Vernon Lee | Amour dure

Originalveröffentlichung: Amour dure (1887)

Vernon Lee - Amour Dure

Ein junger Historiker entwickelt eine obsessive Liebe für eine seit Jahrhunderten tote femme fatale. Und er weiß sehr wohl, was er da tut, wenn er die zarte Spur ihres einstigen Lebens aufnimmt. In beeindruckend stimmunsvollen Bildern beschwört Vernon Lee in dieser Erzählung eine längst vergessene Epoche herauf.

Spiridon Trepkas Ausspruch “Ich habe mich der Geschichte verlobt, der Vergangenheit“ könnte wahrscheinlich stellvertretend für alle Texte Vernon Lees stehen, denn Zeit ihres Lebens war sie von der Vergangenheit fasziniert und erlaubte ihren Charakteren das, was ihr selbst im realen Leben (natürlich) versagt blieb: die Schemen der Vergangenheit mit ihnen in eine empathische Kommunikation treten zu lassen.
Wie fragil diese Kommunikation ausfallen kann, zeigt sich in Vernon Lees “Amour dure“ [“Amour dure“], einer ihrer gleichzeitig schön-schauerlichsten und folgenreichsten Erzählungen.
“Amour dure“, in Tagebuchform angelegt, belegt Spiridon Trepkas Reise in die italienische Gemeinde Urbania, jener von alten Kirchen, Steinpalästen und verwinkelten Gassen geprägter Region. Beginnend im Herbst 1885 stellt uns der Text einen mehr als galligen Erzähler vor. Gerade mal 24 Jahre alt und schon renommierter Geschichtsforscher, ist er seiner Wahlheimat Berlin, “diesem hassenswerten Babylon“, entflohen – einem Reisestipendium sei Dank. Seine Meinung über sich selbst ist nicht sehr hoch, sieht er sich doch als Pole, “der es dahin gebracht hat, einem pedantischen Deutschen zu gleichen, Doktor der Philosophie, ja sogar Professor, gekrönter Autor eines Essays über die Tyrannen des fünfzehnten Jahrhunderts“.
In der Folge konkretisiert sich das Objekt seiner Forschungen, denn schon “bevor ich hierher kam, fühlte ich mich durch eine sonderbare Frauengestalt angezogen, die mir in den ziemlich trockenen Blättern über diese Stadt […] begegnet war.“
Trepkas von giftendem Humor durchzogenes Tagebuch zentriert sich zunehmend auf Medea da Carpi, einer Dame höheren Standes, die vor rund 300 Jahren lebte und wegen ihrer “Schuld am Tod von fünfen ihrer Liebhaber“ im Dezember 1582 mit nur 27 Jahren unschädlich gemacht wurde.
Wie Trepka uns an Hand seiner Recherchen darlegt, war Medea eine Frau von gefährlicher Schönheit, deren Hinwendung keiner ihrer liebeskranken Anbeter überlebte. “Sie hat die magnetische Kraft, sich alle Männer dienstbar zu machen, die ihr in den Weg kommen“, schreibt Trepka.
Vernon Lee war ein viel zu unabhängiger Geist in einer Zeit, als Frauen praktisch entrechtet waren, dem modrigen Gesetzbuch des Patriarchats unterworfen, als dass sie Medea nur als eindimensionales femme fatale angelegt hätte. So ist Medea nicht nur abgrundtief verderbt; indem Vernon Lee die Geschlechterrollen vertauscht, ist sie auch Lees Medium einer kodierten feministischen Sprache. Medea folgt ihrer eigenen Gesetzgebung. Ihre Antwort auf Zwangsheirat und lebenslange Unterwerfung ist eine blutige Spur ihrer ausschließlich männlichen Opfer.
Wie schon Alice Okehurst aus “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“] dient auch Medea Vernon Lees leidenschaftlicher Anbetung des weiblichen Körpers. Wenn Trepka über Medea schreibt: “Der Teint ist blendend weiß, von der Durchsichtigkeit rosig angehauchter Lilien, wie er Rothaarigen eigen ist“, ist das vermutlich nicht nur die Beschreibung eines rein literarischen Charakters.
Es ist außerordentlich spannend mitzuverfolgen, wie Trepka sich an Medeas fast verblichenen Schatten heftet und sich immer tiefer in den Sog der Leidenschaft ziehen lässt. Verbunden mit den begnadeten Landschafts- und Gebäudebeschreibungen sowie traumhaften Stimmungsbildern einer antiken, unter der Stille fallenden Schnees geschmückten Landschaft, gehört Trepkas Fall in die obsessive Liebe zum Makellosesten, was die phantastische Literatur zu bieten hat.
Trepka, “ich melancholischer, armer Teufel, eine Figur wie Hamlet“, daran herrscht bald kein Zweifel mehr, verfällt Medea, die er bis dahin lediglich von gemalten Porträts kennt, zusehends. Seine Lebensbeichte macht ihn zu einer tragischen Figur: “Wo ist heutzutage eine zweite Medea da Carpi zu finden? (Denn ich bekenne, dass sie mich verfolgt.) Wenn es nur möglich wäre, einer Frau von dieser außerordentlichen, von dieser erhabenen Schönheit, zu begegnen, einer Frau mit dieser entsetzlichen Natur.“ Er verzweifelt daran, wegen seiner hohen Erwartungen sein Leben lang allein geblieben zu sein. Zunehmend seines Lebenswillens beraubt, ist er bereit, sich Medea als Opfer anzubieten, denn die “Dame meines Herzens“ materialisiert zunehmend für ihn. Erst sind es “Briefe von ihrer Hand“, denen “ein unbestimmter Duft wie von weiblichem Haar“ zu entströmen scheint, dann häufen sich die Zeichen, dass Medeas Epiphanie sehr bald bevorzustehen scheint.
Und dann ist endlich der Vorabend zu Heiligabend. Es schneit. Eisige Stille bedeckt das Land. Und Trepka schreibt in sein Tagebuch: “Die Liebe einer solchen Frau genügt, aber es ist eine verhängnisvolle Liebe. […] Auch ich werde sterben. Und warum auch nicht? Wäre es möglich, weiter zu leben, um eine andere Frau zu lieben? Wäre es möglich, ein elendes Dasein wie dieses länger zu ertragen, nach einem Glück, wie es der morgige Tag bringen wird?“

Deutsche Übersetzung: „Amour dure“, übersetzt von Susanne Tschirner auf Basis einer klassischen Übersetzung von M. von Berthoff, in: Vernon Lee, Amour dure (Köln: DuMont, 1990)

Anmerkung: Als Vernon Lees Inspirationsquelle für die äußerliche Beschreibung der Medea di Carpi wurde Agnolo Bronzinos Porträt der Lucrezia di Panciatichi ausgemacht. Man achte in vergrößerter Ansicht auf ihre Kette.

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Amelia B. Edwards | Salome

Originalveröffentlichung: The Story of Salome (1867)

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Eine Liebesgeschichte, die erst im Tod beginnt. Wunderschöne Landschaftsbeschreibungen und Melancholie bestimmen den Klang dieses traurigen kleinen Juwels.

