Amelia B. Edwards | Salome

Originalveröffentlichung: The Story of Salome (1867)

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Eine Liebesgeschichte, die erst im Tod beginnt. Wunderschöne Landschaftsbeschreibungen und Melancholie bestimmen den Klang dieses traurigen kleinen Juwels.

Die Geister in der Masse der klassischen Geistergeschichten des viktorianischen Englands scheinen das einzige erklärte moralische Ziel zu haben, Rache zu üben, das Fürchten zu lehren. Amelia B. Edwards, die eine Reihe von realistischen Romanen und eine Handvoll Geistergeschichten schrieb, geht einen anderen Weg. Der weibliche Geist in ihrer atmosphärischen, sehr einnehmend geschriebenen Kurzgeschichte “The Story of Salome“ [“Salome“] ist da schon eher eine Ausdrucksform für Melancholie, für unendliche Traurigkeit. Dem Ich-Erzähler Harcourt Blunt, Maler aus England auf Europareise, droht zu keinem Zeitpunkt Gefahr – außer der, sein Leben lang unglücklich zu sein, wie der letzte Satz der Geschichte impliziert.
Eigentlich ist es ja Blunts Kindheitsfreund und Reisegefährte Coventry Turnour, der sich ständig neu verliebt. Diesmal hat es ihn in Venedig erwischt. Voller Enthusiasmus schleppt er Blunt zu einem Händler orientalischer Waren und zeigt ihm Salome, die Tochter des Händlers, ohne bisher überhaupt ein Wort mit der wunderschönen Jüdin gewechselt zu haben. Auch Blunt ist gefangen von ihren “melancholisch glänzenden Augen“, von der “durchscheinenden Blässe ihres Teints und der makellosen Feinheit ihrer Züge“. Als Turnour sich interessiert an einem Schmuckstück zeigt, fühlt sich Blunt “wie von einer jungen Kaiserin bedient.“
Nur wenige Tage später ist auch diese Liebesepisode für Turnour vorbei, denn offensichtlich ist er bei der “schönen Salome“ abgeblitzt.
Nach fast einem Jahr führen seine Wege Blunt wieder nach Venedig. Wie er sich eingestehen muss, nimmt Salome sehr viel mehr Raum in seinen Gedanken ein, als er uns zuvor preisgegeben hat. Als er feststellen muss, dass der Platz des orientalischen Händlers inzwischen verwaist ist, weiß er, dass er Salome finden muss.
“The Story of Salome“ ist die Geschichte einer Liebe, die in der Geschichte nicht stattfindet. Sie ist auch die Geschichte einer religiösen Suche. Um die gerade wiedergefundene Salome nicht sofort wieder zu verlieren, ist Blunt bereit, ein Sakrileg zu begehen. Sein gesamtes Leben lang wird die Traurigkeit sein Begleiter sein. Sein gesamtes Leben auf Erden.

Deutsche Übersetzung: “Salome“, übersetzt von Anne Rademacher, in: Anne Rademacher (Hrsg.), Gespenstische Frauen (München: dtv, 2004)

[Rezension] Elizabeth Hand – In der Nähe von Zennor

Originaltitel: Near Zennor (2011)

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Elizabeth Hand erinnert mich manchmal an diese sehr selten gewordenen Menschen, die noch die Fertigkeiten längst vergessener Berufe beherrschen. Mit Ihrer komplexen Novelle “Near Zennor“ [“In der Nähe von Zennor“] eifert sie den Meistern der Vergangenheit nicht nur nach, sondern stellt sich auch direkt neben sie. “Near Zennor“ lebt von Atmosphäre und Stimmungsaufbau, und Elizabeth Hand versteht es hier virtuos, sich insbesondere die Natur und die heidnische Vergangenheit Britanniens zu eigen und zum Hauptcharakter ihrer Geschichte zu machen. Algernon Blackwood praktizierte das Beschreiben einer berauschend schönen und doch feindseligen Natur in Formvollendung in seiner Novelle “The Willows“ [“Die Weiden“] (1907), aber, mehr noch zollt “Near Zennor“ Robert Aickman Tribut, dessen Erzählung “The Trains“ [“Die Züge“] (1951) mit ihrer rätselhaften Imagination einer trostlosen, vom Rest der Welt abgetrennten Natur, mir da als erstes in den Sinn kommt. Wie Aickman versteht Elizabeth Hand es, ein intensives metaphysisches Fluidum aufzubauen und mit einer realistischen Gegenwartskomponente zu verknüpfen, was in eine sehr reizvolle Synthese mündet.
Der Amerikaner Jeffrey Kearin, vermutlich Mittfünfziger und angesehener Architekt, trauert um seine Frau, der Engländerin Anthea, die völlig überraschend durch einen Gehirnschlag ums Leben kam. Bei der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes findet Jeffrey in einer Blechdose fünf alte Briefe, die seine Frau als 13-jährige an den britischen Fantasy-Schriftsteller Robert Bennington schrieb. Alle Briefe waren ungelesen zurück an Anthea gegangen. Wie Jeffrey herausfindet, beendete ein Pädophilie-Skandal später Benningtons Karriere. Jeffrey ist umso beunruhigter, da aus den Briefen hervorgeht, dass Anthea und zwei Freundinnen damals Bennington tatsächlich zu Hause besucht hatten.
Da Jeffrey noch mit einer der Freundinnen, Evelyn, in Kontakt steht, fliegt er – in seiner Trauer sowieso zu nichts anderem in der Lage – auf der Stelle nach England und besucht Evelyn, von der er Hintergründe zu dem Besuch der Mädchen bei Bennington erfährt. Hintergründe, die einhergehen mit einem mysteriösen, rational nicht artikulierbaren Ereignis, das den Mädchen damals widerfuhr.
Interessant für Leserinnen und Leser, die sich auch für das weitere Werk Elizabeth Hands interessieren, ist, dass “Near Zennor“ nach dem Roman Generation Loss [Dem Tod so nah] (2007) ein weiteres Schlüsselwerk im Œuvre Hands ist. Wie die Autorin in Interviews preisgab, hatte sie als Mädchen zusammen mit zwei Freundinnen das gleiche unerklärliche Erlebnis wie Anthea und ihre Freundinnen. Mit “Near Zennor“ schrieb sie sich davon frei, denn bis heute hat Hand für das Erlebte keine schlüssige Auslegung.
Jeffrey setzt sich in den Zug und fährt nach Cornwall, in die Nähe der Küstenstadt Zennor, wo alles seinen Ursprung zu haben scheint.
Jetzt ist Elizabeth Hand da, wo sie hin wollte. In einer realen Welt, die so fremdartig wird, dass sie sich zu einer imaginären Landschaft voller Schönheit und Schrecken wandelt. Einer Landschaft aus Weiden und Mooren, mit einer manchmal krankhaft verdörrten Fauna, aber auch den Überbleibseln vorzeitlicher Kulturen. Uralte Steinmauern segmentieren die Landschaft in geometrisch scheinende Abschnitte, und Findlinge und Menhire weisen Jeffrey den Weg, der versucht, dieses unwirkliche Stück Land zu bezwingen. Sein Ziel ist die Golovenna-Farm, in der Robert Bennington vor vier Jahrzehnten die drei Mädchen empfangen hatte. Lebt Bennington noch? Niemand scheint es zu wissen, und als Jeffrey sein Ziel erreicht, ist er so einsam wie nur möglich und doch nicht allein.
Nicht viel passiert in “Near Zenna“, aber es wird ein Urinstinkt geweckt, dass da etwas ist, etwas, das nicht in diese Welt gehört. Die Stille und Langsamkeit, die Hands alternatives, magisches Cornwall ausstrahlt, schenkt uns ein traumartiges Empfinden, so als versinke man ganz langsam unter Wasser, wehre sich aber nicht hysterisch dagegen, sondern lasse sich mit aller Bereitschaft weiter sinken, um die Schönheit des Gesichteten und die absolute Lautlosigkeit zu genießen. Als wisse man gleichzeitig aber auch, dass man schnellstmöglich wieder auftauchen muss, um zu überleben.

