Edgar Allan Poe | Ligeia

Originalveröffentlichung:
Ligeia (1838)

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Eine Frau von der man nicht weiß, ob man sie fürchten oder anbeten muss. Mensch oder Göttin? Ein Mann, obsessiv und im Opium-Delirium. Und dann der Horror, in Wellen, wie eine Flut des Grauens. Was für eine Geschichte!

Wie nah man mit einer Geschichte des Grauens der Formvollendung kommen kann, zeigt sehr schön Edgar Allan Poes Erzählung “Ligeia“, die 1838 zunächst in Magazinform erschien und nach einigen nicht unerheblichen Überarbeitungen schließlich 1845 in ihrer endgültigen Fassung glänzen durfte.
“Ligeia“ zeigt überwältigend, wie nah Schönheit und Horror nebeneinander stehen, wenn ein wahrer Meister diesen Gegensatz bis zum überhaupt Möglichen ausreizt.
Erzählt wird “Ligeia“ in erster Person in Rückschau. Für den namenlosen Erzähler bietet das Gelegenheit, uns an seiner großen Liebe zu der geheimnisvollen Ligeia teilhaben zu lassen. Wie viel wir diesem opiumisierten Erzähler überhaupt glauben dürfen, bleibt uns überlassen, aber Hinweise wie der fünfeckige Turm, in den später Lady Rowena einquartiert wird, fachen den Glauben an etwas Übernatürlichem durchaus an.
Obwohl er Jahre mit ihr zusammengelebt hat, nennt der Erzähler sie “Geliebte“. Er hat sie “in einer großen, alten, heruntergekommenen Stadt am Rhein getroffen“ und ihren Familiennamen “niemals erfahren“. Das Einzige, was er über sie weiß, ist, dass sie einer “sehr alte[n] Familie“ entstammt, “mit einer in fernste Jahrhunderte zurückgehenden Ahnenreihe“. Geheimnisvolle Stimmung im Konzentrat durch Auslassungen an den richtigen Stellen.
Mit aller Inbrunst zelebriert er Ligeias Schönheit, ihre mamorweiße Haut, ihre schimmernden rabenschwarzen Haare. “Hochgewachsen, sehr schlank“ und mit einer tiefen, melodiösen Stimme sprechend. Alle Gedanken des Erzählers kleben an der Erinnerung an sie, und die Beschreibung ihrer Erscheinung ist eine große literarische Hymne auf die Schönheit einer Frau, einer Göttin. Dabei ist ihre Schönheit nicht auf die reine Anmut reduzierbar, sondern gebunden an Mysterien und etwas undeutlich Furchteinflößendem. Sie strömt vage spürbar eine unterschwellig aggressive Sexualität aus, und wenn der Erzähler ihre Augen als “um vieles größer […] als die […] unserer eigenen Rasse“ beschreibt, verstärkt er den Eindruck, dass Ligeia nicht ganz menschlich sein könnte. Vielleicht ist sie wirklich eine Göttin.
Sie ist aber auch intellektuell deutlich mehr als nur die schöne Geliebte. Der Erzähler nennt sie seine Gelehrte, der er alles wichtige Wissen verdankt. Die wohl zentrale Erkenntnis, die er so gewinnt, ist ihre Aussage, dass Menschen nur sterben, weil sie nicht die Kraft haben, sich gegen den Tod aufzulehnen.
Trotzdem stirbt sie – einfach so –, und man denkt unwillkürlich, dass eine solche Frau nicht derart grundlos dahinsterben kann. Man ist fassungslos über die Gewöhnlichkeit ihres Todes, den man in der konsequenten Schlichtheit so nicht von ihr erwartet hätte.
Durch die Hinterlassenschaft Ligeias vermögend geworden, zieht der Erzähler von Deutschland aus nach England in eine alte Abtei. Jetzt völlig allein und permanent unter Opiumeinfluss, richtet er sich, um sich abzulenken, in ägyptisch-königlichem Stil ein, und plötzlich ist er verheiratet mit der blonden, blauäugigen Lady Rowena.
Aber die neue, aus finanziellen Gründen eingegangene Ehe steht unter dem Gestirn der Verdammnis. Rowena hat Angst vor der düsteren Aura des Erzählers und ist weit davon entfernt, ihn zu lieben. Im Gegenzug beginnt er sie abgrundtief zu hassen. Gegen das übermächtige Andenken der Ligeia kann Rowena nur verlieren.
Dann setzt das Grauen ein. Aber ist es für den Erzähler überhaupt schrecklich, was da passiert oder ist es die Erfüllung seines einzigen Herzenswunsches?

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Ligeia“, übersetzt von Michael Görden, in: Michael Görden (Hrsg.), Das große Buch der erotischen Phantastik (Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

Robert Louis Stevenson | Olalla

Originalveröffentlichung:
Olalla (1885)

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Ein Veteran des spanischen Unabhängigkeitskriegs verfällt während seiner Rekonvaleszenz auf dem Lande einer überirdisch schönen Frau. Ist sie überhaupt menschlich, und erwidert sie seine Liebe? Wortgewaltig stellt Robert Louis Stevenson diese und weitere existentielle Fragen.