Die Geister in der Masse der klassischen Geistergeschichten des viktorianischen Englands scheinen das einzige erklärte moralische Ziel zu haben, Rache zu üben, das Fürchten zu lehren. Amelia B. Edwards, die eine Reihe von realistischen Romanen und eine Handvoll Geistergeschichten schrieb, geht einen anderen Weg. Der weibliche Geist in ihrer atmosphärischen, sehr einnehmend geschriebenen Kurzgeschichte “The Story of Salome“ [“Salome“] ist da schon eher eine Ausdrucksform für Melancholie, für unendliche Traurigkeit. Dem Ich-Erzähler Harcourt Blunt, Maler aus England auf Europareise, droht zu keinem Zeitpunkt Gefahr – außer der, sein Leben lang unglücklich zu sein, wie der letzte Satz der Geschichte impliziert.
Eigentlich ist es ja Blunts Kindheitsfreund und Reisegefährte Coventry Turnour, der sich ständig neu verliebt. Diesmal hat es ihn in Venedig erwischt. Voller Enthusiasmus schleppt er Blunt zu einem Händler orientalischer Waren und zeigt ihm Salome, die Tochter des Händlers, ohne bisher überhaupt ein Wort mit der wunderschönen Jüdin gewechselt zu haben. Auch Blunt ist gefangen von ihren “melancholisch glänzenden Augen“, von der “durchscheinenden Blässe ihres Teints und der makellosen Feinheit ihrer Züge“. Als Turnour sich interessiert an einem Schmuckstück zeigt, fühlt sich Blunt “wie von einer jungen Kaiserin bedient.“
Nur wenige Tage später ist auch diese Liebesepisode für Turnour vorbei, denn offensichtlich ist er bei der “schönen Salome“ abgeblitzt.
Nach fast einem Jahr führen seine Wege Blunt wieder nach Venedig. Wie er sich eingestehen muss, nimmt Salome sehr viel mehr Raum in seinen Gedanken ein, als er uns zuvor preisgegeben hat. Als er feststellen muss, dass der Platz des orientalischen Händlers inzwischen verwaist ist, weiß er, dass er Salome finden muss.
“The Story of Salome“ ist die Geschichte einer Liebe, die in der Geschichte nicht stattfindet. Sie ist auch die Geschichte einer religiösen Suche. Um die gerade wiedergefundene Salome nicht sofort wieder zu verlieren, ist Blunt bereit, ein Sakrileg zu begehen. Sein gesamtes Leben lang wird die Traurigkeit sein Begleiter sein. Sein gesamtes Leben auf Erden.

Deutsche Übersetzung: “Salome“, übersetzt von Anne Rademacher, in: Anne Rademacher (Hrsg.), Gespenstische Frauen (München: dtv, 2004)

[Rezension] Frank Hebben – Der Algorithmus des Meeres

Originalveröffentlichung, 2015

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Über einen Witz, den man erklären muss, kann normalerweise niemand lachen. Ehrlich gesagt hatte ich anfangs die Befürchtung, dass Frank Hebbens Novelle Der Algorithmus des Meeres das gleiche Problem haben könnte. Denn der auf Anhieb nicht ganz einfache Text wird ergänzt durch ein (brillantes) Nachwort von Karla Schmidt, das zahlreiche Interpretationsansätze anbietet und einem dabei beinahe einschüchternd das eigene Nichtverstehen vor die Nase zu halten scheint. Dann noch Seltsamkeiten wie ein Textzitat auf dem hinteren Buchdeckel, das im Buch gar nicht vorkommt … Aber, Entwarnung, würde ich sagen!
Ich glaube, Der Algorithmus des Meeres ist ein Buch, dass man gar nicht allgemeingültig verstehen kann. Zu vieles spielt sich plötzlich im Kopf des Lesers ab, und jeder hat da wohl seine eigenen Präferenzen.
In einem verlassenen Strandhotel lebt ein Grüppchen Menschen, unter ihnen der Jugendliche Maro. Sein Tagesablauf ist bestimmt durch die Auswirkungen des allumfassenden Meeres. Das allgegenwärtige Salz frisst alles an, und so kämpft Maro Tag für Tag gegen den Verfall, damit er und seine Freunde weiterhin über Luxus wie Strom verfügen können. Er wartet die Überreste der einstigen, jetzt verrottenden Technik – er scheint es nicht anders zu kennen, so vertraut geht es ihm von der Hand. Mit ihm wohnen dort einige Erwachsene, ein Kind und Kassandra, die er liebt.
Wo all die Menschen sind, die einst dieses nicht näher bestimmbare Meerbad überfluteten, weiß man nicht, aber die Älteste, die allwissende Lina, hat die Zeit vor der Stille offenbar noch erlebt, erwähnt sie dies doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Es ist das Paradies der Eskapisten: keine Autoritäten, Strandparties, Lagerfeuer, Ruhe, Stille. Die Türen der Hotelzimmer, in denen sie wohnen, sind unverschlossen.
Aber, dann fängt Maro an zu träumen. Träume von Destruktion. Und mit den Träumen kommt das Dunkel. Ein schwimmendes Fass verströmt Gift, Quallen verseuchen den Strand, und über Nacht wird ein havarierter Öltanker angeschwemmt, der nichts Gutes in seinem Bauch hat: “Sein Bug liegt frei, sein kolossaler Rumpf thront auf einer Sandbank […].“ Bilder von beeindruckender apokalyptischer Schönheit.
Was ich bemerkenswert, wenn nicht sogar sensationell an Der Algorithmus des Meeres finde, ist die Art und Weise, wie Frank Hebben Handlung und Stil ineinander verlaufen lässt lässt. Die alles beherrschende Ruhe und Geräuschlosigkeit entsteht nicht nur, weil die Geschichte eben keine lärmenden Elemente enthält, sondern weil Hebben geradezu leise schreibt. Seine Sprache ist poetisch aber auch sehr reduziert. Und das Fehlen jeglicher Anführungszeichen in den knappen, fast bruchstückhaften Dialogen drosselt die Lautstärke des Gesagten in ein fast unhörbares Wispern. Als würden sich Geister unterhalten.
Seit ich vor vielen Jahren das Wunderwerk Engine Summer [Maschinensommer] von John Crowley las, wünsche ich mir, noch einmal etwas so Unaufgeregtes, Leises zu lesen. Ich habe in der Zwischenzeit The Country of the Pointed Firs [Das Land der spitzen Tannen] von Sarah Orne Jewett gefunden und nun Der Algorithmus des Meeres. Kein Lärm, Bedächtigkeit, Zeit zum Nachdenken – wo findet man das schon?
Mir scheint, alles an diesem Buch entspringt einer Dualität aus wissenschaftlich Definierbarem und metaphorisch Ungreifbarem. Schon der Titel legt diese Überlegung nahe: Dem Algorithmus als wissenschaftlichem Lösungsschema steht die Metapher der Naturgewalt des Meeres entgegen. Auch die Sprache Frank Hebbens untermauert dies. Bei Beschreibungen stets realistisch detailliert, spricht sie aber auch etwas Tiefes in uns an, weckt Emotionen. Und gerade die Begabung, beides gleichzeitig anzuwenden, ist die Kunst, die Frank Hebben beherrscht wie kaum ein anderer und die die Novelle zu etwas Einzigartigem macht, sie praktisch konkurrenzlos in die Buchlandschaft platziert.
Als schließlich auch noch ein fremder Besucher voller Geheimnisse auftaucht, haben die Zeichen des Untergangs, welche unsere lieb gewonnene Kommune und ihren paradiesischen Mikrokosmos heimsuchen, Konsequenzen. Lina, die Weise, schickt Maro auf eine Reise. Eine Reise, die für Maro nicht nur eine Suche nach Wissen ist, sondern auch eine Reise aus Liebe.