Deutsche Übersetzung: In der Nähe von Zennor, übersetzt von Bernhard Reicher, in: Dr. Nachtstrom (Hrsg.) / Bernhard Reicher (Chefredakteur) / Rudolf Stark (Redaktion), Visionarium 7: Schlüssel und Tore (Graz: Edition Gwydion, 2016)

[Rezension] Frank Hebben – Der Algorithmus des Meeres

Originalveröffentlichung, 2015

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Über einen Witz, den man erklären muss, kann normalerweise niemand lachen. Ehrlich gesagt hatte ich anfangs die Befürchtung, dass Frank Hebbens Novelle Der Algorithmus des Meeres das gleiche Problem haben könnte. Denn der auf Anhieb nicht ganz einfache Text wird ergänzt durch ein (brillantes) Nachwort von Karla Schmidt, das zahlreiche Interpretationsansätze anbietet und einem dabei beinahe einschüchternd das eigene Nichtverstehen vor die Nase zu halten scheint. Dann noch Seltsamkeiten wie ein Textzitat auf dem hinteren Buchdeckel, das im Buch gar nicht vorkommt … Aber, Entwarnung, würde ich sagen!
Ich glaube, Der Algorithmus des Meeres ist ein Buch, dass man gar nicht allgemeingültig verstehen kann. Zu vieles spielt sich plötzlich im Kopf des Lesers ab, und jeder hat da wohl seine eigenen Präferenzen.
In einem verlassenen Strandhotel lebt ein Grüppchen Menschen, unter ihnen der Jugendliche Maro. Sein Tagesablauf ist bestimmt durch die Auswirkungen des allumfassenden Meeres. Das allgegenwärtige Salz frisst alles an, und so kämpft Maro Tag für Tag gegen den Verfall, damit er und seine Freunde weiterhin über Luxus wie Strom verfügen können. Er wartet die Überreste der einstigen, jetzt verrottenden Technik – er scheint es nicht anders zu kennen, so vertraut geht es ihm von der Hand. Mit ihm wohnen dort einige Erwachsene, ein Kind und Kassandra, die er liebt.
Wo all die Menschen sind, die einst dieses nicht näher bestimmbare Meerbad überfluteten, weiß man nicht, aber die Älteste, die allwissende Lina, hat die Zeit vor der Stille offenbar noch erlebt, erwähnt sie dies doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Es ist das Paradies der Eskapisten: keine Autoritäten, Strandparties, Lagerfeuer, Ruhe, Stille. Die Türen der Hotelzimmer, in denen sie wohnen, sind unverschlossen.
Aber, dann fängt Maro an zu träumen. Träume von Destruktion. Und mit den Träumen kommt das Dunkel. Ein schwimmendes Fass verströmt Gift, Quallen verseuchen den Strand, und über Nacht wird ein havarierter Öltanker angeschwemmt, der nichts Gutes in seinem Bauch hat: “Sein Bug liegt frei, sein kolossaler Rumpf thront auf einer Sandbank […].“ Bilder von beeindruckender apokalyptischer Schönheit.
Was ich bemerkenswert, wenn nicht sogar sensationell an Der Algorithmus des Meeres finde, ist die Art und Weise, wie Frank Hebben Handlung und Stil ineinander verlaufen lässt lässt. Die alles beherrschende Ruhe und Geräuschlosigkeit entsteht nicht nur, weil die Geschichte eben keine lärmenden Elemente enthält, sondern weil Hebben geradezu leise schreibt. Seine Sprache ist poetisch aber auch sehr reduziert. Und das Fehlen jeglicher Anführungszeichen in den knappen, fast bruchstückhaften Dialogen drosselt die Lautstärke des Gesagten in ein fast unhörbares Wispern. Als würden sich Geister unterhalten.
Seit ich vor vielen Jahren das Wunderwerk Engine Summer [Maschinensommer] von John Crowley las, wünsche ich mir, noch einmal etwas so Unaufgeregtes, Leises zu lesen. Ich habe in der Zwischenzeit The Country of the Pointed Firs [Das Land der spitzen Tannen] von Sarah Orne Jewett gefunden und nun Der Algorithmus des Meeres. Kein Lärm, Bedächtigkeit, Zeit zum Nachdenken – wo findet man das schon?
Mir scheint, alles an diesem Buch entspringt einer Dualität aus wissenschaftlich Definierbarem und metaphorisch Ungreifbarem. Schon der Titel legt diese Überlegung nahe: Dem Algorithmus als wissenschaftlichem Lösungsschema steht die Metapher der Naturgewalt des Meeres entgegen. Auch die Sprache Frank Hebbens untermauert dies. Bei Beschreibungen stets realistisch detailliert, spricht sie aber auch etwas Tiefes in uns an, weckt Emotionen. Und gerade die Begabung, beides gleichzeitig anzuwenden, ist die Kunst, die Frank Hebben beherrscht wie kaum ein anderer und die die Novelle zu etwas Einzigartigem macht, sie praktisch konkurrenzlos in die Buchlandschaft platziert.
Als schließlich auch noch ein fremder Besucher voller Geheimnisse auftaucht, haben die Zeichen des Untergangs, welche unsere lieb gewonnene Kommune und ihren paradiesischen Mikrokosmos heimsuchen, Konsequenzen. Lina, die Weise, schickt Maro auf eine Reise. Eine Reise, die für Maro nicht nur eine Suche nach Wissen ist, sondern auch eine Reise aus Liebe.

Originalausgabe (Mülheim an der Ruhr: Begedia, 2015)

[Rezension] Elizabeth Hand – Dem Tod so nah

Originaltitel: Generation Loss (2007)

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Wenn sich literarisch versierte Autoren einmal in völlig fremde Genre-Gewässer wagen, führt das oft zu bemerkenswerten Ergebnissen. So auch im Fall von Elizabeth Hand, die nach ihren preisgekrönten dunklen Phantastik-Romanen und -Novellen wie beispielsweise Waking the Moon [Die Mondgöttin erwacht] sowie dem literarischen Künstlerroman Mortal Love nun mit Generation Loss [Dem Tod so nah] einen Abstecher in das Hoheitsgebiet des realistischen Thrillers macht.
Dabei ist Generation Loss eher ein charaktergetriebener Roman, und man hat anfangs das Gefühl, dass die Ich-Erzählerin Cassandra “Cass“ Neary da in eine Geschichte stolpert, die überhaupt nicht die ihre ist. Cass Neary – das ist eine der literarischen Schöpfungen, die man so schnell nicht wieder vergisst. Gescheiterte Skandalfotografin, offen bisexuell und Kleptomanin – das sind die offensichtlichsten Eckpunkte, um sie zu beschreiben, aber sie ist noch viel mehr. Anfangs noch die unerschrockene Harte, säuft, klaut und spioniert sie sich wie eine abgestürzte Pippi Langstrumpf durch das Geschehen. Obwohl sie wirklich nicht zu beneiden ist, muss man doch zutiefst bewundern, wie sehr sie es trotz ihrer psychischen Defizite schafft, tatsächlich nur das zu tun, was sie will. Eigentlich etwas, wovon wir alle träumen.
Nach vielen Jahren des Herumhängens in der New Yorker Underground-Szene bekommt sie von einem alten Bekannten den Auftrag, für ein großes Magazin ein Interview mit der seit Jahrzehnten verstummten Kult-Fotografin Aphrodite Kamestos zu führen. Kamestos, inzwischen eine alte Frau, einst berühmt für ihre effektreichen Fotomanipulationen, zu einer Zeit, als so etwas eigentlich noch gar nicht möglich war, habe ausdrücklich nach Cass für dieses Interview verlangt, erfährt Cass.
Für Cass geht damit ein Herzenswunsch in Erfüllung. In der Jetztzeit, mit Ende Vierzig, streunt sie immer noch heimat- und ziellos durch New York, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und unternimmt nicht viel um auch nur irgendetwas für sich selbst zu tun. Ende der 1970er Jahre, zu Zeiten der Punk-Revolution, hatte sie sich einen zweifelhaften Ruf als unmoralische Schock-Fotografin gemacht, doch ihre geistige Autonomie sorgte letztlich dafür, dass sie es vergeigte.
Also gondelt sie vollgedröhnt mit Jack Daniels und Crystal an die Küste Maines, nach Burnt Harbor, um schließlich auf der Insel Paswegas auf Aphrodite Kamestos zu treffen.
Zunächst passiert nicht viel. Elizabeth Hand nutzt die Seiten lieber für den dichten Stimmungsaufbau einer fast imaginär wirkenden, ständig sturmnaßkalten Inselwelt, die besiedelt ist mit mürrischen Typen und den Überlebenden einstiger Hippie-Kommunen. “Ich war hier nicht die einzige Irre“, resümiert Cass trocken.
Doch begleitet von lokalen Vermisstenanzeigen spürt man förmlich, dass die urwüchsige Idylle einen Makel hat. Cass begreift das von Anfang an: “Ich wusste, ich hatte ein Auge, die Gabe, zu erkennen, wo die rissigen Ränder der Welt abblätterten und etwas anderes hindurchschien.“
Und das, was da hindurch scheint, weckt unsere dunkelsten und furchterregendsten Ängste. Diese Ängste durch eine grandios visionäre Sprache zu erwecken, ist Elizabeth Hands großer Heimvorteil, den sie aus ihren früheren Werken mitnimmt. Was ihr wie kaum jemand anderem gelingt, ist, die Handlungsoberfläche mit einer dunklen, abseitigen Wahrheit zu unterlegen. Elizabeth Hand beherrscht das virtuos. Wir erkennen sofort, dass es ein Konzept des abgrundtief Bösen ist, was da manchmal durch die Schwachstellen unserer realen Welt hervor quillt. Gleichzeitig gelingt es Hand damit aber auch, Generation Loss eine schwarze, höllische Schönheit zu verleihen. Aber, um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Generation Loss ist ein realistischer Roman, kein phantastischer. Ein realistischer Roman allerdings, der auf raffinierte Weise mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Phantastischen spielt.
Einen faszinierenden Gegenpol dazu baut die Autorin mit ihrer ansonsten sehr klaren, realistische und detailgetreuen Erzählmethodik auf. Der Text liest sich dadurch stellenweise fast nicht mehr wie Fiktion sondern wie etwas Wahrhaftigeres. Alles ist en detail recherchiert und weiterimaginiert. Wie Elizabeth Hand uns beispielsweise die frühe Fotografie nahebringt, das ist fundiert bis zur letzten Kleinigkeit und gleichzeitig weiterphantasiert bis hin zu einem tiefen Verständnis von Schöpfung und Kunst.
Im letzten Drittel des Romans verdichtet sich Elizabeth Hands Schreibststil noch einmal erheblich. Die Zielgerichtetheit, mit der Cass und ihr Unterstützer Toby mit dem Segelboot Northern Sky von Paswegas zum großen Finale zur Insel der letzten Dinge fahren und die detailbesessene Sprache, die Elizabeth Hand nun einsetzt, erinnern an die besten Passagen aus The Left Hand of Darkness [Die linke Hand der Dunkelheit] von Ursula K. Le Guin und A Straight Cut [Ein sauberer Schnitt] von Madison Smartt Bell. Das ist eine Sprache, die keinerlei Luft mehr zwischen Text und Leser lässt.
Ich habe schon an anderer Stelle hier auf diesen Seiten auf die Bedeutung von sogenannten Schlüsselromanen im Ouvre eines Schriftstellers hingewiesen, Romanen die dem Gesamtwerk eines Autors rückblickend eine völlig neue Interpretationsebene anbietet. Elizabeth Hand hat in Interviews gesagt, dass Cassie eine Darstellung von ihr selbst sei, wie sie geworden wäre, hätte sie Anfang ihrer Zwanziger nicht doch noch die Kurve gekriegt. Mit Cass teilt die Autorin auch, dass sie als junge Frau verschleppt und vergewaltigt wurde. So sagte Hand verständlicherweise, dass sie jede Minute hasste, dieses schreckliche Buch zu schreiben. Was der Lesefreude keinen Abbruch tut.
Generation Loss ist somit auch das Zeugnis einer schriftstellerischen Teufelsaustreibung.

