkenden Berge gelockt und kann von Hester gerade noch vor dem Erfrieren gerettet werden. Ein großes Finale konfrontiert Sünder und Opfer sowohl in lebendem als auch geisterhaftem Zustand mit ihren tragischen Vergangenheiten.
Obwohl “The Old Nurse’s Story“ bei oberflächlicher Lektüre arg auf den Effekt der Geistergeschichte linsend wirkt, bedeutet sie doch mehr als das. Insbesondere im Hinblick auf ihre Entstehungszeit befindet sich Nachdenkenswertes darin, werden doch beispielsweise unmissverständliche sexuelle Andeutungen getroffen. So ist Miss Furnivall, die in ihrer Jugend die große Familientragödie letztendlich durch ihren Verrat erst angestoßen hat, ein Opfer sexueller Repression durch ihren übermächtigen Vater, der eigene Vorstellungen zur Verheiratung seiner Töchter hat. Daraus resultierend spricht Elizabeth Gaskell auch über das Tabuthema Geheime Hochzeit. “The Old Nurse’s Story“ ist aber auch ein bedeutungsvolles Statement zur Romantischen Freundschaft zwischen Frauen. Mrs. Stark hat ihr ganzes Leben ihrer Herrin gewidmet, und Hester kann sich dem Portrait der jungen schönen Miss Maude kaum entziehen: “Ich hätte es eine Stunde lang anschauen können […]“ Auch sie verschreibt zukünftig offenbar ihr Leben einer anderen Frau. Sämtliche erwähnten Männer hingegen werden bis in die letzte Nebenrolle mit mindestens einer negativen Charaktereigenschaft gezeichnet. Um es auf den Punkt zu bringen: “The Old Nurse’s Story“ ist eine sehr deutliche Stellungnahme, ja geradezu ein gepeinigter Aufschrei, gegen das Patriarchat. Bemerkenswert hier besonders, wie subtil der Protest gegen die patriarchale Herrschaft über die Frau zwischen den Zeilen versteckt wurde. “The Old Nurse’s Story“ ist ein wichtiges Dokument dafür, warum – was heute kaum noch bekannt ist – so viele Frauen im Viktorianischen Zeitalter Geistergeschichten schrieben. Das phantastische Element in den Geistergeschichten gab den schreibenden Frauen die Gelegenheit, sich kodiert über ihre Unterdrückung zu äußern, was Elizabeth Gaskell hier auf faszinierende Weise gelungen ist. “The Old Nurse’s Story“ ist ein wichtiger Beitrag zu einer vor dem männlichen Geschlecht verborgenen geheimen Historie der Frauen.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Die Geschichte der alten Amme“, übersetzt von Anne Rademacher, in: Anne Rademacher (Hrsg.), Gespenstische Frauen (München: dtv, 2004)

Robert Louis Stevenson | Olalla

Originalveröffentlichung:
Olalla (1885)

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Ein Veteran des spanischen Unabhängigkeitskriegs verfällt während seiner Rekonvaleszenz auf dem Lande einer überirdisch schönen Frau. Ist sie überhaupt menschlich, und erwidert sie seine Liebe? Wortgewaltig stellt Robert Louis Stevenson diese und weitere existentielle Fragen.