Originalausgabe (Mülheim an der Ruhr: Begedia, 2015)

[Rezension] Carmen Bregy – Im Stillen umarmt

Originalveröffentlichung, 2009

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Um Im Stillen umarmt von Anfang an in einem angemessenen Licht erscheinen zu lassen, drängt es mich, damit zu beginnen, was der Roman alles nicht ist. Er ist keine Beziehungskomödie mit semiwitzigen “modernen“ Frauen. Er ist auch keine düstere Geschichte voller Betroffenheitsgestik und auch keine flammende Gesellschaftskritik. Und, wenn Im Stillen umarmt eines erst recht nicht ist, dann eine Streitschrift zu Gunsten der lesbischen Liebe. Das ist auch gut so, denn jegliche Herausarbeitung dieses Themas hätte nur den Finger in die offene Wunde gelegt und den leider noch breitflächig bestehenden Glauben an ein Anderssein untermauert. Carmen Bregy möchte aber nicht, dass ihre Charakterinnen als anders angesehen werden. Ihre wertfreie und unbekümmerte Darbietung gleichgeschlechtlicher Liebe in dieser Geschichte lässt dagegen die Klinge des Aufbegehrens nur noch empfindlicher in die Dickfelligkeit der Intoleranz schneiden. Danken wir der Autorin dafür, dass sie sich des Themas so einfühlsam und differenziert angenommen hat.
Doch was ist nun das Thema von Im Stillen umarmt? Man könnte sagen, es ist die Geschichte einer Teufelsaustreibung oder, weltlicher gesprochen, das Protokoll einer unerwiderten Liebe, deren Auswirkungen und letztlich deren Bekämpfungsversuche.
Die Ich-Erzählerin richtet sich in Form eines langen Briefes in Romanform an ihre große Liebe, von der sie inzwischen getrennt lebt, deren Wege sie aber in den Folgejahren permanent kreuzt, was alles andere als Zufall ist. Die Erzählerin (beide Frauen sind im Roman namenlos) ist eine “Herzverletzte“. Sie hat Jahre mit ihrer Liebe zusammengelebt, doch ist diese irgendwann ausgebrochen aus der Gefühlsenge und hat die Erzählerin allein zurückgelassen. Fortan pflegen sie zwar weiter Kontakt, aber während die Erzählerin ihre große Liebe ohne Abstriche haben will, bevorzugt die Geliebte einen lockeren Umgang ohne Pflichtprogramm.
“Ich bin krank vor Liebe“, schreibt die Erzählerin und durchlebt die wohl schlimmsten Jahre ihres Lebens. Jede Begegnung mit ihr wirft sie zurück: “Unser neuer Freundschaftsalltag bricht mir das Herz. Täglich.“
Sie verreisen weiterhin zusammen zu den schönen Orten Europas und wachsen beide zunehmend in ihre Rollen hinein, die sich irgendwann einmal in einer unguten Eigendynamik verselbstständigt haben. Die Erzählerin übernimmt die Rolle der Unterworfenen, die nicht mehr ohne ihre große Liebe leben kann, und die Geliebte die der Marionettenspielerin, die die Erzählerin lenkt und manipuliert, ganz wie es ihr beliebt. Beide füllen ihre Rollen so sehr aus, dass sie nicht mehr miteinander zurechtkommen, aber auch nicht ohne einander.
Bei solchen Begegnungen und “Herzklopfzugfahrten“ wachsen sie kurzzeitig wieder zusammen, um sogleich wieder durch das Agieren der Geliebten auseinander zu fallen. Für die Erzählerin eine tägliche Tortur: “Unsere Hände, die sich erinnern, selbst nach all den Jahren.“
Als die Stimmen ihrer Freundinnen immer kritischer werden und der Job zu leiden beginnt, wird der Erzählerin langsam bewusst, wie es wirklich um sie steht. “Wie ein Parasit hat sie sich in mein Hirn und mein Herz eingenistet […].“
Hinzu kommt, dass sie inzwischen so abgenabelt vom Leben ist, dass sie – ausschließlich mit sich selbst beschäftigt – die Sängerin Luzia, die sich in die Erzählerin verliebt hat, zutiefst kränkt. Ohne zu merken, was sie da tut, behandelt sie Luzia genauso, wie sie von ihrer großen Liebe behandelt wird. In einem der schönsten Sätze dieses an schönen Sätzen wahrlich nicht armen Buches gibt sie hilflos Luzias Begehren wider: “Sie tanzt mit all ihrer Herzenspracht um mich herum und wirft mit vollen Händen Rosenblätter auf den Weg.“
Eine obsessive Liebe, wie die Erzählerin sie erlebt, ist unheilbar. Ein Leben lang überdauert ein Rest davon. Aber, die Erzählerin versteht irgendwann, dass sie nur weiter existieren kann, wenn sie sich selbst so weit wie eben möglich gesundpflegt.
Carmen Bregy hat in diesem Erstlingsroman mit erstaunlicher Virtuosität so viel richtig gemacht wie man nur kann. Es wäre ihr sicherlich ein Leichtes gewesen, diesen schmalen Roman durch eine spannende Rahmenhandlung auszudehnen und mit Dramatik aufzustocken, aber sie wählte den schwierigeren Weg, nämlich den, ausschließlich die unverwässerte Essenz einer traurigen Liebe zu Papier zu bringen. Durch ihre wunderschöne Sprache, in der sich begnadete Liebesmetaphern die Hand geben, erreicht sie stattdessen ein Konzentrat, wie man es nicht oft findet.

Originalausgabe (Berlin: Querverlag, 2009)

[Rezension] Antje Wagner – Das Fenster hinter den Flamingos

Originalveröffentlichung, 2004

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Ein Anspruch, den Antje Wagner stets an sich selbst zu stellen scheint, besteht darin, ein Thema niemals so anzugehen wie es jeder tun würde. Immer wieder überrascht sie uns mit außergewöhnlichen Blickwinkeln, formalen Kniffen und innovativen Erzählmanipulationen. Das ist sicherlich auch der glücklichen Tatsache geschuldet, dass sie über einen sehr weit gefächerten Lektürehorizont zu verfügen scheint, der ihr das Handwerkszeug dafür an die Hand gibt, sich als Schriftstellerin so wohltuend abzuheben wie sie es tut. Auf beeindruckende Weise gelingt es ihr immer wieder, mit den Mitteln der Phantastik und der Phantasie die Realität größer und facettenreicher erscheinen zu lassen.
Die Erzählung „Das Fenster hinter den Flamingos“ ist ein treffendes Beispiel dafür. Als Auftragsarbeit für eine Anthologie zum Thema „Lesbischer Sex“ entstanden, überstrahlt sie die Masse und präsentiert sich in einer anmutigen Grazie, die uns am Ende daran zweifeln lässt, ob wir soeben tatsächlich genau diese derartig dekadente, verruchte, lasterhafte und unmoralische Geschichte gelesen haben.
Schon nach dem ersten Abschnitt lockt Antje Wagner uns in eine falsche Abzweigung und lässt uns das erste Mal straucheln, indem sie beginnt, die Wirklichkeiten zu verschieben.
Die Grundprämisse reicht zurück zu Anaïs Nin, die in den 1940er Jahren für einen anonymen Sammler gegen Bezahlung sehr deutliche Sexgeschichten schrieb. Genau das geschieht auch der in Geldnot gefangenen Schriftstellerin Sylvie, doch ihr Auftraggeber ist eine Frau, die geheimnisvolle Tania Richard. Man braucht schon seine Zeit, um sich zurecht zu finden, zu wissen, was Realität ist und was entlohnte, sich zunehmend steigernde erotische Fiktion.
„Sie strahlte die einschüchternde Schönheit französischer Parkanlagen aus, deren Strenge und Exaktheit das Auge weniger entzückte als verstörte.“ Derartig unnahbar tritt die fiktive Tania ins Geschehen, und schon bald wirkt sie lebensechter als ihr flüchtiges Real-Pendant. Das ist die Methodik, mit der Antje Wagner in diesem kleinen Juwel spielt. Auch Antje Wagner schrieb ihre Geschichte auf Bestellung gegen Bezahlung (nehme ich mal an) und nahm das Thema direkt mit hinein in die Metaebene ihres Textes.
Antje Wagner hat das ihr vorgegebene Thema bei aller literarischen Virtuosität letztlich mit sehr irdischen Freuden befüllt. Sie scheut sich nicht, das Thema ohne Zaudern anzugehen. Ihre direkte Art, lesbischen Sex zu dritt en détail zu beschreiben, stellt ein großes Wagnis dar, denn explizite sexuelle Darstellungen in der Literatur sind nicht selten der Prüfstein, der über Sieg oder Scheitern eines literarischen Textes entscheidet. „Das Fenster hinter den Flamingos“ gehört daher unzweifelhaft in die kleine, elegante Gesellschaft hochwertiger erotischer Literatur, der beispielsweise auch Thérèse et Isabelle von Violette Leduc angehört.
Vermutlich hätte Antje Wagners Auftraggebern eine einfachere, mehr auf die sexuellen Anteile ausgeweitete Version der Geschichte gereicht, doch das ist nicht das, was Antje Wagner anstrebt. Ihr geht es um literarische Kunst, und genau deswegen ist „Das Fenster hinter den Flamingos“ ein so leuchtendes komplexes kleines Meisterwerk geworden.
Wie wir zum Ende der Geschichte hin feststellen, geht es sowieso um sehr viel mehr als allein um sexuelle Erfüllung, denn für Sylvie führt der Weg auch in die tieferen Regionen ihres Herzens. Doch hier zögert sie; hadert damit, sich der Liebe zu öffnen: „Man war ungesichert wie ein Haus, bei dem Türen und Fenster offenstehen.“