Deutsche Übersetzung: Dem Tod so nah, übersetzt von Angela Koonen (Köln: Bastei-Lübbe, 2015)

Arthur Machen | Die weißen Gestalten

Originalveröffentlichung:
The White People (1904, geschrieben 1899)

Arthur Machen - Die weißen Gestalten

Das Grauen wohnt im Verborgenen. In dieser richtungsweisenden Novelle lauert es hinter den naiv klingenden Sätzen im Tagebuch eines sechzehnjährigen Mädchens. Die Schönheit der Worte täuschen beinahe darüber hinweg, dass hier in Wirklichkeit Unfassbares geschieht.

Kennt jemand das Gefühl? Man ist seit Jahren auf der Suche nach etwas Rarem, und völlig unerwartet, auf irgendeinem Flohmarkt, sieht man es plötzlich und kann es gar nicht fassen. Ähnlich geht es mir immer beim Lesen von Romanen oder Erzählungen, die so einmalig sind, so pur, dass man noch nie vorher etwas Derartiges gelesen hat und sofort merkt, dass eine ganz besondere Leseerfahrung folgen wird.
Der Waliser Arthur Machen ist so ein Autor, dem das bei mir bereits zweimal gelungen ist. Einmal mit seiner grauenerregenden, aber noch zeitweise recht trivialen Horror-Novelle “The Great God Pan“ [“Der große Pan“] und zum zweiten Mal mit seinem dekadenten, eskapistischen Künstlerroman The Hill of Dreams [Der Berg der Träume]
Mit der Novelle “The White People“ [“Die weißen Gestalten“] gelingt es Arthur Machen zum dritten Mal, mich mit etwas völlig Neuem, nie zuvor auch nur annähernd ähnlichem Gelesenen zu konfrontieren. Dabei könnte man “The White People“ vorschnell auf eine Zusammenführung der beiden genannten Texte reduzieren. Denn aus “The Great God Pan“ zieht sich “The White People“ das abgrundtief Böse und aus The Hill of Dreams die Schönheit und Natur des alten Wales mitsamt seiner römischen Artefakte. Aber, es wäre viel zu einfach, “The White People“ als eine geschickte Promenadenmischung aus “The Great God Pan“ und The Hill of Dreams anzusehen.
S. T. Joshi, der große aber auch polarisierende Literaturwissenschaftler beklagt in seinen Schriften immer wieder, dass das übersinnliche Element in vielen Werken der Phantastik nur zusätzlich aufgesetzt wird, ohne dass diese Art Literatur maßgeblich davon gelenkt wird. “The White People“ (wie auch vielen anderen Erzählungen Arthur Machens) kann man diesen Vorwurf beileibe nicht machen. Diese Novelle wird durchströmt vom Anderweltlichen. Das Unbegreifliche, das Unirdische, tränkt die Geschichte förmlich, und doch hat man beim Lesen überhaupt nicht das Gefühl, hier etwas Unrealistisches zu lesen. Das hin zu bekommen bedarf eines außergewöhnlichen schriftstellerischen Talents, aber auch kreativen Mutes.
“The White People“ beginnt bewusst steif mit einem philosophischen Altherrendialog über die Natur des abgrundtiefen Bösen. Was der Gelehrte Ambrose seinem Besucher Cotgrave zu erklären versucht, bleibt zwar schwammig, aber das macht nichts, denn Machen hat nicht im Sinn, uns eine einfache, leicht zu verstehende Geschichte zu liefern.
Was Ambrose dann zur Untermauerung seiner Thesen hervorzaubert – ein Notizbuch mit dem Titel Das grüne Buch –, hat es in sich. Das grüne Buch ist das Tagebuch eines sechzehnjährigen Mädchens, dessen Name nicht genannt wird. Keine alltäglichen privaten Bekenntnisse eines heranwachsenden Mädchens werden vor uns ausgebreitet, sondern die Einführung in eine Phantasiewelt, die möglicherweise auch nur im Kopf des Mädchens stattfindet. Sie (so nenne ich sie jetzt mal in Ermangelung eines Namens und, um sie nicht “es“ nennen zu müssen) plappert in fröhlichem und unbeschwerten Ton über ihre Geheimwelt, die sie ausschließlich ihrem Tagebuch anvertraut. Schon mit drei Jahren spricht sie in “Xu-Sprache“ und erinnert sich später an “die kleinen weißen Gesichter […], die mich anschauten, wenn ich in meinem Bettchen lag.“ Wenn sie so in Schriftform redet, fragt man sich, was oder wer ihr den Zugang zu einer Welt verschafft hat, in der es wie selbstverständlich “Aklo-Buchstaben“, die“Chian-Sprache“, “Mao-Spiele“, “Dôls und Jeelo“ und das “Königreich Voor“ gibt. Sowie weiße, grüne und rote Zeremonien, aber: „Die roten Zeremonien sind die besten […]“.
Bereits in diesem frühen Alter ist es das Kindermädchen, “schön und weiß mit langen schwarzen Haaren und dunklen Augen“, die die Gedanken des Kindes in eine geheimnisvolle Traumwelt lenkt. Es ist eine Welt voller Wunder und Mysterien, die einem phantasiebegabten Mädchen sehr entgegen kommen muss. Das Kindermädchen, selbst von ihrer Urgroßmutter in diese Art der Folklore eingeführt, weiht sie in Tänze und Gesänge ein, die geheim sind und nicht weitergesagt werden dürfen. Das wird immer wieder betont.
Arthur Machen bietet uns durchaus eine psychologische Erklärung für all das an, indem er sparsam einige Hinweise streut. Denn das Mädchen hat mit zwölf ihre Mutter verloren. Ihr Vater, Rechtsanwalt, vernachlässigt sie. Mögliche Gründe genug für ein einsames Mädchen, sich mit voller eskapistischer Wucht in eine merkwürdige Traumwelt zu stürzen. Doch ist es das, was wir Leser glauben sollen? Wohl kaum.
Daher schauen wir einfach weiter, wohin uns die Tagebuchschreiberin führt. Eines Tages macht sie eine Wanderung in den Wald. Ein kleiner Bach führt sie durch Gestrüpp und einen Tunnel in eine wahrlich andere Welt. Eine unendlich scheinende kahle Ebene voller außergewöhnlich großer “hässliche[r] Steine“ und Erdhügel. Sie verweilt dort und versinkt in fremdartige Visionen. Als letzte Station ihrer fast schon epischen Reise findet sie “einen besonderen Wald, der zu geheim ist, um beschrieben werden zu dürfen.“ Ambivalente Gefühle beschleichen sie: “[…] ich rannte und rannte so schnell ich konnte, denn ich fürchtete mich, weil das, was ich gesehen hatte, so wunderbar und so seltsam und so schön gewesen war.“
Hier liegt wohl der Kern von “The White People“. Das Mädchen ist sechzehn. Ihr sexuelles Erwachen ist unübersehbar, wenn man genau hinschaut. Denn immer mal wieder wandelt sich der naive Erzählton des Tagebuchs in eine erotisierte Sprache: “Ich fieberte, und mein ganzer Leib zitterte, und mein Herz pochte.“ Abends wieder allein in ihrem Zimmer, versucht sie sich vorzustellen “all die Dinge [zu] tun, die ich getan hätte, wäre ich nicht so furchtsam gewesen.“ Später, als sie noch einmal darüber nachdenkt, zittert sie, und es wird ihr “heiß und kalt zur gleichen Zeit.“
Doch was hat sie gesehen? Haben die Hexensabbate der folkloristischen, in den Tagebuchtext eingewebten Märchen und Überlieferungen sowie die Andeutungen zügelloser Orgien etwas damit zu tun? Und welche Rolle spielt die Tagebuchschreiberin dabei? Ich mag nicht darüber nachdenken.
Aber bereits als Achtjährige wird das Mädchen von ihrem Kindermädchen mit deutlich sexuellen Andeutungen konfrontiert – hier in phallischer Symbolik dargestellt. Das Kindermädchen zeigt ihr, wie man aus Lehm ein Götzenbild macht. Mit rituellem Gesang knetet sie “die seltsamste Puppe, die ich je gesehen habe […].“ Das Gesicht des Kindermädchens wird immer röter bei dem Ritual. Einige Tage später gehen sie wieder zu der Stelle, “wo der kleine Lehmmann verborgen lag“, inzwischen “hart“. „Der Himmel leuchtete in einem tiefen, violetten Blau […]“
Was ist nun das Besonderes an dieser meisterhaften Novelle?
Am außergewöhnlichsten finde ich die völlige Gegensätzlichkeit, von dem, was (und wie es) erzählt wird und dem, was hinter den Sätzen lauert. “The White People“ ist zunächst einmal die farbenfrohe Flucht eines einsamen, vernachlässigten Mädchens in eine spannende Welt der Mysterien, geschrieben in einem naiven und kindreinen Ton. Was sie aber in Wirklichkeit erzählen will, aber nicht darf, befindet sich ebenfalls in dem Tagebuch, aber man muss es suchen und entkodieren.
“The White People“ ist geprägt von diesem positiv strahlenden Erzählton und spektakulären Beschreibungen britannischer Naturidylle, dunkler Wälder und Teiche aber auch unirdischer Traumlandschaften von grandioser kunstvoller Pracht.
Dieser Schönheit zum Trotz klingen immer wieder kleine Misstöne im Tagebuch auf, die Unbehagen auslösen. Diesen Effekt hat Arthur Machen in Perfektion ausgeschöpft.
Man will und kann kaum glauben, dass irgendwo unter den schillernden Sätzen grenzenlose Perversionen lauern. Die Frage, die alles überlagert, lautet: Was nur wurde diesem Mädchen angetan?