Die Novelle “Olalla“ [“Olalla“] von Robert Louis Stevenson gehört zu den unkonventionelleren übernatürlichen Liebesgeschichten. Sie ist nah verwandt mit “La Morte amoureuse“ von Thèophile Gautier und erspart uns ebenfalls die moralischen Klischees, die man zwangsweise in Geschichten dieser Art erwartet.
Der namenlose Ich-Erzähler ist ein englischer Kommandant, der sich im Spanischen Unabhängigkeitskrieg verdingt hat und nach Gefangenschaft und Verwundungen unter der Obhut seines Arztes irgendwo in einer spanischen Stadt seine weitgehende Genesung erreicht hat. Über sein bisheriges Leben schweigt er sich aus, erwähnt aber nebenbei, dass er in seiner Kriegsvergangenheit durchaus dem Tode nahe war.
Sein Arzt empfiehlt ihm als Abschluss seiner Rekonvaleszenz einen Urlaub auf dem Lande. Als Mann der Tat hat der Arzt ihm bereits eine Unterkunft als Logiergast bei einer verarmten Adelsfamilie in den Bergen vermittelt. Der Erzähler folgt dem Rat seines Arztes und kommt schon bald in dem völlig abgeschiedenen Herrenhaus an. Dieses beherbergt lediglich die Mutter, deren Wurzeln bis zu einem königlichen Geschlecht zurückreicht und ihre beiden Kinder, einem Sohn und einer Tochter. Während dem Erzähler die Tochter verborgen bleibt, stellen sich Mutter und Sohn als sehr fremdartig dar. Ihr Benehmen ist von Apathie, Verstocktheit und einem auffallenden Defizit an Bildung geprägt.
Im Zimmer des Erzählers hängt das Gemälde einer jungen, überirdisch schönen, aber auch seltsam furchteinflößenden jungen Frau, auf das der Erzähler sofort emotional reagiert. Eines Nachts wecken ihn abgrundtiefe Schreie, die ihn verstört zurücklassen.
Erst nach Tagen lernt der Erzähler dann die außergewöhnlich schöne Tochter des Hauses, Olalla, kennen, die dem Porträt erstaunlich ähnelt. Im Gegensatz zu ihrer Familie ist sie belesen und feinsinnig. Der Erzähler entflammt in Liebe für Olalla, was Stevenson in euphorisierter und kunstvoller Sprache sehr überzeugend und erstaunlich kitschreduziert zu vermitteln gelingt. Obwohl Olalla zunächst nur geheimnisvoll schweigt, gibt es für den Erzähler kein Zurück mehr. Die ersten Worte, die Olalla schließlich an ihn richtet, lauten: “Sie werden fortgehen […]. Heute!“ Bemerkenswert daran ist, warum Olalla dies sagt. Tatsächlich will sie ihn vor Unheil zu bewahren, ihn vor ihrer heruntergekommenen Familie beschützen, weil auch sie sich in ihn verliebt hat. Und das, obwohl sie wie ihre hinfällige Sippschaft nichtmenschlich ist.
Und folgerichtig endet die Novelle nicht, wie leider J. Sheridan Le Fanus “Carmilla“ (zu der “Olalla“ einige Berührungen hat) mit Destruktion, sondern in Traurigkeit und Melancholie. Des Erzählers Glück, seiner Anima in persona gegenüberstehen zu dürfen, hat leider keine Zukunft. Der Erzähler wird Olalla sein zukünftiges Leben niemals mehr vergessen können.
“Olalla“ ist eine meisterhafte Schauer- und Liebesnovelle, die im Kontext ihrer Entstehungsepoche, dem viktorianischen England, unterschwellig auch sehr viel über die Angst vor Sexualität im Allgemeinen und tiefergehend über die große Furcht des gesellschaftlich zwar höher gestellten, aber trotzdem machtlosen Mannes vor der überwältigenden und durch keinerlei patriarchalische Autorität abwehrbare Aura einer göttingleichen schönen Frau zu sagen hat. “Olalla“ ist eine Fundgrube existentieller Gedanken, eingehüllt in eine erlesene Sprache.

Deutsche Übersetzung: “Olalla“, übersetzt von Waltraud Götting, in: Michael Görden (Hrsg.), Das große Buch der erotischen Phantastik (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

[Rezension] Oliver Onions – Die wirklichen Leute

Originalveröffentlichung:
The Real People (1924)