Originalausgabe, in: Lisa Kuppler (Hrsg.), Bisse und Küsse 3 (Berlin: Querverlag, 2004)

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Théophile Gautier | Die liebende Untote

Originalveröffentlichung:
La Morte amoureuse (1836)

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Seine verbotene Liebe führt einen frischgeweihten Priester aus seiner tristen Enthaltsamkeit hinein in eine barocke Welt der Lust und Dekadenz. In dieser klassischen Vampir-Geschichte ist die Grenze zwischen Gut und Böse kaum auszumachen.

Die Erzählung “La Morte amoureuse“ [“Die liebende Untote“] von Théophile Gautier ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man die Realität mit den Mitteln der Phantastik überzeugender angreifen kann als es mit realistischer Nüchternheit möglich wäre. “La Morte amoureuse“ gehört zu den Prototypen ihrer Thematik, und, was die Geschichte zusätzlich so erfreulich macht, ist ihre auch für ein modernes Publikum ausgesprochen gut genießbare Lesbarkeit.
Das Kernthema der Geschichte kreist um die Frage: Wie gewichte ich die menschlichen Triebe gegenüber einem abstrakten, jegliche naturgegeben Grundlagen verneinenden Gesetzeskonstrukt?
Der 66-jährige katholische Priester Romuald weiß, wovon er spricht, wenn er einem nicht näher definierten, “Bruder“ genannten Zuhörer, das Geständnis macht: “Ja, ich habe geliebt, wie niemand zuvor […]“.
Man spürt sofort, Romuald ist alles andere als ein in sich selbst ruhender Geistlicher, der sein Amt mit Überzeugung ausübt. Seine wahre Geschichte, die er nun erzählt, bestätigt das eindrucksvoll.
Es ist nicht seine Lebensgeschichte, die er uns übermittelt, sondern die Erklärung seines Lebens. Drei besondere Jahre, die die folgenden Jahrzehnte seiner restlichen Zeit auf Erden mit eisernem Griff lenken.
Als junger Mann hat er bereits sein bisheriges bewusstes Leben Gott gewidmet. Schon immer will er Priester werden, und er hat es so weit geschafft, dass nun endlich der Tag der Priesterweihe bevorsteht. Die bevorstehende Zeremonie erwartet er mit einer beinahe ekstatischen Vorfreude. Das ist aber auch die einzige Ekstase, die er je kennengelernt hat. Über Frauen weiß er nichts, “ich hielt meine Gedanken davon fern […]“. Die einzige Frau, mit der er gelegentlichen Umgang hat, ist seine alte, gebrechliche Mutter.
Während des Zeremoniells der Ordination spricht jedoch nicht Gott zu ihm, sondern Clarimonde, eine auffällige junge Frau aus dem Publikum. Ihre Schönheit kann er kaum fassen. “Sie war hochgewachsen und hatte den Körper und die Haltung einer Göttin […]“. Weiterhin preist er ihr Haar, das von “einer weichen Blondheit“ ist, ihren “roten […] Mund“ und ihre “meergrünen Augen“. Wie wir schon an diesen Beispielen sehen, kehren mit Clarimonde die Farben ein in Romualds triste Welt der Enthaltsamkeit. Dieser Effekt wird mit jeder folgenden Erscheinung Clarimondes in der fortlaufenden Handlung noch verstärkt. Die Farben Gold (ihr Haar, “wie ein königliches Diadem“) und Silber sowie die Farbe heller Perlen (auch die Farbe ihrer Haut) induzieren eine orientalische Pracht und “höchsten Adel“.
Clarimonde flüstert Romuald ein, er solle auf die Priesterweihe verzichten und sich stattdessen für die Liebe entscheiden. Für die Liebe zu ihr. Romuald spürt, wie sich seine “bisher versperrten Sinne öffneten“.
Sein Weltbild wird innerhalb von Sekunden eingestürzt, doch er ist zu schwach, die Zeremonie in diesem letzten Stadium noch vorzeitig zu beenden. Und so wird er zum Priester geweiht.
Romualds Vorgesetzter, der Abbé Serapion, ahnt, was in seinem Schützling vorgeht und verfrachtet ihn kurzerhand für eine Priesterstelle in ein entferntes Dörfchen, freilich nicht ohne Romuald intensive Warnungen vor der Versuchung mit auf den Weg zu geben.
Ein Jahr lang führt Romuald dieses Leben. Die Gedanken stets bei Clarimonde. Und dann holt Clarimonde Romuald überraschend zu sich in ihren venezianischen Palast. Wie im Rausch eines wilden Traumes führt Romuald das dekadente Leben eines Lebemannes an der Seite von Clarimonde, die sich in Romuald verliebt hat und einem Papst und einem der Herrscher von Venedig Laufpässe gab, nur um mit Romuald glücklich zu sein.
Doch wer ist Clarimonde? Ist sie eine ständig wiedererwachende Tote, und warum reicht ein Quentchen von Romualds Blut, um sie wieder aufzuwecken?
Das Grundsätzliche an “La Morte amoureuse“ ist, dass Clarimonde alles andere ist als das Böse als das Serapion sie hinstellt. Natürlich, Clarimonde hält alle Fäden in der Hand, wirkliches Unheil bringt sie aber nicht. Stattdessen führt ihr ganzes Verhalten das Patriarchat ad absurdum. Mit einem Fingerschnipsen setzt sie die Grundpfeiler einer patriarchalischen Welt außer Kraft.
Das Ende der Geschichte ist für moderne Leser natürlich vorhersehbar, doch man sollte berücksichtigen, dass “La Morte amoureuse“ zu den frühesten Vampir-Geschichten zählt, und im Gegensatz zu zahlreichen späteren Werken dieser Thematik hat uns der Schluss dieser Geschichte wesentlich mehr zu sagen.
Am Ende ist es ein Mann, der die übersichtliche patriarchalische Ordnung wieder herstellt. Abbé Serapion handelt im Würgegriff hoffnungsloser Sex-Hysterie, wenn er Romuald zu Clarimondes Grab führt. Das Verspritzen des Weihwassers  auf die tiefschlafende Clarimonde durch Serapion wirkt wie ein abscheulicher, demütigender Abschluss des männlichen Aktes als Machtdemonstration einer völligen Unterjochung allen Weiblichen.
Der Erfolg dieser letzten Unternehmung zur Wiederherstellung der patriarchalen Ordnung darf dann aber bezweifelt werden. “Länger als drei Jahre war ich das Spielzeug einer einzigartigen und teuflischen Vorspiegelung“, sagt Romuald zu Anfang seiner Erzählung. Doch da macht er sich selbst etwas vor. “Spielzeug“ zu sein, bedeutet für Roumulus in erster Linie, die Kontrolle über seine viele Jahre selbstunterdrückte Sexualität verloren zu haben. Und insbesondere Serapion, der Hüter des Zölibats, ist Romualds personifiziertes schlechtes Gewissen.
Am Ende ist jedoch klar, dass Romuald der Priester und Romuald der Mann verschiedener nicht sein können. Für sein Leben lang wegen der Trennung von Clarimonde traumatisiert, stellt er gebrochen fest: “Die Liebe Gottes reichte nicht aus, die ihre zu ersetzen.“