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Die weißen Gestalten“, übersetzt von Sigrid Langhaeuser, in: Frank Festa (Hrsg.), Das rote Zimmer – Lovecrafts dunkle Idole II (Leipzig: Festa, 2010)

Anmerkung: Eine weitere gut zu lesende Übersetzung, von Joachim Kalka, erschien ebenfalls unter dem Titel “Die weißen Gestalten“ in: Arthur Machen, Die weißen Gestalten (München: Piper, 1993). Im direkten Vergleich scheint mir die Übersetzung von Sigrid Langhaeuser werkgetreuer und weniger umständlich. Der Machen-Kenner Marco Frenschkowski bemängelte in seinem Essay “Arthur Machens The White People – eine magische und erotische Initiation“ (erschienen in Das schwarze Geheimnis Nr. 1/1994) die “problematische, da in den mythologischen Anspielungen sehr freie“ Übersetzung von Joachim Kalka.

Mehr zu Arthur Machen auf dandelion | abseitige Literatur:
Arthur Machen | Der Berg der Träume

[Rezension] Antje Wagner – Schattengesicht

Originalveröffentlichung, 2010

Schattengesicht

Als Jugendlicher las ich die Erdsee-Trilogie von Ursula K. Le Guin und hakte sie nach dem letzten Band als erledigt ab. 18 Jahre später schrieb Le Guin dann überraschend eine Fortsetzung, Tehanu, und etwas Seltsames geschah mit mir. Tehanu setzte eine Jugendbuchserie mit einem Roman für Erwachsene fort und ließ die ursprüngliche Trilogie plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Fortsetzung schaffte es, die Ursprungsromane größer und tiefer zu machen.
Warum ich das hier erwähne? Mit Antje Wagners Roman Schattengesicht geht es mir ähnlich, nur direkt schon innerhalb des Romans. Auslöser ist die Entscheidung der Autorin, das Buch chronologisch rückwärts zu erzählen. So etwas ist sicherlich experimentell, aber es ist auch nicht neu. Schattengesicht ist aber ein seltenes Beispiel dafür, dass so etwas auch funktionieren kann. Berühmtere Schriftsteller als Antje Wagner sind mit Derartigem gescheitert, wie uns beispielsweise Sarah Waters mit The Night Watch gezeigt hat.
Anders bei Schattengesicht. Es ist kein Buch, das sich anbiedert schnell gelesen zu werden, sondern eines, dass dich zum Zweikampf auffordert, eines, dass erst besiegt werden muss, wenn das überhaupt möglich ist. Die gesamte Handlungskonstruktion schnurrt wie ein Schweizer Uhrwerk, und wenn man sich erst einmal darauf eingelassen hat, dass die Hauptprotagonistin Milana Helmholz, genannt Mila, uns von ihrer aktuellen Situation ausgehend rückwärts bis in ihre Kindheit mit nimmt, ist man als Leser auf Kurs.
Und um auf meine Eingangssätze zurück zu kommen: jedes tiefer in die Vergangenheit vorstoßende Kapitel von Schattengesicht gibt im persönlichen Rückblick den jeweils schon gelesenen Kapiteln im Nachhinein neue Tiefen und Bedeutungen. Eine ungewöhnliche Leseerfahrung, die dazu reizt, das Buch nach Beendigung direkt noch einmal zu lesen.
Über Schattengesicht schwebt von Anfang an eine nicht greifbare Aura des Seltsamen und Unbegreiflichen. Mila stellt sich uns als neue Insassin eines Frauengefängnisses vor. Ihr Vergehen: Mord. Im nächsten Kapitel geht sie zurück zu den Ereignissen unmittelbar vor ihrer Inhaftierung. Sie lebt zusammen mit ihrer Freundin Polly in einer trostlosen, von Schimmel überwucherten und an ein Endzeit-Szenario erinnernde Häuserblockruine und hält sich und Polly mit einem Job als Zimmermädchen über Wasser. Hier wird sie von einer sadistischen Vorgesetzten schikaniert, eine Situation, die Mila letztlich endgültig der Bestrafung durch die Justiz anheim führt.
Mila blättert weiter zurück in ihrem Lebensbuch. Stets mit Polly auf der Flucht durch Deutschland und eine Spur des Todes hinterlassend, gelangen wir schließlich zur Ur-Quelle, aus der Schattengesicht entspringt, der Kindheit Milas. Dieses längste Kapitel fokussiert in meisterhafter Kunstfertigkeit all die vorangegangenen Erzählstationen in die ländliche Miniaturwelt des Elternhauses Milas zurück. Dieses Kapitel, fast die Hälfte des Romans, ist von einer makellosen Qualität. Nicht nur zentriert es die gesamte Handlung, sondern es lässt uns jetzt auch ganz nah an die beiden Protagonistinnen, insbesondere Mila, heran, die in den vorangegangenen Kapiteln noch Abstand verlangten und uns Leser mit einer gewissen Sprödigkeit noch nicht an sich herankommen lassen wollten.
Das ist jetzt anders. Plötzlich zoomt Antje Wagner ganz nah an Mila heran und stellt sie uns als liebenswertes neunjähriges Mädchen vor, die ein unkonventionelles, freies Leben führt und in ein anderes Mädchen verliebt ist. Von ihrem verstorbenen Vater, dem Illustrator eines Erzählbandes von Edgar Allan Poe, hat sie eine phantasievolle Ader fürs Phantastische und Makabre, und von ihrer Mutter die volle Unterstützung, ihre Freizeit lieber allein mit seltsamen Kinderritualen, wie dem Vergraben kleiner Schätze, an dem geheimnisumwitterten Dorfweiher zu verbringen und ihre Phantasien auszuleben anstatt der Gesellschaft ein angemessenes Leben mit Gleichaltrigen vorzuführen. Wie wir Mila hier erleben, das wärmt uns das Herz, lässt alle unsere Sympathien diesem eigenwilligen ungezähmten Mädchen zufliegen. Und genauso leiden wir mit ihr, als sich die Situation für sie auf einmal arg verschlechtert.
Schon zu Anfang von Schattengesicht stellt man sich die Frage, ob der Handlungsablauf realistisch zu erklären ist oder ob uns die ganze Zeit etwas Übernatürliches streift. Wie in den besten Werken der unheimlichen Phantastik mit zwischenmenschlichen Ebenen, beispielsweise denen von Oliver Onions oder Robert Aickman, jongliert Antje Wagner mit großer Virtuosität und Sicherheit mit dem Stoff und widersteht zu jeder Zeit der Versuchung, die über das gesamte Buch angehaltene Luft zum Ende hin doch noch ausströmen zu lassen. Nein, sie weiß ganz genau, wie sich das Unheimliche am wirkungsvollsten einsetzen lässt, und damit ist sie den meisten modernen Autoren, die sich an ähnlichen Thematiken versuchen, weit voraus. Antje Wagners entsprechende literarische Vorbildung (sie schätzt unter anderem Shirley Jackson) macht sich bei Schattengesicht mehr als bezahlt.
Und so dürfen wir ein Buch beschließen, vor dem man sich verneigen möchte, so perfekt und meisterlich ist es. Auf nicht einmal 200 Seiten erschafft Antje Wagner ein beeindruckend komplexes Handlungswerk, das uns in einer ungemein kraftvollen Prosa mit Mila eine der unsterblichen liebenswerten Figuren der Literatur schenkt.