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Die Novelle „The Real People“ wirkt wie ein Negativ zu Oliver Onions’ berühmter Geschichte „The Beckoning Fair One“ [„Die lockende Schöne“]. Auch hier beschäftigt sich Onions mit der Thematik des schöpferischen Prozesses eines Schriftstellers. Verändert in „The Beckoning Fair One“ das Leben des Schriftstellers den kreativen Akt des Schreibens, ist es in „The Real People“ genau umgekehrt. Das Leben des Autors ändert sich radikal durch das plötzlich geweckte Phantasiepotenzial des Schreibprozesses. So behandeln beide Geschichten im Kern dieselbe Thematik, jedoch aus exakt gegensätzlichen Ausgangspunkten.
Der 24-jährige Aubrey Kneller kann sich nicht beklagen. Er schreibt immer wieder denselben massenkompatiblen Roman und hat es damit zu einem Autor von Ruf gebracht. Er liebt seinen luxuriösen Lebensstil und weiß sehr genau, dass er diesen nur halten kann, indem er mit jedem neuen Roman aufs Neue die Erwartungen seines Publikums erfüllt. Er ist verlobt mit der zwei Jahre älteren Helen Boyd, für die ebenfalls der Komfort, den Aubrey ihr bietet, an erster Stelle zu steht. Mit Beginn der Geschichte gibt Aubrey gerade mit gemischten Gefühlen das Manuskript seines neuen Romans Delia Vane in die Post. Im Rückblick informiert er uns über die seltsame Transformation seines Romans. Er startet mit den üblichen Charakterattrappen, wie es seine Leserschaft erwartet, doch plötzlich beginnen die Charaktere gegen ihren Schöpfer zu rebellieren. Die zweidimensionalen Stammfiguren, die lediglich andere Namen tragen als ihre Vorgänger, verschwinden zunehmend aus dem Buch, während eine Nebendarstellerin wider Erwarten größer und größer wird und schließlich gegen Aubreys Willen die Kontrolle über den Roman übernimmt.
Aubrey spürt zunehmend, dass sein Leben vor einem Wendepunkt steht. Ohne selbst zu wissen, dass er sich in einer Lebenskrise aus Verstellung und fehlender Tiefe befindet, nimmt ihn die neue Hauptfigur, die sich jetzt selbst in Delia Vane umbenannt hat, an die Hand und führt ihn raus aus dem Loch der Anpassung. Dies hat Konsequenzen auf Aubreys reales Leben.
Aubrey lernt eine junge Frau kennen, in der er seine Romanfigur Delia wiedererkennt und mit der er im Folgenden ein Verhältnis beginnt. Der Weg in seinen sozialen Abstieg wird eingeläutet. Aubrey verliert zunehmend die Kontrolle über die Wirklichkeit, kann Realität und Fiktion nicht mehr trennen. Seine Verlobung zur bürgerlichen Helen löst er, seine Ersparnisse schwinden infolge der ansteigenden Vergnügungssucht seiner neuen, inzwischen sehr launigen, Gefährtin.
Am Ende stellt sich, wie bei Onions üblich, die Frage nach Realität und Übernatürlichem. Hat sich alles, ausgelöst durch eine Lebenskrise, nur in Aubreys Kopf abgespielt oder ist er in die Fänge einer übersinnlichen femininen Wesenheit geraten? Die Antwort kann nur jeder Leser für sich finden. Eindeutige Hinweise dafür, dass Delia eine Geistererscheinung ist, gibt es nicht. Andererseits aber, hinterfragt man, ob die Novelle ohne übernatürlichen Hintergrund stimmig sei, könnte ich nicht beantworten, an wen Aubreys Vermögen gegangen ist.
Auch das Ende lässt zwei Deutungsvarianten zu. In Ton und Stimmung scheint es Aubreys Niedergang zu besiegeln, aber es kann auch als Startschuss für ein neues Leben entschlüsselt werden. Aubrey hat alles verloren – sein Geld, sein Ansehen als erfolgreicher Autor, seine Beziehung – aber er hat nun zu sich selbst gefunden und wird nie wieder eine durchscheinende Leinwand voll der Erwartungen seiner Umwelt sein.

Deutsche Übersetzung: „Die wirklichen Leute“, übersetzt von Unbekannt, in: Michael Görden (Hrsg.), Schrecksekunden – Gespensterbuch 4 (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

Lektorat: Uwe Voehl

Algernon Blackwood | Aufgeschoben

Originalveröffentlichung:
The Deferred Appointment (1914)

Eine der kürzesten Schauergeschichten aller Zeiten beeindruckt mit beunruhigender Atmosphäre.

„The Deferred Appointment“ [„Aufgeschoben“] ist eine aufs Allernötigste reduzierte Kürzestgeschichte, die ähnlich Arthur Machens faszinierenden  Prosavignetten in Ornaments in Jade Blackwoods Meisterschaft zeigt, mit nur wenigen Sätzen eine dichte, stimmungsvoll-unheimliche Atmosphäre zu zeichnen. Lediglich eine kurze Satzfolge braucht er, um die makellose Beschreibung eines unwirtlichen, grauen Londoner Wintertages zu entwerfen.
Damit ist der perfekte Boden für die komprimierte Handlung erschaffen. Ein krank aussehender Mann erscheint wortlos in einem Fotoatelier. Wie sich herausstellt, ist der Mann eine Viertelstunde zuvor gestorben.
Das Unheimliche kriecht förmlich in diesen stürmischen, verschneiten Tag hinein und hinterlässt ein erlesenes Schauergefühl, wie es nur ein Meister mit derart wenig Text zu produzieren in der Lage ist.

Empfehlenswerte Übersetzung: „Aufgeschoben“, übersetzt von Anonymus, in: Michael Görden (Hrsg.), Schrecksekunden – Gespensterbuch 4 (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

Sarah Orne Jewett | Marthas Dame

Originalveröffentlichung:
Martha’s Lady (1897)

Sarah Orne Jewett - Marthas Dame
In dieser leisen, melancholischen Geschichte einer romantischen Freundschaft widmet eine Bedienstete ihrer abwesenden Herrin aus Liebe ihr ganzes Leben mit absoluter Enthaltsamkeit.