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Die liebende Untote, übersetzt von Ulrich Klappstein (Hannover: jmb, 2010)

Vernon Lee | Oke von Okehurst

Originalveröffentlichung:
A Phantom Lover (1886)
[späterer Titel: Oke of Okehurst]

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Auf einem alten englischen Landsitz stellt sich für einen Auftragsportätmaler sein Modell als eine außergewöhnlich faszinierende aber auch abgründig gespenstische Frau heraus.

Nicht oft hat mich ein literarisches Werk gleichzeitig so fasziniert und so ratlos zurückgelassen wie dieses. Es provoziert Fragen über Fragen, die sich nicht zufriedenstellend beantworten lassen; mögliche Lösungsansätze, die nur noch mehr Fragen aufwerfen, anstatt Antworten zu geben. Und immer dieses schreckliche Gefühl, der Lösung so nah zu sein.
Vernon Lee, die renommierte Kunstkennerin, die eigentlich Violet Paget hieß, ist in ihren phantastischen Erzählungen stets ein Garant für exquisite Prosa, stilistisch immer elegant und geschliffen. Die Novelle “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“] – zuerst als eigenes Buch erschienen, später in Sammelbänden und Anthologien nachgedruckt – gehört zum Beeindruckendsten, was sie geschrieben hat. Mit der Sicherheit eines Messerwerfers wirft sie die Elemente des klassischen Schauerromans ins Ziel und dehnt das Genre dank Psychologie erstaunlich weit auf.
Liebhaber der gothic novel werden auf ihre Kosten kommen, denn alles ist da: ein alter englischer Landsitz, ein finsteres Schlüsselereignis in der Vergangenheit, das unheimliche Gemälde einer doppelgängerischen Ahnin, Andeutungen eines Geistes und eines Familienfluchs. Und doch ist es bei Vernon Lee viel, viel mehr oder viel, viel weniger als das.
“A Phantom Lover“ lässt sich auf sehr verschiedene Arten lesen, denn Lee bietet gleich mehrere Interpretationsansätze an. Mir jedoch scheint die Nabe, um die die Geschichte kreist, in erster Linie die seltsame Beziehung des männlichen namenlosen Ich-Erzählers zu seinem Modell zu sein.
Unzuverlässige Erzähler gibt es zuhauf in der Literatur, aber unser Erzähler ist so geschickt, dass man ihm kaum etwas bezüglich seiner Unseriosität anlasten kann. Ich habe nur zwei Stellen gefunden, in denen er nicht ganz sauber berichtet. So wird Oke von Okehurst bei seinem Besuch beim Erzähler von “seinem Freund“ (Italics, auch in den nächsten beiden Zitaten, von mir) begleitet. Im gesamten späteren Text hat er aber keinen solchen Freund. Wenige Sätze später spricht der Erzähler bezüglich des Begleiters von “meinem Freund“. Dies und die vage Beschreibung lassen vermuten, dass Mr. Oke bei diesem ersten Zusammentreffen von seiner Frau in Männerkleidung begleitet wird. Auch in der zweiten etwas zweifelhaften Szene verschweigt uns der Erzähler etwas bezüglich seines Verhältnisses zu Mr. Oke: “[…] er stellte mir keine Fragen mehr bis auf eine.“ Dann lenkt er ab. Wie die Frage lautete, sagt er uns nicht. Lautete sie vielleicht: “Kann es sein, dass Sie meine Frau lieben?“ Spekulation, ich weiß.
Der schüchterne Mr. Oke erteilt dem Erzähler den Auftrag, den Sommer 1880 über, ihn und seine Frau zu porträtieren. Da sich der Erzähler gerade in einer Phase des Misserfolgs befindet (er hatte eine einflussreiche korpulente Dame “alt und vulgär“ gemalt, “was sie ja auch war.“), sagt er sofort zu.
Er reist nach Kent zu den Landedelleuten und ist vom ersten Moment an gebannt von Mr. Okes Frau Alice. Den gesamten folgenden Text reichert er mit Beschreibungen Alices an, die von einer grundsätzlichen, leidenschaftlichen Huldigungen der weiblichen Schönheit zeugen. Die Addition dieser Beschreibungen macht Alice zu einem Idealbild, ähnlich Edgar Allan Poes “Ligeia“ [“Ligeia“]. So feiert der Erzähler Alice etwa als “die anmutigste und vollkommenste Frau“, die er je gesehen habe. “Sie war sehr groß“ und “gertenschlank“ und “[w]ahrscheinlich das wunderbarste Wesen, das ich je getroffen habe“. Immer wieder hebt er “ihr schönes, blasses, durchscheinendes Gesicht“ und “die erlesene Geschmeidigkeit ihrer großgewachsenen Gestalt“ hervor.
Als der Erzähler darangeht, Mr. und Mrs. Oke zu malen, wird schnell deutlich, wem von beiden seine Prioritäten gelten. Während er Mr. Oke ohne vorherige Skizzen malt, fertigt er von Mrs. Oke wochenlang Entwurf um Entwurf an und rechtfertigt das damit, dass er noch nicht die richtige Position seiner Muse gefunden habe: “Sie hob ihre wunderschön großen, blassen Augen, wobei sie die erlesene Neigung von Schultern und Nacken und ihres delikaten bleichen Kopfes zeigte, die ich vergeblich einzufangen suchte.“ Auch eine Methode, möglichst viel Zeit mit Mrs. Oke zu verbringen.
Da er wohl selbst merkt, dass sein Verhalten ihn irgendwann verdächtig machen könnte, setzt er auf die Devise “Angriff ist die beste Verteidigung“: “Ich interessierte mich für Mrs. Oke, als wäre ich in sie verliebt, und doch war ich nicht im Geringsten in sie verliebt.“
Bedenkt man, dass er eigentlich nur ein neutraler Erzähler ist, der offiziell an den Ereignissen auf Okehurst selbst nicht aktiv Anteil hat, findet hier doch erstaunlich viel persönliche Interaktion mit den Personen statt, über die er eigentlich nur wertfrei erzählen soll.
Nach und nach ist es jedoch nicht nur die Schönheit Mrs. Okes, die den Erzähler so anzieht: “Diese Frau versetzte mich entschieden in Schrecken.“ Er findet etwas “beinahe Abstoßendes an dieser wunderschönen Frau. Plötzlich wirkte sie pervers und gefährlich auf mich.“
Was an Mrs. Oke ist pervers? In der Novelle kann ich nach heutiger Sicht nichts finden, was diese Wortwahl rechtfertigen würde. Gewinnbringend könnte es daher an dieser Stelle sein, das private Leben der Autorin heranzuzuziehen. Ja, ein literarisches Werk sollte für sich selbst stehen, auch ohne nähere Informationen zur Autorin oder zum Autor zur Verfügung zu haben. Im Fall von Vernon Lee ist es aber nicht unvorteilhaft zu wissen, dass sie ziemlich sicher lesbisch war. In vielen ihrer Erzählungen wählt sie einen männlichen Erzähler als Medium, um eine abgründige, meist unheilbringende Frau darzustellen. Natürlich kann man auch hier nur spekulieren, aber diese Erzählperspektive bot Vernon Lee grundsätzlich die Möglichkeit, leidenschaftlich über andere Frauen zu schreiben, ohne im prüden neunzehnten Jahrhundert von ihrer Leserschaft als frauenliebende Frau wahrgenommen und geächtet zu werden. Die Beschreibungen Mrs. Okes sind, wie wir gesehen haben, geprägt von der erregenden Faszination, die diese außergewöhnliche Frau auf den Erzähler ausübt. Im viktorianischen England galten lesbische Frauen als pervers. Es mag ja irregeleitet sein, hier die Erklärung zu suchen, aber Vernon Lee bietet uns zusätzlich mit dem Cross-Dressing der beiden Alice Okes einen weiteren Wink für einen solcherart möglichen Hintergrund.
Aber wie auch immer: In der vorliegenden Novelle ist alles möglich, bei weitem nicht nur meine Lesart. Vielleicht dreht sich ja wirklich alles nur um den vergeblichen Eifersuchtskampf gegen einen Phantomliebhaber. Oder, vielleicht hat die Lesart für alle die, die es sich einfach machen wollen, Vorrang: Die Okes sind schlicht und einfach wahnsinnig.