Originalausgabe (Berlin: Querverlag, 2010)

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Théophile Gautier | Die liebende Untote

Originalveröffentlichung:
La Morte amoureuse (1836)

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Seine verbotene Liebe führt einen frischgeweihten Priester aus seiner tristen Enthaltsamkeit hinein in eine barocke Welt der Lust und Dekadenz. In dieser klassischen Vampir-Geschichte ist die Grenze zwischen Gut und Böse kaum auszumachen.

Die Erzählung “La Morte amoureuse“ [“Die liebende Untote“] von Théophile Gautier ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man die Realität mit den Mitteln der Phantastik überzeugender angreifen kann als es mit realistischer Nüchternheit möglich wäre. “La Morte amoureuse“ gehört zu den Prototypen ihrer Thematik, und, was die Geschichte zusätzlich so erfreulich macht, ist ihre auch für ein modernes Publikum ausgesprochen gut genießbare Lesbarkeit.
Das Kernthema der Geschichte kreist um die Frage: Wie gewichte ich die menschlichen Triebe gegenüber einem abstrakten, jegliche naturgegeben Grundlagen verneinenden Gesetzeskonstrukt?
Der 66-jährige katholische Priester Romuald weiß, wovon er spricht, wenn er einem nicht näher definierten, “Bruder“ genannten Zuhörer, das Geständnis macht: “Ja, ich habe geliebt, wie niemand zuvor […]“.
Man spürt sofort, Romuald ist alles andere als ein in sich selbst ruhender Geistlicher, der sein Amt mit Überzeugung ausübt. Seine wahre Geschichte, die er nun erzählt, bestätigt das eindrucksvoll.
Es ist nicht seine Lebensgeschichte, die er uns übermittelt, sondern die Erklärung seines Lebens. Drei besondere Jahre, die die folgenden Jahrzehnte seiner restlichen Zeit auf Erden mit eisernem Griff lenken.
Als junger Mann hat er bereits sein bisheriges bewusstes Leben Gott gewidmet. Schon immer will er Priester werden, und er hat es so weit geschafft, dass nun endlich der Tag der Priesterweihe bevorsteht. Die bevorstehende Zeremonie erwartet er mit einer beinahe ekstatischen Vorfreude. Das ist aber auch die einzige Ekstase, die er je kennengelernt hat. Über Frauen weiß er nichts, “ich hielt meine Gedanken davon fern […]“. Die einzige Frau, mit der er gelegentlichen Umgang hat, ist seine alte, gebrechliche Mutter.
Während des Zeremoniells der Ordination spricht jedoch nicht Gott zu ihm, sondern Clarimonde, eine auffällige junge Frau aus dem Publikum. Ihre Schönheit kann er kaum fassen. “Sie war hochgewachsen und hatte den Körper und die Haltung einer Göttin […]“. Weiterhin preist er ihr Haar, das von “einer weichen Blondheit“ ist, ihren “roten […] Mund“ und ihre “meergrünen Augen“. Wie wir schon an diesen Beispielen sehen, kehren mit Clarimonde die Farben ein in Romualds triste Welt der Enthaltsamkeit. Dieser Effekt wird mit jeder folgenden Erscheinung Clarimondes in der fortlaufenden Handlung noch verstärkt. Die Farben Gold (ihr Haar, “wie ein königliches Diadem“) und Silber sowie die Farbe heller Perlen (auch die Farbe ihrer Haut) induzieren eine orientalische Pracht und “höchsten Adel“.
Clarimonde flüstert Romuald ein, er solle auf die Priesterweihe verzichten und sich stattdessen für die Liebe entscheiden. Für die Liebe zu ihr. Romuald spürt, wie sich seine “bisher versperrten Sinne öffneten“.
Sein Weltbild wird innerhalb von Sekunden eingestürzt, doch er ist zu schwach, die Zeremonie in diesem letzten Stadium noch vorzeitig zu beenden. Und so wird er zum Priester geweiht.
Romualds Vorgesetzter, der Abbé Serapion, ahnt, was in seinem Schützling vorgeht und verfrachtet ihn kurzerhand für eine Priesterstelle in ein entferntes Dörfchen, freilich nicht ohne Romuald intensive Warnungen vor der Versuchung mit auf den Weg zu geben.
Ein Jahr lang führt Romuald dieses Leben. Die Gedanken stets bei Clarimonde. Und dann holt Clarimonde Romuald überraschend zu sich in ihren venezianischen Palast. Wie im Rausch eines wilden Traumes führt Romuald das dekadente Leben eines Lebemannes an der Seite von Clarimonde, die sich in Romuald verliebt hat und einem Papst und einem der Herrscher von Venedig Laufpässe gab, nur um mit Romuald glücklich zu sein.
Doch wer ist Clarimonde? Ist sie eine ständig wiedererwachende Tote, und warum reicht ein Quentchen von Romualds Blut, um sie wieder aufzuwecken?
Das Grundsätzliche an “La Morte amoureuse“ ist, dass Clarimonde alles andere ist als das Böse als das Serapion sie hinstellt. Natürlich, Clarimonde hält alle Fäden in der Hand, wirkliches Unheil bringt sie aber nicht. Stattdessen führt ihr ganzes Verhalten das Patriarchat ad absurdum. Mit einem Fingerschnipsen setzt sie die Grundpfeiler einer patriarchalischen Welt außer Kraft.
Das Ende der Geschichte ist für moderne Leser natürlich vorhersehbar, doch man sollte berücksichtigen, dass “La Morte amoureuse“ zu den frühesten Vampir-Geschichten zählt, und im Gegensatz zu zahlreichen späteren Werken dieser Thematik hat uns der Schluss dieser Geschichte wesentlich mehr zu sagen.
Am Ende ist es ein Mann, der die übersichtliche patriarchalische Ordnung wieder herstellt. Abbé Serapion handelt im Würgegriff hoffnungsloser Sex-Hysterie, wenn er Romuald zu Clarimondes Grab führt. Das Verspritzen des Weihwassers  auf die tiefschlafende Clarimonde durch Serapion wirkt wie ein abscheulicher, demütigender Abschluss des männlichen Aktes als Machtdemonstration einer völligen Unterjochung allen Weiblichen.
Der Erfolg dieser letzten Unternehmung zur Wiederherstellung der patriarchalen Ordnung darf dann aber bezweifelt werden. “Länger als drei Jahre war ich das Spielzeug einer einzigartigen und teuflischen Vorspiegelung“, sagt Romuald zu Anfang seiner Erzählung. Doch da macht er sich selbst etwas vor. “Spielzeug“ zu sein, bedeutet für Roumulus in erster Linie, die Kontrolle über seine viele Jahre selbstunterdrückte Sexualität verloren zu haben. Und insbesondere Serapion, der Hüter des Zölibats, ist Romualds personifiziertes schlechtes Gewissen.
Am Ende ist jedoch klar, dass Romuald der Priester und Romuald der Mann verschiedener nicht sein können. Für sein Leben lang wegen der Trennung von Clarimonde traumatisiert, stellt er gebrochen fest: “Die Liebe Gottes reichte nicht aus, die ihre zu ersetzen.“

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Die liebende Untote, übersetzt von Ulrich Klappstein (Hannover: jmb, 2010)

Vernon Lee | Oke von Okehurst

Originalveröffentlichung:
A Phantom Lover (1886)
[späterer Titel: Oke of Okehurst]

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Auf einem alten englischen Landsitz stellt sich für einen Auftragsportätmaler sein Modell als eine außergewöhnlich faszinierende aber auch abgründig gespenstische Frau heraus.