Die Novelle “Olalla“ [“Olalla“] von Robert Louis Stevenson gehört zu den unkonventionelleren übernatürlichen Liebesgeschichten. Sie ist nah verwandt mit “La Morte amoureuse“ von Thèophile Gautier und erspart uns ebenfalls die moralischen Klischees, die man zwangsweise in Geschichten dieser Art erwartet.
Der namenlose Ich-Erzähler ist ein englischer Kommandant, der sich im Spanischen Unabhängigkeitskrieg verdingt hat und nach Gefangenschaft und Verwundungen unter der Obhut seines Arztes irgendwo in einer spanischen Stadt seine weitgehende Genesung erreicht hat. Über sein bisheriges Leben schweigt er sich aus, erwähnt aber nebenbei, dass er in seiner Kriegsvergangenheit durchaus dem Tode nahe war.
Sein Arzt empfiehlt ihm als Abschluss seiner Rekonvaleszenz einen Urlaub auf dem Lande. Als Mann der Tat hat der Arzt ihm bereits eine Unterkunft als Logiergast bei einer verarmten Adelsfamilie in den Bergen vermittelt. Der Erzähler folgt dem Rat seines Arztes und kommt schon bald in dem völlig abgeschiedenen Herrenhaus an. Dieses beherbergt lediglich die Mutter, deren Wurzeln bis zu einem königlichen Geschlecht zurückreicht und ihre beiden Kinder, einem Sohn und einer Tochter. Während dem Erzähler die Tochter verborgen bleibt, stellen sich Mutter und Sohn als sehr fremdartig dar. Ihr Benehmen ist von Apathie, Verstocktheit und einem auffallenden Defizit an Bildung geprägt.
Im Zimmer des Erzählers hängt das Gemälde einer jungen, überirdisch schönen, aber auch seltsam furchteinflößenden jungen Frau, auf das der Erzähler sofort emotional reagiert. Eines Nachts wecken ihn abgrundtiefe Schreie, die ihn verstört zurücklassen.
Erst nach Tagen lernt der Erzähler dann die außergewöhnlich schöne Tochter des Hauses, Olalla, kennen, die dem Porträt erstaunlich ähnelt. Im Gegensatz zu ihrer Familie ist sie belesen und feinsinnig. Der Erzähler entflammt in Liebe für Olalla, was Stevenson in euphorisierter und kunstvoller Sprache sehr überzeugend und erstaunlich kitschreduziert zu vermitteln gelingt. Obwohl Olalla zunächst nur geheimnisvoll schweigt, gibt es für den Erzähler kein Zurück mehr. Die ersten Worte, die Olalla schließlich an ihn richtet, lauten: “Sie werden fortgehen […]. Heute!“ Bemerkenswert daran ist, warum Olalla dies sagt. Tatsächlich will sie ihn vor Unheil zu bewahren, ihn vor ihrer heruntergekommenen Familie beschützen, weil auch sie sich in ihn verliebt hat. Und das, obwohl sie wie ihre hinfällige Sippschaft nichtmenschlich ist.
Und folgerichtig endet die Novelle nicht, wie leider J. Sheridan Le Fanus “Carmilla“ (zu der “Olalla“ einige Berührungen hat) mit Destruktion, sondern in Traurigkeit und Melancholie. Des Erzählers Glück, seiner Anima in persona gegenüberstehen zu dürfen, hat leider keine Zukunft. Der Erzähler wird Olalla sein zukünftiges Leben niemals mehr vergessen können.
“Olalla“ ist eine meisterhafte Schauer- und Liebesnovelle, die im Kontext ihrer Entstehungsepoche, dem viktorianischen England, unterschwellig auch sehr viel über die Angst vor Sexualität im Allgemeinen und tiefergehend über die große Furcht des gesellschaftlich zwar höher gestellten, aber trotzdem machtlosen Mannes vor der überwältigenden und durch keinerlei patriarchalische Autorität abwehrbare Aura einer göttingleichen schönen Frau zu sagen hat. “Olalla“ ist eine Fundgrube existentieller Gedanken, eingehüllt in eine erlesene Sprache.

Deutsche Übersetzung: “Olalla“, übersetzt von Waltraud Götting, in: Michael Görden (Hrsg.), Das große Buch der erotischen Phantastik (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

Oliver Onions | Die lockende Schöne

Originalveröffentlichung:
The Beckoning Fair One (1911)

Oliver Onions - Die lockende Schöne

In dieser makellosen Schauernovelle verbindet sich in Formvollendung die Zusammenführung subtil vernichtender Verführung, Psychologie und Liebe.