Deutsche Übersetzung: “Oke von Okehurst“, übersetzt von Josef Ehold, in: Franz Rottensteiner (Hrsg.), Viktorianische Gespenstergeschichten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987)

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Vernon Lee | Die Puppe

[Rezension] Richard Lorenz – Amerika-Plakate

Originalveröffentlichung, 2014

Amerika_Plakate

Gute Schriftsteller gibt es viele. Eher selten dagegen stößt man auf ein Buch, von dem man ehrfürchtig denkt, dass kein anderer Autor auch nur annähernd so etwas schreiben könnte, so eigen, so außergewöhnlich und sprachlich so abweichend ist es. Amerika-Plakate von Richard Lorenz ist solch ein Buch. Ein kompliziertes Buch, das von der ersten Seite an signalisiert: hier ist etwas, das du nicht alle Tage lesen wirst. Und als ich das Buch nach der letzten Seite zugeklappt hatte, habe ich dasselbe gedacht.
Erzählt wird Amerika-Plakate von einem namenlosen Ich-Erzähler, der, man ahnt es schon nach wenigen Seiten, für die Geschichte selbst völlig irrelevant scheint, so neutral und aktionslos bringt er sich selbst ein. Aber, er ist es, der uns die Geschichte von Leibrand erzählt – mit der zeitlichen Distanz mehrerer Jahrzehnte.
Kristallisationspunkt ist Leibrand, der als Junge in seinen Kleiderschrank flüchtet, um vor seinem alkoholischen Vater sicher zu sein, der eine Etage tiefer seine Mutter misshandelt. Wenn es besonders schlimm wird, flüchtet Leibrand sich, inspiriert von Paul Austers Kurzgeschichte „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“ in ein imaginäres Amerika. Seine Portale dahin sind die Amerika-Plakate des Titels, die Leibrand im Kleiderschrank zu malen beginnt.
Der eigentliche Startschuss für Amerika-Plakate fällt damit, dass der Zirkus in die Stadt kommt. Leibrand und der Erzähler sind elf Jahre alt, und eine Rattenplage eilt dem Zirkus voraus. Die Szenerie aus Zuckerwattengeruch, dem Rattern des Glücksrads und den pompösen Lock-Parolen der Schausteller könnten einer Ray-Bradbury-Idylle entsprungen sein, würde man nicht schon sehr bald merken, dass Lorenz sich sehr viel tiefer ins dunkle Herz der Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit hineingräbt. Es liegt eine beinahe archetypische Furcht über der Siebziger-Jahre-Szenerie: der Angst vor RAF-Gespenstern, vor Kindermördern, vor prügelnden Ehemännern und vor den gruseligen Kinoleuten, die der Zirkus mit anschwemmt. Das alles setzt Lorenz mit ungemein gekonnter Feder in eine völlig entgegengesetzte poetische Sprachzentrierung. Die Sprache hat dabei eine Täuschungsfunktion wie der Nebel für den Zauberer. Wie Zuckerwatte, in der Rasierklingen versteckt sind, verzaubert und schockiert uns diese meisterhafte Prosa gleichermaßen. Und, als sei er selbst ein Zauberer, wollen wir Lorenz gar nicht fragen, wie er das macht, denn jedes deutliche Wort hieße das Ende der Magie. Überhaupt hat man selbst als aufmerksamer Leser ständig das Gefühl, dass Lorenz viel mehr weiß als wir, und ich kann nicht sagen, ob ich die letzten Rätsel der Amerika-Plakate je lösen werde oder vielmehr überhaupt je lösen möchte.
Die Kindheit von Leibrand erlebt ihren Höhepunkt und ihr Ende, als er Suzanne, das Mädchen mit den feuerroten Haaren sieht und es dazu kommt, dass die beiden sich küssen. Dieser Kuss ist das Evangelium, für das Leibrand fortan leben wird, und als Erwachsener wird er keine Ruhe finden, ehe er Suzanne nicht wiederfindet. Die erwachsene Suzanne ist für mich auch der ergreifendste Charakter in Amerika-Plakate. Ihre Einsamkeit wird beinahe greifbar, so nah ist sie dem Leser. Wenn ich mir etwas von Richard Lorenz wünsche, dann, dass er in Zukunft weitere so liebenswerte Schöpfungen zu Papier bringt. Die anderen Charaktere des Romans, egal ob obdachlos oder verrückt, sind ebenfalls mit viel Wärme geschildert, und man spürt deutlich, dass Lorenz ein großes Herz für die Verlierer der menschlichen Gemeinschaft hat. Suzanne ist allen anderen jedoch einen Schritt voraus. Sie wird nicht nur von Leibrand geliebt, sondern auch von mir als Leser, so sehr hat sie sich in meinen Gedanken breitgemacht. Eine erstaunliche schriftstellerische Leistung.
Richard Lorenz‘ Welt der Erwachsenen lässt die Geister und Werwölfe der Kindheit weiterleben, nur mit viel weitreichenderen Folgen. Amerika-Plakate ist bevölkert mit Engeln, Sehern und Schutzengeln, doch letztlich besteht das schräge Romanfiguren-Ensemble nur aus melancholischen Träumern, von der Gesellschaft ausgespuckt, die verzweifelt nach ihrem Glück greifen. Spätestens hier stellt sich die eigentlich unwichtige Frage: Was ist Realität? Unwichtig deshalb, weil sie keine Rolle spielt. Amerika-Plakate ist Fiktion. Aber was für eine.