Nicht oft hat mich ein literarisches Werk gleichzeitig so fasziniert und so ratlos zurückgelassen wie dieses. Es provoziert Fragen über Fragen, die sich nicht zufriedenstellend beantworten lassen; mögliche Lösungsansätze, die nur noch mehr Fragen aufwerfen, anstatt Antworten zu geben. Und immer dieses schreckliche Gefühl, der Lösung so nah zu sein.
Vernon Lee, die renommierte Kunstkennerin, die eigentlich Violet Paget hieß, ist in ihren phantastischen Erzählungen stets ein Garant für exquisite Prosa, stilistisch immer elegant und geschliffen. Die Novelle “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“] – zuerst als eigenes Buch erschienen, später in Sammelbänden und Anthologien nachgedruckt – gehört zum Beeindruckendsten, was sie geschrieben hat. Mit der Sicherheit eines Messerwerfers wirft sie die Elemente des klassischen Schauerromans ins Ziel und dehnt das Genre dank Psychologie erstaunlich weit auf.
Liebhaber der gothic novel werden auf ihre Kosten kommen, denn alles ist da: ein alter englischer Landsitz, ein finsteres Schlüsselereignis in der Vergangenheit, das unheimliche Gemälde einer doppelgängerischen Ahnin, Andeutungen eines Geistes und eines Familienfluchs. Und doch ist es bei Vernon Lee viel, viel mehr oder viel, viel weniger als das.
“A Phantom Lover“ lässt sich auf sehr verschiedene Arten lesen, denn Lee bietet gleich mehrere Interpretationsansätze an. Mir jedoch scheint die Nabe, um die die Geschichte kreist, in erster Linie die seltsame Beziehung des männlichen namenlosen Ich-Erzählers zu seinem Modell zu sein.
Unzuverlässige Erzähler gibt es zuhauf in der Literatur, aber unser Erzähler ist so geschickt, dass man ihm kaum etwas bezüglich seiner Unseriosität anlasten kann. Ich habe nur zwei Stellen gefunden, in denen er nicht ganz sauber berichtet. So wird Oke von Okehurst bei seinem Besuch beim Erzähler von “seinem Freund“ (Italics, auch in den nächsten beiden Zitaten, von mir) begleitet. Im gesamten späteren Text hat er aber keinen solchen Freund. Wenige Sätze später spricht der Erzähler bezüglich des Begleiters von “meinem Freund“. Dies und die vage Beschreibung lassen vermuten, dass Mr. Oke bei diesem ersten Zusammentreffen von seiner Frau in Männerkleidung begleitet wird. Auch in der zweiten etwas zweifelhaften Szene verschweigt uns der Erzähler etwas bezüglich seines Verhältnisses zu Mr. Oke: “[…] er stellte mir keine Fragen mehr bis auf eine.“ Dann lenkt er ab. Wie die Frage lautete, sagt er uns nicht. Lautete sie vielleicht: “Kann es sein, dass Sie meine Frau lieben?“ Spekulation, ich weiß.
Der schüchterne Mr. Oke erteilt dem Erzähler den Auftrag, den Sommer 1880 über, ihn und seine Frau zu porträtieren. Da sich der Erzähler gerade in einer Phase des Misserfolgs befindet (er hatte eine einflussreiche korpulente Dame “alt und vulgär“ gemalt, “was sie ja auch war.“), sagt er sofort zu.
Er reist nach Kent zu den Landedelleuten und ist vom ersten Moment an gebannt von Mr. Okes Frau Alice. Den gesamten folgenden Text reichert er mit Beschreibungen Alices an, die von einer grundsätzlichen, leidenschaftlichen Huldigungen der weiblichen Schönheit zeugen. Die Addition dieser Beschreibungen macht Alice zu einem Idealbild, ähnlich Edgar Allan Poes “Ligeia“ [“Ligeia“]. So feiert der Erzähler Alice etwa als “die anmutigste und vollkommenste Frau“, die er je gesehen habe. “Sie war sehr groß“ und “gertenschlank“ und “[w]ahrscheinlich das wunderbarste Wesen, das ich je getroffen habe“. Immer wieder hebt er “ihr schönes, blasses, durchscheinendes Gesicht“ und “die erlesene Geschmeidigkeit ihrer großgewachsenen Gestalt“ hervor.
Als der Erzähler darangeht, Mr. und Mrs. Oke zu malen, wird schnell deutlich, wem von beiden seine Prioritäten gelten. Während er Mr. Oke ohne vorherige Skizzen malt, fertigt er von Mrs. Oke wochenlang Entwurf um Entwurf an und rechtfertigt das damit, dass er noch nicht die richtige Position seiner Muse gefunden habe: “Sie hob ihre wunderschön großen, blassen Augen, wobei sie die erlesene Neigung von Schultern und Nacken und ihres delikaten bleichen Kopfes zeigte, die ich vergeblich einzufangen suchte.“ Auch eine Methode, möglichst viel Zeit mit Mrs. Oke zu verbringen.
Da er wohl selbst merkt, dass sein Verhalten ihn irgendwann verdächtig machen könnte, setzt er auf die Devise “Angriff ist die beste Verteidigung“: “Ich interessierte mich für Mrs. Oke, als wäre ich in sie verliebt, und doch war ich nicht im Geringsten in sie verliebt.“
Bedenkt man, dass er eigentlich nur ein neutraler Erzähler ist, der offiziell an den Ereignissen auf Okehurst selbst nicht aktiv Anteil hat, findet hier doch erstaunlich viel persönliche Interaktion mit den Personen statt, über die er eigentlich nur wertfrei erzählen soll.
Nach und nach ist es jedoch nicht nur die Schönheit Mrs. Okes, die den Erzähler so anzieht: “Diese Frau versetzte mich entschieden in Schrecken.“ Er findet etwas “beinahe Abstoßendes an dieser wunderschönen Frau. Plötzlich wirkte sie pervers und gefährlich auf mich.“
Was an Mrs. Oke ist pervers? In der Novelle kann ich nach heutiger Sicht nichts finden, was diese Wortwahl rechtfertigen würde. Gewinnbringend könnte es daher an dieser Stelle sein, das private Leben der Autorin heranzuzuziehen. Ja, ein literarisches Werk sollte für sich selbst stehen, auch ohne nähere Informationen zur Autorin oder zum Autor zur Verfügung zu haben. Im Fall von Vernon Lee ist es aber nicht unvorteilhaft zu wissen, dass sie ziemlich sicher lesbisch war. In vielen ihrer Erzählungen wählt sie einen männlichen Erzähler als Medium, um eine abgründige, meist unheilbringende Frau darzustellen. Natürlich kann man auch hier nur spekulieren, aber diese Erzählperspektive bot Vernon Lee grundsätzlich die Möglichkeit, leidenschaftlich über andere Frauen zu schreiben, ohne im prüden neunzehnten Jahrhundert von ihrer Leserschaft als frauenliebende Frau wahrgenommen und geächtet zu werden. Die Beschreibungen Mrs. Okes sind, wie wir gesehen haben, geprägt von der erregenden Faszination, die diese außergewöhnliche Frau auf den Erzähler ausübt. Im viktorianischen England galten lesbische Frauen als pervers. Es mag ja irregeleitet sein, hier die Erklärung zu suchen, aber Vernon Lee bietet uns zusätzlich mit dem Cross-Dressing der beiden Alice Okes einen weiteren Wink für einen solcherart möglichen Hintergrund.
Aber wie auch immer: In der vorliegenden Novelle ist alles möglich, bei weitem nicht nur meine Lesart. Vielleicht dreht sich ja wirklich alles nur um den vergeblichen Eifersuchtskampf gegen einen Phantomliebhaber. Oder, vielleicht hat die Lesart für alle die, die es sich einfach machen wollen, Vorrang: Die Okes sind schlicht und einfach wahnsinnig.

Deutsche Übersetzung: “Oke von Okehurst“, übersetzt von Josef Ehold, in: Franz Rottensteiner (Hrsg.), Viktorianische Gespenstergeschichten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987)

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Algernon Blackwood | Der Zentaur

Originalveröffentlichung:
The Centaur (1911)

Algernon Blackwood - Der Zentaur

In seinem mystischen Schlüsselroman schreibt sich Algernon Blackwood, der große Erzähler unheimlicher Geschichten, in einem zeitweise delirierenden Schreibstil voller rauschhafter Naturbeschreibungen die eigenen inneren Untiefen von der Seele.