Ein trauriges Juwel hat uns Sarah Orne Jewett da mit der Erzählung “Martha’s Lady“ [“Marthas Dame“] hinterlassen. Es ist eine stille Geschichte voller unausgesprochener Traurigkeit aus einer Zeit, “als man noch ausgedehnte Besuche machte.“ Im schönen Frühsommer im typischen Jewett’schen New England ist das Hausmädchen Martha bei ihrer wohlhabenden Herrin Miss Harriet Pyne vornehmlich als nichtsnutziger Tolpatsch bekannt. Dies ändert sich jedoch schlagartig, als Miss Pynes junge Kusine Helena Vernon aus Boston für längere Zeit zu Besuch kommt. Sie ist anders als Miss Pyne. Sie strahlt Lebensfreude und Optimismus aus und macht sich nicht viele Gedanken um die Etikette. Weil sie Martha voller Respekt und nicht nur als Dienstbotin behandelt, taut Martha zusehends auf und strengt sich fortan an, ihre Aufgaben zur Zufriedenheit von Helena zu erfüllen. Als Martha zufälligerweise mithört, wie Helena sie vor Miss Harriet in den besten Tönen lobt und voller Zuneigung über sie spricht, erfüllt sie das mit einer vorher nicht gekannten Glückseligkeit. Martha und Helena sind mit etwas über zwanzig Jahren ungefähr gleichaltrig. Helena zeigt Martha, wie sie bestimmte Aufgaben richtig zu erfüllen hat, aber für Martha ist dies längst keine Arbeit mehr im eigentlichen Sinne. Sie genießt die gemeinsamen Unternehmungen mit Helena eher, als seien sie Freunde.
Doch das Ende dieser Idylle ist nahe. Als Helena wieder zu ihrer Familie nach Boston zurückkehrt, können die Zurückgebliebenen “nichts weiter tun, als alt werden und sich auf den Winter vorbereiten.“ Sie hinterlässt mehr als ein gebrochenes Herz. Die Menschen, die ihr begegnet sind, sind nicht mehr dieselben.
Es vergehen vierzig Jahre. Martha ist dem Haushalt von Miss Pyne treu geblieben. Miss Pyne bleibt ihre einzige Verbindung zu Helena. So erfährt sie über die Jahre, dass Helena einen Engländer geheiratet hat, im Ausland lebt, Kinder bekommen und verloren hat.
Aber ohne Vorwarnung ist plötzlich nach über vierzig Jahren der Tag da, an dem Helena zu Miss Pyne und Martha zurückkehrt.
Sarah Orne Jewett, die ziemlich sicher Frauen liebte, spielt sehr geschickt mit den Rollen der beiden. Helena ist Martha zugeneigt, aber letztendlich verlässt sie sie für vier Jahrzehnte. Erst als gereifte über Sechzigjährige “war ihr alles klargeworden.“ Martha hingegen liebt Helena stumm und richtet ihr ganzes Leben nur noch nach dieser verborgenen und verlorenen Liebe aus. “Ohne es zu wissen, besaß sie die Schönheit einer Heiligen“, heißt es an einer Stelle dieser aufwühlenden Liebesgeschichte.

Übersetzung: “Marthas Dame“, übersetzt von Elisabeth Schnack, in: Sarah Orne Jewett, Der weiße Reiher und andere Erzählungen aus dem Land der Spitzen Tannen (Zürich: Manesse, 1966)

Oliver Onions | Die lockende Schöne

Originalveröffentlichung:
The Beckoning Fair One (1911)

Oliver Onions - Die lockende Schöne

In dieser makellosen Schauernovelle verbindet sich in Formvollendung die Zusammenführung subtil vernichtender Verführung, Psychologie und Liebe.