Originalausgabe (Bellheim: kuk, 2014)

Lektorat: Uwe Voehl

[Rezension] Sarah Waters – Die Muschelöffnerin

Originalveröffentlichung:
Tipping the Velvet (1998)

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Direkt mit ihrem Erstling Tipping the Velvet gelang es Sarah Waters, dem Literatur-Kanon einen sehr wichtigen Roman hinzuzufügen. Da aber „wichtig“ noch lange nicht „gut“ heißt, bleibt zu klären, ob Tipping the Velvet auch ein guter Roman ist. Der Charme von Erstlingsromanen liegt ja oft in einer Art positiver Unprofessionalität der noch nicht von Markterfordernissen zerfressenen Schriftstellerseele. Auch Sarah Waters hatte für diesen Roman keinerlei Erwartungsdruck seitens eines Verlags oder einer Leserschaft, doch von positiver Unprofessionalität kann hier wirklich keine Rede sein. Sie hatte gerade ihre Doktorarbeit in Englischer Literatur – Wolfskins and Togas: Lesbian and Gay Historical Fictions, 1870 to the Present – beendet, als sie direkt ihre Recherchen an die Hand nahm und ihren ersten Roman ansteuerte. Ihre begeisterte Lektüre viktorianischer Literatur verbunden mit ihrer akademischen Ausbildung haben sicherlich ihren Beitrag dazu geleistet, dass man Tipping the Velvet niemals für einen Erstlingsroman halten würde, wenn man es nicht besser wüsste. Denn Waters ist stets die Herrin über ihren nicht einfachen Stoff und beeindruckt mit ihrer Ausgereiftheit in Dramaturgie und Personencharakterisierungen.
Tipping the Velvet ist ein Bildungsroman, der sieben Jahre im Leben des Austernmädchens Nancy Astley beschreibt. Zu Beginn wird Nancy gerade 18. Am Ende ist sie eine 25-jährige Frau, die genau weiß, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist.
Wir befinden uns im viktorianischen England Ende der 1880er Jahre. In einem kleinen Fischereinest an der Küste von Kent arbeitet die unscheinbare Nancy im Austernrestaurant ihrer Eltern. Sie erweckt nicht den Eindruck, dass ihr etwas fehlt im Leben, doch das ändert sich drastisch, als sie das hiesige Theater besucht und dort die Gesangsnummer einer jungen in einen Herrenanzug gekleideten Frau verfolgt. Es handelt sich um die aufstrebende Künstlerin Kitty Butler, die zum Abschluss ihrer Show jeweils einem Mädchen im Publikum eine Rose überreicht. Nancy ist nun nicht mehr davon abzubringen, ab jetzt regelmäßig Kittys Vorstellungen zu besuchen. Show um Show vergeht, ohne dass Nancy diejenige ist, die die Rose erhält. Als es dann so weit ist und Kitty Nancy zum Gespräch in ihren Umkleideraum bittet, ist für Nancy klar, dass sie sich in Kitty verliebt hat. Für Nancy ist das die einzige ihr mögliche Art, einen anderen Menschen zu lieben, doch der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist hoch.
Kitty und Nancy freunden sich an, und Nancy wird Kittys Garderobiere. Als Kitty sie dann fragt, ob sie sie für eine neue Stufe ihrer Karriere nach London begleiten würde, kann Nancy gar nicht anders, als ihrer großen Liebe zu folgen. Der Abschied von ihrer Familie und die Entfremdung von ihrer Schwester, die als Einzige in Nancys Gedanken eingeweiht ist und diese kategorisch ablehnt, sind ein Meisterstück psychologischer Einfühlung.
In London wird Kittys Gesangsnummer in neue Höhen geleitet, als Nancy, die ebenfalls ein Talent zum Singen hat, als ihre Partnerin mit auf der Bühne steht. Die Nummer wird ein großer Erfolg, und die Londoner Theater und Varietés, in denen sie auftreten, werden immer größer und berühmter.
Kitty, die längst geahnt hat, dass Nancy sie liebt, ist inzwischen auf Nancy zugegangen. Ein Liebespaar dürfen die beiden allerdings nur nachts auf ihrem Zimmer sein.
Als bisheriger Höhepunkt der beiden Mädchen, Nancy ist gerade mal 19, rückt eine Weihnachtsaufführung im renommierten Britannia näher. Doch innerhalb von Sekunden wird Nancys glückliche Welt mit gnadenloser Härte zerstört. Mittellos wird sie in den Moloch London ausgespuckt. An das Beste von Paul Auster erinnernd (Moon Palace [Mond über Manhattan] kommt mir in den Sinn) lässt Nancy sich, ihres Herzens beraubt, durch London treiben und beginnt ihre persönliche Odyssee, die einige Jahre dauern soll und sie u.a. als männlich verkleideter Stricher und als Lustsklavin einer wohlhabenden Sapphistin durch Bereiche navigiert, die der bürgerlichen Welt verborgen sind.
Der Titel des Buches – im Text der deutschen Ausgabe mit Den Samt berührt übersetzt (leider jedoch nicht als Buchtitel genutzt) – ist ein viktorianischer Slangausdruck für den Cunnilingus. Ein solcher Titel signalisiert natürlich: Sex. Im finsteren Mittelteil formuliert Sarah Waters auch zahlreiche explizite Sexszenen aus, die ins Obszöne und Pornographische übergehen. Teilweise sind diese Szenen die einzigen im Buch, die ich für nicht ganz gelungen halte. Natürlich geht es im Mittelteil nicht um Liebe und Sinnlichkeit, sondern um reine sexuelle Befriedigung. Trotzdem verlieren derart graphisch dargestellte Szenen an Kraft, wenn sie sich wiederholen. Schon allein deshalb würde ich Tipping the Velvet nicht als perfekt bezeichnen wollen. Aber, um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, Tipping the Velvet ist ein gutes Buch. Den ersten Teil des Romans würde ich sogar als makellos bezeichnen. Und die Beschreibungen eines vergangenen Londons mit seinen Theatern und Pferdekutschen lassen einen literarischen Ort entstehen, den man beinahe glaubt, selbst gesehen zu haben.
Sarah Waters hat sich definitiv mit Tipping the Velvet für einen Entwicklungsroman entschieden, der auf sprachliche Schnörkel gänzlich verzichtet und klassisch linear erzählt. Sprachlich stellt Waters keine hohen Anforderungen an die Leser, und doch ist da einiges, was sie schon in ihrem Erstling weit über den Durchschnitt der schreibenden Zunft erhebt. Tipping the Velvet saugt einen als Leser ins Geschehen hinein, sodass man nicht ablassen möchte. Schon Charles Dickens wusste genau, dass man seine Leser damit packt, indem man mit ihren Emotionen spielt. Das macht auch Sarah Waters. Doch weshalb ersaufen schlechtere Autoren in ihrem eigenen Zuckerguss, während Waters eine Stärke ausstrahlt, die uns bei ihr hält? Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Sarah Waters es schafft, dass ihre Charaktere uns so wirklichkeitsnah erscheinen. Ich glaube, es liegt auch daran, dass Waters sehr gut darin ist, zu beschreiben, wie ihre Protagonisten aufeinander wirken. Damit meine ich, dass zwischen ihnen nicht nur ein Textdialog stattfindet. Mit außergewöhnlicher Subtilität zeigt Waters uns auch auf, wie die Charaktere jeweils auf das Gesagte reagieren. Die kleinsten Nuancen dieser Reaktionen bewirken schon, dass wir als Leser die Sprechenden so deutlich vor uns sehen und uns derart intensiv in sie hineinversetzen.
Am Ende ist Nancy eine starke, mutige Frau, die es geschafft hat, das Erlebte für ein besseres Leben zu nutzen. Was kann man sich mehr wünschen?

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Die Muschelöffnerin, übersetzt von Susanne Amrain, überarbeitet von Andrea Krug (Berlin: Krug & Schadenberg, 2011)

Lektorat: Uwe Voehl

Nathaniel Hawthorne | Das Haus mit den sieben Giebeln

Originalveröffentlichung:
The House of the Seven Gables (1851)

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Im Gewand einer stimmungsvollen, sehr leisen Schauergeschichte umarmt Nathaniel Hawthorne voller Wärme die Ehrbaren, feiert die Liebe und verdammt mit abgründigem Abscheu die eigennützigen Blender.