Autoren, die in ihren Werken aus den Tiefen ihres Selbst schöpfen und somit die Literatur als Medium ihrer eigenen Befindlichkeiten nutzen, lassen sich oft auf ein Schlüsselthema fokussieren, über das sie letztlich immer wieder schreiben. Es ist spannend für Leute wie mich, ein solches Sujet im Werkkontext eines Autors herauszuarbeiten, aber ein wahrer Glücksfall ist es, wenn ein Schriftsteller uns ein Schlüsselwerk an die Hand gibt, das sein gesamtes Restwerk in einem neuen Licht erscheinen lässt, es quasi auf ein völlig anderes Fundament stellt. Hat man ein solches Werk gelesen, raunt es einem zu, dass man nun ausreichend gerüstet sei, mit diesem neu gewonnenen Wissen noch einmal ganz am Anfang der Bibliographie desjenigen einzusteigen.
Was beispielsweise für das Verständnis Arthur Machens dessen Roman The Hill of Dreams [Der Berg der Träume] ist, ist The Centaur [Der Zentaur] für das Gesamtwerk Algernon Blackwoods. Blackwood hatte unter anderem mit seiner Novelle “The Willows“ [“Die Weiden“] (1907) der englischen Schauerliteratur einen unsterblichen Beitrag spendiert, aber welcher spirituelle Treibstoff den Autor zeit seines Lebens offenbar antrieb, das eröffnet uns erst der Roman The Centaur.
Ginge es hier nur um Plot, würde der Umfang einer Kurzgeschichte ausreichen, um das Geschehen abzubilden. Aber wie schon dargelegt ist The Centaur für Algernon Blackwood wesentlich mehr als einfach nur eine Geschichte. Es ist Manifest, Grundsatzprogramm und persönliche Bibel in einem.
Derjenige, der uns die Geschichte erzählt, ist ein unbeteiligter Ich-Erzähler, der am Ende gar nicht mehr so unbeteiligt wirkt. Er erzählt uns von seinem Freund Terence O’Malley, einem Iren, der alles ist, nur kein moderner Mensch, der mit dem Strom schwimmt. O’Malley hat eine Vision, die ihn lenkt. Zusätzlich angestachelt von den Werken des deutschen Psychologen, Physikers und Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner sucht O’Malley sein Leben lang nach dem Grund dafür, warum er sich anderen Menschen nicht zugehörig fühlt und kommt – wie Fechner – immer mehr zu der Überzeugung, dass die Erde beseelt ist und wir Menschen einst eigentlich fester Bestandteil davon waren, jedoch zunehmend diese spirituelle Zugehörigkeit vergessen haben und durch den voranschreitenden Fortschritt zu Skeptikern allem Unerklärlichen gegenüber geworden sind.
Zum Zeitpunkt, da der Erzähler beginnt, ist O’Malley bereits ein Aussteiger, der der modernen Welt adieu gesagt hat und die Aura der Ur-Welt mit all seinen Sinnen spürt und von höchst willkommenen Einflüsterungen, Düften und Erscheinungen begleitet wird. Er begibt sich per Schiff auf seine persönliche Reise zu den Quellen der Ur-Erde, eine Reise, die auch zur inneren Odyssee wird. Auf dem Schiff lernt er einen mysteriösen nicht sprechenden Russen kennen, in dem er sofort einen weiteren Suchenden erkennt und zu dem er sich kompromisslos hingezogen fühlt. Der ebenfalls an Bord weilende deutsche Arzt Stahl scheint mehr über den geheimnisvollen Russen zu wissen und kennt sich auch mit O’Malleys Philosophie der beseelten Erde aus. Fortan treffen die drei immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammen.
Erst im Kaukasus findet O’Malley das, was er sein Leben lang gesucht hat. In der dortigen Abgeschiedenheit ist die Erde noch unberührt von Skepsis und Fortschritt. In einem visionären Bilderrausch taucht O’Malley ein in die Aura der Vorzeit, fühlt sich von Göttern gestreift und von Fabelwesen begleitet: “Vor sich sah er die uralten Gestalten der Mythen und Legenden, immer noch lebendig in irgendeinem wunderbaren Garten der vorzeitlichen Welt, einem so entlegenen Winkel, dass die Menschheit ihn noch nicht mit den hässlichen Spuren ihres Lebens besudelt hatte.“
The Centaur ist alles andere als ein Spannungsroman. Das ist eine Zelebration. Algernon Blackwood feiert die Sprache mit jedem Satz. Die Anmut und Pracht von O’Malleys Visionen gehören zum Schönsten, was man in einem Buch finden kann. Natürlich könnte man Blackwood vorwerfen, sich immer und immer wieder mit seinen Thesen zur Allbeseelung des Universums zu wiederholen, aber nur so erreicht er die nachhaltige Wirkung, die The Centaur letztlich innehat.
Da stellt sich wie so oft die Frage, ob sich das alles nur im Kopf des Protagonisten abspielt oder als reales Erleben anzusehen ist. Das grandiose Ende des Romans, welches auch eine grandiose Kurzgeschichte fulminant hätte abschließen könnte, legt uns nahe, dass die Ereignisse nicht nur auf O’Malley begrenzt sind.
Eine völlig andere Interpretationsposition führt auf sehr direktem Wege zur Sexualität der Charaktere, die durchgängig schwul zu sein scheinen. Nicht eine einzige Frau hat Einzug in The Centaur gehalten, nicht einmal in einer Nebenrolle. Und über der gesamten Konstellation O’Malley/Stahl/Russe schwebt eine homoerotische Atmosphäre. Wenn beispielsweise der Russe O’Malley anlächelt, “mischten sich bei O’Malley Beunruhigung und ein Gefühl des Wunderbaren, wie er es noch nie erlebt hatte.“ Als O’Malley spontan die Hand des Russen umschlingt, “zuckte er leicht erschrocken zusammen, da sich die Berührung so wunderbar, so kraftvoll anfühlte – fast so, als hätte ihn eine Windböe oder eine Meereswoge erfasst.“
Während O’Malley im Bann des Russen ist, scheint Dr. Stahl O’Malley zugeneigt zu sein: “Im Dunkeln tastete er [Stahl] nach der Hand seines Gefährten und drückte sie einen Augenblick.“
Wie ich schon weiter oben sagte, vergisst der Ich-Erzähler zeitweise seinen neutralen Standpunkt, denn auch er outet sich, wenn er O’Malleys “feingliedrigen Hände“ und “die zarten, sensiblen Lippen“ feiert.
Dies alles sind nur einige Beispiele, die eine weitere Ebene von The Centaur entblößen und direkt zu den sexuellen Repressalien der menschlichen Gemeinschaft führt, die offenbar ebenfalls ein gewichtiger Grund sind, warum O’Malley diesem Leben entfliehen möchte.
Was auch immer jeder aus The Centaur mit nimmt, mich hat Algernon Blackwood in eine Welt der Wunder geführt.

Deutsche Übersetzung: Der Zentaur, übersetzt von Usch Kiausch (Leipzig: Festa, 2014)

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Bram Stoker | Dracula

Originalveröffentlichung:
Dracula (1897)

Bram Stoker - Dracula

Dieser berühmteste aller Horror-Romane ist ein Dokument der sexuellen Verklemmtheit der Menschen des viktorianischen Zeitalters. Das übernatürliche Grauen, obgleich zuweilen ausgesprochen überzeugend dargestellt, ist nichts weiter als eine Schutzschicht, die den Blick auf die wahren sexuellen Gelüste und Traumata der gehemmten Viktorianer verschleiert.