Wie weitsichtig war doch dieser Autor. Mit leichter Hand vermischt er die klassische Spukhausgeschichte mit Psychologie und emotionalen Untiefen zu einer unheimlichen Novelle, die mit an der Spitze des Genres steht und die Möglichkeiten anzeigt, wie weit man ein genre-typisches Thema expandieren kann.
“The Beckoning Fair One“ [“Die lockende Schöne“] lässt, wie viele herausragende phantastische Geschichten, mindestens zwei Lesarten zu. Dabei scheint mir die eine, nämlich der psychologische Verfall eines Menschen, nicht so überzeugend zu sein wie die andere, denn ein plausibler Grund für das plötzliche geistige Abdriften des Protagonisten Paul Oleron, zeitgleich mit Bezug des alten Hauses, erschließt sich mir nicht. Da erscheint mir die andere Lesart, die einer Geistergeschichte nämlich, sehr viel stimmiger und zugegebener Weise auch faszinierender.
Der 44-jährige Paul Oleron hält sich als Schriftsteller über Wasser, hat es aber satt, ständig zwischen seinem Arbeitszimmer und seiner Wohnung in London hin- und her zu pendeln. Da kommt ihm ein altes, leer stehendes Backsteinhaus recht, das er durch Zufall entdeckt. Ohne Zeit zu verlieren, mietet er eine Wohnung in dem Haus an. Er befindet sich gerade in der Mitte des Romans Romilly, einer Liebesgeschichte, die laut Olerons platonischer Freundin Elsie Bengough seinen Durchbruch als Schriftsteller bewirken wird. Oleron setzt alles daran, möglichst schnell seinen Hausstand zusammenzuraffen und in seine neue Heimstatt einzuziehen. Sein vorrangiges Ziel ist es, hier konzentriert seinen Roman zu vollenden, allein schon, weil ihn bald wirtschaftliche Probleme belasten werden. Romilly besteht bis dahin aus fünfzehn Kapiteln. Dabei ist Romilly Bishop eine Romanfigur, die bereits nach kurzer Zeit begonnen hat, “aus sich heraus zu sprechen und zu handeln“. Aber bereits am ersten Tag in seiner renovierten neuen Wohnung, gelingt es ihm vor lauter Ablenkungen nicht, das Buch weiterzuschreiben, was sich in den nächsten Tagen kontinuierlich fortsetzt. Schon nach kurzer Zeit ist klar, dass etwas mit diesem Haus nicht stimmt. Elsie fällt kurz hintereinander im Haus zwei seltsamen Unfällen zum Opfer, bei denen sie leicht verletzt wird. Während Oleron das zwar merkwürdig erscheint, ist Elsie (dank weiblicher Intuition?) bereits so weit zu wissen, dass sie in diesem Haus unerwünscht ist.
Mit Oleron geht es unterdessen rapide bergab. Er wird gegenüber Elsie, mit der ihn eine zehnjährige Freundschaft verbindet, immer unzugänglicher und denkt zunehmend darüber nach, die fünfzehn Kapitel von Romilly zu verwerfen und neu zu schreiben, da er der Figur der Romilly immer weniger abgewinnen kann. Weil Elsie spürt, dass sie Oleron verliert, gelingt es ihr nicht mehr, während einer verzweifelten Aussprache vor Oleron ihre wahren Gefühle zu verheimlichen. Selbst Oleron, dem Weltfremden, wird jetzt bewusst, dass Elsie ihn in Wirklichkeit seit all den Jahren liebt. Dass Oleron unter seinem Staubpanzer aber auch nicht ganz ohne Gefühle für Elsie war, untermauert schon die Tatsache, dass er kurz davor war, ihr mit Romilly ein Denkmal zu setzen.
Aber Oleron ist schon zu tief in den Bann des Hauses geraten, um noch zurückrudern zu können. Es häufen sich für Oleron die Anzeichen, dass das Haus eine starke feminine Präsenz beherbergt. Die Melodie eines topfenden Wasserhahns entpuppt sich als eine uralte Weise namens “Die lockende Schöne“, und als Oleron nachts dann auch noch das streichende, knisternde Geräusch einer sich das Haar kämmenden Frau hört, ist er restlos dieser nicht-humanen Entität verfallen.
Oliver Onions hat die große psychologische Aufgabe, die er sich gestellt hat, über die gesamte Länge dieser herausragenden Novelle durchgehalten und bewältigt. Indem er es den Lesern überlässt, sowohl die emotionalen als auch die übernatürlichen Andeutungen selbst zusammenzufügen, bleibt die Geschichte immer glaubhaft. Die rätselhafte Stimmung, die von Anfang an vorherrscht, wird durch keinerlei rationale Erklärung geschändet. Am Ende bleiben dem Leser ambivalente Gefühle übrig. Olerons törichtes Verhalten weckt in uns eher Wut als unser Mitgefühl. Elsie jedoch, diese große, hübsche und sehr weibliche Frau ist die heimliche Hauptfigur der Novelle. Ihr Schicksal bricht uns das Herz.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Die lockende Schöne“, übersetzt von Waltraud Götting, in: Oliver Onions, Die lockende Schöne (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

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