Warum neigen wir eigentlich so oft dazu, das lange Vergangene als überholt und das Aktuelle als das Definitive anzusehen? Ist es die Überheblichkeit der Moderne oder schlicht eine Art multiples Vergessen?
Nathaniel Hawthornes dritten Roman The House of the Seven Gables [Das Haus mit den sieben Giebeln] aus dem Jahre 1851 zu lesen, ist ein wenig so, wie sich an etwas lange Vergessenes wieder zu erinnern. The House of the Seven Gables ist ein verblüffendes Beispiel dafür, wie ein alter Meister uns die beinahe ausgestorbene Kunst des stimmungskeimenden Erzählens vorführt. Er ist dabei aber nicht etwa einer, der ein großes Feuerwerk abbrennt, sondern eher ein empfindsamer Magier, der nahezu unsichtbar seine Zauberfunken  ins Publikum versprüht.
Das Fundament, auf dem The House of the Seven Gables errichtet wurde, ist denkbar schwergewichtig, denn Hawthorne leuchtet kein geringeres Thema als die Erbsünde aus. Diese findet im historischen ersten Kapitel statt, dass uns nach Hawthornes Vorgängerroman The Scarlett Letter [Der scharlachrote Buchstabe] erneut ins 17. Jahrhundert, dem puritanischen Zeitalter der amerikanischen Hexenprozesse führt. Der angesehene Oberst Pyncheon bringt den unbedeutenden Matthew Maule wegen Hexerei an den Galgen, weil er scharf auf Maules Land ist. Mit seinem letzten Atemzug sagt Maule über Pyncheon: “Gott wird ihm Blut zu trinken geben!“ Oberst Pyncheon lässt auf dem neugewonnenen Stück Erde das Haus des Titels erbauen. Er und seine Nachkommen sollen nicht viel Freude daran haben.
Nachdem Hawthorne also sein Buch mit Hilfe dieser Legende mit Pauken und Trompeten eingeläutet hat, lässt er sich in einer Zeit nieder, die in etwa seiner eigenen Gegenwart entspricht und schrumpft den Rahmen auf ein Minimum zusammen, um mit der eigentlichen Geschichte zu beginnen, die denkbar leise daherkommt.
Zum Entstehungszeitpunkt von The House of the Seven Gables war der klassische Schauerroman schon seit Dekaden totgeritten. Trotzdem grast Hawthorne den Kramladen der gothic novel ab und nimmt alles an Topoi mit, was er gebrauchen kann: ein von Verfall gezeichnetes gotisches Haus, das von einer großen Ulme verfinstert wird; einen Familienfluch; einen geheimen Raum; ein düsteres Gemälde; die Machtausübung des Mannes über die Frau. Das kennen wir alles. Aber nicht, was Hawthorne daraus macht.
Viel von dem Glanz des einstigen Hauses mit den sieben Giebeln ist nicht mehr übrig geblieben. Im Haus ist alles von Verfall und Moder gekennzeichnet, und nur noch die alte Jungfer Hebzibah Pyncheon lebt hier, sofern man ihr Dahinvegetieren Leben nennen kann. Als Lady erzogen, kann sie längst nicht mehr aus ihrer steifen Rolle heraus. Obwohl sie nicht mehr tiefer sinken kann, hält sie sich mit imaginären Adelsparolen aufrecht. Von dem immer noch an der Wand hängenden unangenehmen Gemälde des Obersten Pnycheon lässt sie sich Tag für Tag an ihre wohlhabende Herkunft erinnern. Ihr äußeres Erscheinen wird als heruntergekommen und verbiestert beschrieben. Kontakt zur Außenwelt hat sie nur noch zu dem ihr wohlgesonnenen “Lumpenphilosophen“ Onkel Venner, der die Häuser der Stadt nach Essensresten für sein Schwein abgrast und von einem Lebensabend ohne Arbeiten träumt.
Dass Hepzibah aber noch tiefer sinken kann, stellt sie fest, als sie, um sich ernähren zu können, einen Tante-Emma-Laden eröffnet. Der Kontakt zu den wenigen Kunden ist ein Gräuel für sie, und dementsprechend schlecht läuft der Laden dann auch. Trostloser kann man ein Leben wohl nicht fristen.
Das ändert sich aber schlagartig, als eines Tages Hepzibahs junge Cousine Phoebe  auftaucht und einen Schwall Sonne mit ins Haus bringt. Hawthorne liebt es, mit den Gegensätzen Licht und Dunkelheit zu spielen und setzt hier sehr bewusst auf kraftvolle Metaphern. Phoebe ist die unverdorbene Eva, die offensichtlich nicht ohne Grund in diesem heruntergekommenen Eden wie aus dem Nichts auftaucht. Ihr Erscheinen bewirkt eine erste Wende im Haus mit den sieben Giebeln. Die Misanthropin Hepzibah muss sich eingestehen, dass ihr das lebensfrohe Wesen Phoebes guttut, und das nicht nur, weil Phoebe Hepzibahs Hausladen zum Erfolg führt.
Neue Dunkelheit kehrt jedoch mit dem Erscheinen von Hepzibahs Bruder Clifford ein, den ein jahrzehntelanges Trauma heimsucht, das ihn zu einem gebrochenen alten Mann mit dem zeitweiligen Verstand eines Kindes gemacht hat. Auch ihn verzaubert Phoebe mit ihrer lebensbejahenden Art. Zusammen mit einem Untermieter, dem Protestkünstler Holgrave, bildet der bunte Haufen eine Kommune der Verlierer, dessen zaghaftes Zusammenwachsen in der Not Hawthorne mit unglaublicher Intensität zeichnet. Obwohl diese Menschen, mit Ausnahme Phoebes, derart tiefe Wunden davongetragen haben, dass sie eigentlich nie mehr menschlicher Nähe trauen dürften, führt Phoebe unbewusst alles zusammen. So sagt Onkel Venner nicht grundlos: “Es ist unbegreiflich, wie manche Leute einem so selbstverständlich werden können wie der eigene Atem […]“.
In einer Schlüsselszene zwischen Phoebe und Holgrave wirft Hawthorne alles in die allegorische Waagschale und lässt stark romantisierende Bilder deutlicher sprechen als es die beiden tun. Die Zeit scheint angehalten, und in einem stillen Mikroversum treffen Adam und Eva aufeinander. In diesem spirituellen Szenario gewinnt Holgrave die absolute Kontrolle über die Frau, die er liebt – und widersteht im zerbrechlichsten Augenblick des Buches zugunsten dieser Liebe der Verführung, Phoebe für immer zu unterjochen.
Diese Momente voller Harmonie gehören in all dem Odem der sündenverseuchten Vergangenheit zu den bewegendsten Szenen des Buches, die zudem sehr deutlich zeigen, dass Hawthornes Herz für die Gestrauchelten schlägt. Hawthorne hält zu den kleinen Leuten und hat nur Abscheu übrig für eine “erbärmliche Seele“ wie dem Richter Pyncheon.
Denn dieser Verwandte Hepzibahs, Cliffords und Phoebes, dieses Prachtexemplar von einem Manipulator, stolziert jetzt ins Haus der sieben Giebel, um den dunklen Schlund der Vergangenheit erneut aufzureißen und Clifford und Hepzibah endgültig zu vernichten.
Nathaniel Hawthorne prangt wie ein Steinriese über seinem schwierigen Stoff, den er jedoch zu jeder Zeit fest im Griff hat. Virtuos lenkt er seine in einer wunderschönen Sprache erzählte Geschichte sowohl durch die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele als auch die paradiesischen Momente, die Menschen durchaus zu erschaffen in der Lage sind. Man kann die subtile, eher angedeutete Art und Weise, wie er die Geheimnisse des Romans lüftet, nur vorbildlich und The House of the Seven Gables ohne Zweifel ein Meisterwerk nennen.
Und hoch darüber breitet Hawthorne seine tröstenden Arme aus und outet sich als großer  Humanist, der den Ehrlichen ihre Menschenwürde zurück gibt.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Das Haus mit den sieben Giebeln, übersetzt von Irma Wehrli (Zürich: Manesse, 2014)