Ich behaupte einmal, dass es für den modernen Leser unmöglich ist, Dracula von Bram Stoker zu begegnen, ohne ein Grundwissen dessen mitzubringen, worum es in dem Roman geht. Die Figur des Grafen Dracula gehört zur Weltkultur, und sie ist nicht nur ein literarischer Charakter, sondern ein Archetyp. Man beginnt hier also ein Buch zu lesen, über das man wohl oder übel mehr weiß, als einem lieb sein kann.
Doch dafür kann das Buch nichts!
Als es 1897 erstmals erschien, war es etwas Neues. Ein gewaltiges Update von J. Sheridan Le Fanus großartiger Vampir-Novelle „Carmilla“ [“Carmilla“] zwar, aber nichtsdestotrotz für den Großteil der damaligen Leserschaft etwas, das bis dahin in dieser Form niemand zuvor gelesen hatte.
Pirscht man sich als moderner Leser aus dieser Warte an das Buch heran, zieht man den größten Gewinn daraus – und erkennt, dass das verstreute Wissen über Dracula, dass man leider unweigerlich mit sich herum schleppt, einschließlich des Aussehens von Christopher Lee, lediglich Second-Hand-Wissen ist. Daher empfiehlt es sich, sich vor Lektüre des gedruckten originalen Dracula erst einmal dahingehend einzutackten. Dann ist man bereit für Dracula.
Als erzählerisches Mittel von Dracula wählte Bram Stoker eine bunte Ansammlung von Tagebucheinträgen, Briefen, Zeitungsartikeln und Dokumenten. Den Anfang macht das Reisetagebuch des Engländers Jonathan Harker, der als frisch gebackener Rechtsanwalt von seiner Kanzlei nach Transsilvanien geschickt wird, um für den Grafen Dracula den Kauf eines Hauses in London abzuwickeln.
Dieser Auftakt ist spektakulär. Die Reise Harkers, die ihn über Wien und Budapest bis tief in die Karpaten führt, ist grandios beschrieben. Der Wandel der Landschaften und der Menschen, die mit zunehmend östlicher Richtung fremdartiger und unheimlicher werden, setzt einen virtuosen Stimmungsrahmen für das, was folgen wird. In bester Schauergeschichten-Manier erreicht Harker – natürlich nachts und unter Wolfsgeheul – die düstere Burg des Grafen. Der stellt sich von Anfang an als geistreich, gebildet und zuvorkommend dar, kann aber auch etwas Zwielichtiges nicht verbergen. Die Merkwürdigkeiten mehren sich. Dracula ist nur nachts anzutreffen, isst niemals etwas und hat kein Spiegelbild. Schon bald wird Harker klar: er ist Gefangener in der Burg des Grafen.
Als Harker eines Nachts Draculas Warnung missachtet und sein Zimmer verlässt, wird er von drei jungen Damen überrascht, die nicht lange fackeln und mit “unverhohlener Wollust“ über ihn herfallen.
Die Szene öffnet eine Tür in die tieferen Gewölbe des Romans. Beschreitet man als Leser den Weg durch diese Tür, verlässt man den handlungsreichen Unterhaltungsroman, den Dracula zu sein vorgibt und gelangt in die Untiefen sexueller Phantasien, die im viktorianischen England freilich moralisches Sperrgebiet waren, denn eine autarke weibliche Sexualität war unerwünscht, und Frauen hatten bis zur Hochzeit Jungfrau und danach möglichst asexuell zu sein. Das Gebären von Kindern galt als einziger sinnvoller Zweck des Geschlechtsverkehrs.
Ausgerechnet der Roman, der ein ganzes Unterhaltungsgenre begründete, reißt die viktorianischen Wunden an jeder nur möglichen Stelle auf. Von männlichen und weiblichen Sexphantasien über sexuelle Dominanz, Homosexualität und Sex mit mehreren Partnern, bis hin zu Vergewaltigung ist alles da, über das Viktorianer beileibe nicht reden wollte.
Die Lust der drei Damen nach Blut ist der Lust nach Sex gleichzusetzen. Harker, den zu Hause die liebliche Vorzeigefrau Mina erwartet, setzt der aggressiven Sexualität der drei Schwestern nicht das Geringste entgegen. Wenn er in sein Tagebuch schreibt: “Irgendetwas an ihnen erregte mein Unbehagen, es war einerseits Verlangen, andererseits Todesangst“, dann scheint er in dem Moment lieber mit dem Tod für den orgiastischen Sex, der ihm bevorsteht, bezahlen zu wollen, als zurück in sein unaufgeregtes viktorianisches Leben zurückzukehren. Dass er später, jetzt wieder bei klarem Verstand, immer noch so zu denken scheint, belegt die Tatsache, dass er den Vorfall in sein Tagebuch niederschreibt, wohl wissend, dass Mina es irgendwann lesen könnte (was auch tatsächlich geschieht). Es ist ihm bewusst, dass dies Mina “Schmerz bereiten“ wird, aber das ist ihm in dem Moment völlig egal, denn “es ist die Wahrheit“. Harkers sexuelle Erregung wischt jegliche Vernunft derart heftig beiseite, dass er den Moment unbedingt für immer in seinem Tagebuch  festhalten möchte. Das zeigt, wie sehr Harker die anerzogene viktorianische Steifheit abwerfen und die Verklemmtheit seiner Verlobten gegen die nymphomanische Aggression der drei Damen austauschen würde. Wie weit die viktorianische Unterdrückung sexueller Lust geht, wird deutlich, wenn man als Leserin und Leser in dieser Schlüsselszene gedanklich die Lust nach Blut gegen die Lust nach Sex austauscht.
Die Handlung verlagert sich anschließend nach England und führt uns direkt zu Minas Freundin Lucy Westenra, dem für mich interessantesten Charakter in Dracula. Die Briefe, die sie sich mit Mina schreibt, wirken wie ein geschwätziger mädchenhafter Gedankenaustausch, aber bei näherem Hinsehen sind sie alles andere als unschuldig. Lucy, die sehnsüchtig auf einen Heiratsantrag wartet, erhält plötzlich gleich drei Anträge an einem Tag. Da sie offenbar in keinen der drei Männer wirklich verliebt ist, kann sie sich nicht sofort entscheiden. An Mina schreibt sie: “Warum darf ein Mädchen nicht drei Männer heiraten […?]“, was dem Wunsch entspricht, mit drei verschiedenen Männern Sex zu haben. Ironischerweise wird ihr der Wunsch im übertragenen Sinne erfüllt, als sie ein Opfer des Grafen Dracula wird. Nachdem er ihr Nacht für Nacht das Blut aussaugt, bleibt sie nur durch die Bluttransfusionen eben der drei Männer (plus Van Helsing) am Leben, die um ihre Hand angehalten haben. Obwohl das Übertragen von Blut ein rein medizinischer Vorgang sein sollte, ist er in Dracula ein Akt der Intimität, der den Spendenden eine Nähe zu Lucy gibt, die exakt der des Geschlechtsakts entspricht. Über Arthur, dem Mann, den Lucy inzwischen geheiratet hat, wird später zum Besten gegeben, dass er seit der Bluttransfusion das Gefühl habe, “Lucy und er seien wirklich verheiratet und damit vor Gott Mann und Frau.“ Aus Angst vor der Eifersucht Arthurs beschließen die drei anderen Männer, ihre Blutspenden geheim zu halten, was ebenfalls auf eine starke sexuelle Kodierung hindeutet, denn warum sonst würde bei einer lebensrettenden Bluttransfusion eine Veranlassung zur Geheimhaltung bestehen?
Dies sind aber alles Dinge, die sich unter der trügerischen Oberfläche des Buches ereignen. Die eigentliche Handlung geht unterdessen zielstrebig weiter, denn Dracula nutzt die Vorbereitungen, die Harker für ihn getroffen hat, dazu, in England eine neue Basis zu errichten, die einer möglichen Invasion dienen könnte.
Wirklich furchteinflößend ist das Logbuch des Schiffes, das Dracula unerkannt nach England transportiert. Das Einlaufen des Schiffes in den britischen Hafen ringt Bram Stoker die stimmungsvollsten und düstersten Momente ab, die das Buch zu bieten hat. Die spürbare Beunruhigung der Menschen und die einhergehende atmosphärische Verfinsterung, die die Landung dieses Totenschiffes begleiten, erschaffen eine Vision der Apokalypse. Großes Unbehagen macht sich breit.
Um die Heimsuchung Lucys herum baut sich die Opposition zu Dracula auf, eine tapfere Männergruppe unter der fachlichen Leitung des holländischen Professors Van Helsing. Neben ihm besteht die Gruppe noch aus Lucys frischem Ehemann Arthur und den beiden anderen Verehrern Lucys sowie Jonathan Harker. Die Charakterisierungen der Männer sind dabei so oberflächlich und klischeehaft, dass man sie teilweise ohne Namensnennung nicht auseinanderhalten könnte. Alles Weitere an der Oberfläche ist lediglich purer Plot über den Kampf zwischen Mensch und Vampir.
Aber darunter …
Dracula kann in viele Richtungen interpretiert werden: Fremdenhass, Angst vor einer ausländischen Invasion, technischer Fortschritt gegen das Archaische etc. Aber mehr noch als all diese Deutungsvariationen scheint mir allein der Blick auf die Sexualität zum Fundament des Romans zu führen.
Etwas, worüber man in der Entstehungszeit von Dracula besser nicht redete, war Homosexualität. Dracula bietet viele Hinweise auf eine vorherrschende männliche Homosexualität. Beispiele dafür sind die Rasierszene zwischen dem Grafen und Harker sowie auch der Überfall der drei Vampirdamen auf Harker, den Dracula mit den Worten beendet: “Dieser Mann gehört mir!“ Aber nicht nur Dracula, auch die anderen männlichen Charaktere wirken eher schwul als heterosexuell. Je näher sie sich im Laufe der Handlung zu einer Art schwuler Bruderschaft zusammenschließen, umso salbungsvoller und leidenschaftlicher werden die gegenseitigen Bewunderungen geäußert. Die Biographen sind sich darüber hinaus ziemlich einig, dass Bram Stoker wahrscheinlich selbst schwul war.
Stoker gibt sich aber nicht nur mit einem Tabubruch zufrieden, der offen geschildert bereits bei Erscheinen für einen Skandal gesorgt hätte. Er lotet daneben sehr deutlich auch die Macht des Mannes über die weibliche Sexualität aus und zeigt die Hysterie der Männer, sobald sie feststellen, dass sie nicht mehr im Besitz dieser Macht sind. Die sexuelle Machtausübung gegenüber Frauen ist in Dracula sehr ausgeprägt. Wirklich abscheulich wird diese zentriert in Draculas Erniedrigung Minas, indem er sie zwingt, sein Blut zu trinken. In Wirklichkeit ist das eine Vergewaltigung, in der Dracula Mina zum Oralverkehr zwingt. In ihrer Qual sagt sie: “[Dracula] presste meinen Mund auf die Wunde, sodass ich entweder ersticken oder etwas davon schlucken musste […].“
Eine ebenso denkwürdige Szene ist die Pfählung Lucys durch ihren Ehemann Arthur. Dieser ist von Lucys plötzlichem aggressiven Sextrieb völlig eingeschüchtert und verängstigt: “Ihr Blick funkelte ruchlos, und über ihre Gesichtszüge glitt ein wollüstiges Lächeln.“ Angst jagt ihm insbesondere die drastische Veränderung von Lucys Libido ein, denn “[…] die ganze fleischeslüsterne und seelenlose Erscheinung wirkte wie eine teuflische Verhöhnung von Lucys lieblicher Reinheit.“ Wieder die Kontrolle über Lucy gewinnt Arthur, als er ihr den Holzpflock, das Phallussymbol schlechthin, “immer tiefer“ ins Herz rammt: “Der Körper zitterte und schüttelte und wand sich in wilden Verrenkungen.“ Als er sein Werk vollendet hat, kommt Arthurs Atem “in keuchenden Stößen“.
Mina ist letztlich der stille Kristallisationspunkt für jegliche Diskussionen über die Rolle der Frau im viktorianischen England. Sie wirkt asexuell, ganz so wie die Männer die Frauen gern haben wollten. Mina ist auch diejenige, an der sich die zu dieser Zeit alltäglichen patriarchalischen Repressalien am deutlichsten messen lassen, denn sie selbst erkennt schon früh im Buch ihre Rolle in der männlich dominierten Gesellschaft: “[…] und wenn mir nach Weinen zumute ist, so soll er es nicht sehen. Das ist wohl eine der Lektionen, die wir armen Frauen lernen müssen…“

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Dracula, übersetzt von Andreas Nohl (Göttingen: Steidl, 2012)

Anmerkung: Es existieren alte Übersetzungen von Dracula, die man lieber meiden sollte, will man nicht auf all die zum Teil subtil verborgenen sexuellen Anspielungen verzichten. Die hier gewählte moderne Neuübersetzung von Andreas Nohl ist nicht unproblematisch, da Nohl (und dafür ist er inzwischen in der Branche bekannt) dazu neigt, den Originaltext zu glätten, sperrige Sätze zu begradigen und damit die Leseerfahrung zu vereinfachen.
Beinahe zeitgleich mit der Nohl-Übersetzung erschien die Neuübersetzung von Ulrich Bossier (Stuttgart: Reclam, 2012), von der ich dringend abraten möchte. Bossier erlaubt sich darin schlichtweg inakzeptable, das Original völlig verfälschende Freiheiten. So ist beispielsweise das letzte – sehr wichtige –  Zitat meiner Besprechung in der Bossier-Übersetzung deratig schlampig und falsch übersetzt, dass es in dieser Version restlos unbrauchbar ist und von mir überhaupt nicht als bedeutsam erkannt worden wäre.
So hat man als Leser leider lediglich die Wahl, aus zwei Übeln das Geringere zu wählen.