Wie weitsichtig war doch dieser Autor. Mit leichter Hand vermischt er die klassische Spukhausgeschichte mit Psychologie und emotionalen Untiefen zu einer unheimlichen Novelle, die mit an der Spitze des Genres steht und die Möglichkeiten anzeigt, wie weit man ein genre-typisches Thema expandieren kann.
“The Beckoning Fair One“ [“Die lockende Schöne“] lässt, wie viele herausragende phantastische Geschichten, mindestens zwei Lesarten zu. Dabei scheint mir die eine, nämlich der psychologische Verfall eines Menschen, nicht so überzeugend zu sein wie die andere, denn ein plausibler Grund für das plötzliche geistige Abdriften des Protagonisten Paul Oleron, zeitgleich mit Bezug des alten Hauses, erschließt sich mir nicht. Da erscheint mir die andere Lesart, die einer Geistergeschichte nämlich, sehr viel stimmiger und zugegebener Weise auch faszinierender.
Der 44-jährige Paul Oleron hält sich als Schriftsteller über Wasser, hat es aber satt, ständig zwischen seinem Arbeitszimmer und seiner Wohnung in London hin- und her zu pendeln. Da kommt ihm ein altes, leer stehendes Backsteinhaus recht, das er durch Zufall entdeckt. Ohne Zeit zu verlieren, mietet er eine Wohnung in dem Haus an. Er befindet sich gerade in der Mitte des Romans Romilly, einer Liebesgeschichte, die laut Olerons platonischer Freundin Elsie Bengough seinen Durchbruch als Schriftsteller bewirken wird. Oleron setzt alles daran, möglichst schnell seinen Hausstand zusammenzuraffen und in seine neue Heimstatt einzuziehen. Sein vorrangiges Ziel ist es, hier konzentriert seinen Roman zu vollenden, allein schon, weil ihn bald wirtschaftliche Probleme belasten werden. Romilly besteht bis dahin aus fünfzehn Kapiteln. Dabei ist Romilly Bishop eine Romanfigur, die bereits nach kurzer Zeit begonnen hat, “aus sich heraus zu sprechen und zu handeln“. Aber bereits am ersten Tag in seiner renovierten neuen Wohnung, gelingt es ihm vor lauter Ablenkungen nicht, das Buch weiterzuschreiben, was sich in den nächsten Tagen kontinuierlich fortsetzt. Schon nach kurzer Zeit ist klar, dass etwas mit diesem Haus nicht stimmt. Elsie fällt kurz hintereinander im Haus zwei seltsamen Unfällen zum Opfer, bei denen sie leicht verletzt wird. Während Oleron das zwar merkwürdig erscheint, ist Elsie (dank weiblicher Intuition?) bereits so weit zu wissen, dass sie in diesem Haus unerwünscht ist.
Mit Oleron geht es unterdessen rapide bergab. Er wird gegenüber Elsie, mit der ihn eine zehnjährige Freundschaft verbindet, immer unzugänglicher und denkt zunehmend darüber nach, die fünfzehn Kapitel von Romilly zu verwerfen und neu zu schreiben, da er der Figur der Romilly immer weniger abgewinnen kann. Weil Elsie spürt, dass sie Oleron verliert, gelingt es ihr nicht mehr, während einer verzweifelten Aussprache vor Oleron ihre wahren Gefühle zu verheimlichen. Selbst Oleron, dem Weltfremden, wird jetzt bewusst, dass Elsie ihn in Wirklichkeit seit all den Jahren liebt. Dass Oleron unter seinem Staubpanzer aber auch nicht ganz ohne Gefühle für Elsie war, untermauert schon die Tatsache, dass er kurz davor war, ihr mit Romilly ein Denkmal zu setzen.
Aber Oleron ist schon zu tief in den Bann des Hauses geraten, um noch zurückrudern zu können. Es häufen sich für Oleron die Anzeichen, dass das Haus eine starke feminine Präsenz beherbergt. Die Melodie eines topfenden Wasserhahns entpuppt sich als eine uralte Weise namens “Die lockende Schöne“, und als Oleron nachts dann auch noch das streichende, knisternde Geräusch einer sich das Haar kämmenden Frau hört, ist er restlos dieser nicht-humanen Entität verfallen.
Oliver Onions hat die große psychologische Aufgabe, die er sich gestellt hat, über die gesamte Länge dieser herausragenden Novelle durchgehalten und bewältigt. Indem er es den Lesern überlässt, sowohl die emotionalen als auch die übernatürlichen Andeutungen selbst zusammenzufügen, bleibt die Geschichte immer glaubhaft. Die rätselhafte Stimmung, die von Anfang an vorherrscht, wird durch keinerlei rationale Erklärung geschändet. Am Ende bleiben dem Leser ambivalente Gefühle übrig. Olerons törichtes Verhalten weckt in uns eher Wut als unser Mitgefühl. Elsie jedoch, diese große, hübsche und sehr weibliche Frau ist die heimliche Hauptfigur der Novelle. Ihr Schicksal bricht uns das Herz.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Die lockende Schöne“, übersetzt von Waltraud Götting, in: Oliver Onions, Die lockende Schöne (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

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